Erziehung ist der Zweck!

Von Jürgen Kaube |
Dass die Schüler in den Schulen nicht das lernen, was sie fürs Leben brauchen, ist eine ständige Klage. Vor kurzem ist beispielsweise zum wiederholten Mal der Vorschlag gemacht worden, an den Schulen müssten doch endlich auch die Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft unterrichtet werden. Bislang gibt es nämlich "Wirtschaft" als Unterrichtsfach nur vereinzelt.
Die Vorsitzende des Zentralrats der Juden hat ihrerseits jüngst gefordert, es solle, neben Deutsch, Geschichte und Sozialkunde auch ein eigenes Fach mit Namen "Nationalsozialismus" unterrichtet werden. Andere Vorschläge für neue Fächer auf dem Stundenplan gelten der "Gesundheitskunde", dem Umgang mit dem Internet oder einem Benimmunterricht.

Gemeinsam ist all diesen Forderungen ein Wunsch: Die Schüler sollen von der Schule auf ihre Zukunft als Erwachsene vorbereitet werden. Das, was in der Welt außerhalb der Schule am wichtigsten ist, das, so denkt man, sollte auch innerhalb der Schule am wichtigsten genommen werden.

So etwas klingt plausibel. Ist aber vollkommen falsch. Zum einen, weil man auf diese Weise tausend Schulfächer einrichten müsste: Toleranzstunden beispielsweise, denn Geduld ist wichtig. Aber auch Telefonierstunden, denn in der Wirtschaft stellt Telefonieren können bei weitem eine der wichtigsten Fähigkeiten dar.

Es müsste Unterrichtseinheiten zum Lesen des Kleingedruckten in Verträgen geben. Und solche, in denen geübt wird, wie man bei Vorgesetzten Eindruck macht. Oder wie man einkauft. Oder wie man spart. Oder wie man aus dem Auftreten von Personen auf ihren Charakter schließt. Das alles ist wichtig.

Ein Grund dafür, dass es all diese Schulstunden nicht gibt, ist aber nicht, dass man mit ihnen nie zu Ende käme. Wichtiger aber noch ist, dass man viele von diesen Fähigkeiten: Geduld, Redenkönnen, Misstrauischsein gegenüber Gedrucktem, oder Wissen, was Eindruck macht, dass man all das besser lernt, wenn man sich nicht mit der Wirklichkeit beschäftigt, sondern mit Erfindungen.

Denn was übt man, wenn man ein Bild beschreiben muss: Geduld, Beobachtungsgabe, Findigkeit. Und wenn man ein Gedicht interpretiert? Den Umgang mit seltsamen Redeweisen, das Hin- und Herwenden von kleinsten Beobachtungen. Das Herumreiten auf dem Kleingedruckten, wo könnte man es besser lernen, als in der Philosophie? Das Eindruckmachen, welche Schule wäre dafür besser geeignet als diejenige von Brechts Dramen oder denen Shakespeares? Und was lehrt Personenkenntnis besser als das Lesen von Romanen?

Oder nehmen wir die Disziplin oder den Fleiß, deren Mangel bei Jugendlichen heute oft beklagt wird. Wer musiziert, malt oder tanzt oder Theater spielt, dem erschließt sich sofort, dass es ohne solche Tugenden einfach nicht geht. Dass man üben, mitunter bis zum Überdruss üben muss, bis etwas gelingt, dass also Wiederholung eine Voraussetzung von Erfolg ist.

Der große Vorteil der ästhetischen Erziehung gegenüber all den zeitgemäßen Verbesserungsvorschlägen zum Unterricht ist dabei: Sie ist davon unabhängig, ob in der Berufswelt gerade Telefonieren wichtig ist oder Surfen im Internet oder Videokonferenzen.

Die Kunst begleitet diejenigen, die Zugang zu ihr gefunden haben, lebenslang, ganz gleich, was sich sonst alles ändert. Und niemand, der ein Instrument spielen kann, sagt später, das Erlernen sei verschwendete Zeit gewesen. Im Gegenteil: Viele, die es nicht können, bedauern es.

Seltsamerweise aber hat ausgerechnet der Unterricht in Kunst, Musik und Literatur keinen guten Ruf. Man hält ihn für Luxus. Schließlich bereitet er ja am wenigsten auf die Globalisierung vor. Seine Stundenzahlen werden niedrig angesetzt. Seine Lehrer gelten an den Schulen nicht viel. Wer Musikstunden schwänzt, darf ebenso auf Nachsicht hoffen wie die Schulbehörde, die sie streicht.

Das ist töricht. Denn es unterschätzt fahrlässig den zweiten großen Vorteil der Kunst: in ihrem Nachvollzug schwierig und doch lustvoll zu sein. Einen Vorteil, den sie mit der Mathematik und mit den Sprachen teilt. Dieser Vorteil ist für die Erziehung entscheidend.

Denn Kinder und Jugendliche lassen sich nicht durch die Zukunft motivieren. "Es ist ganz gegen den Charakter der Jugend, sich Vorstellungen zu machen, was sie in diesem oder jenem zukünftigen Fall würde erlernt haben müssen", so Friedrich Schleiermacher in seinen "Grundzügen der Erziehungskunst" von 1826. Deshalb könne dem Kind "nur mit wenigem Erfolg die Zumutung gemacht werden, etwas um der Zukunft willen zu tun".

Von Zukunft sind Schüler heute überall umstellt. An vollmundigen Aussichten, bangen Erwartungen, wertvollen Warnungen und energischen Aufforderungen, etwas zu werden, herrscht für sie kein Mangel. Das Eigenartige bildet, weil es unbekannt und nicht bereits verstanden ist. Seine Aneignung verlangt eben darum Mühe. Dieses Eigenartige liegt heute eher in der Musik als in der Wirtschaft, im Theater eher als im Internet. Für die Künste im Unterricht spricht also nicht, dass man sich durch ihre Kenntnis besonders gut in der Zukunft zurechtfinden wird. Für sie spricht vielmehr, dass sie eine Übung in Geistesgegenwart sind. Oder anders formuliert: Erziehung hat keinen Zweck, Erziehung ist der Zweck.

Jürgen Kaube, geboren 1962, studierte Wirtschaftswissenschaften, Philosophie, Germanistik sowie Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin und war Hochschulassistent für Soziologie an der Universität Bielefeld. Seit 1998 ist er Redakteur im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", wo er für Fragen der Bildung, Wissenschafts- und Gesellschaftspolitik zuständig ist.