Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit
Schule in der DDR war einerseits ideologisch überfrachtet, andererseits hatte der Fachunterricht einen guten Ruf. Vor 50 Jahren trat eine bedeutende Reform des Bildungssystems in Kraft.
Schüler: "Frau Lehmann, ich melde, die Klasse ist vollständig zum Unterricht bereit."
Elke Urban: "Danke. Für Frieden und Sozialismus seid bereit!"
Klasse: "Immer bereit."
Elke Urban: "Setzt Euch."
Ein Klassenzimmer wie in den Siebzigerjahren. Grau-gelber PVC-Fußboden, orangene Gardinen, Pressspan-Möbel und ein Porträt von Erich Honecker über der Tafel. Die Klassenlehrerin Frau Lehmann steht in einem grauen Kostüm vor 17 Schülern.
Elke Urban: "Heute früh war ich ganz stolz auf euch Kinder. Ihr wart alle pünktlich zum Fahnenappell. Alle haben das Halstuch mit. Ganz prima in Ordnung. Und Mandy stand in der letzten Reihe, dass man das nicht so sieht, dass wir noch einen Nicht-Pionier haben. Das war auch in Ordnung."
Auf dem Stundenplan steht Heimatkunde. Klasse drei. Leben und Wirken des Arbeiterführers Ernst Thälmann.
Elke Urban: "Ernst Thälmann, der war treu und kühn. Was wissen wir denn noch über Ernst Thälmann? Anita, von dir habe ich heute noch gar nichts gehört."
Anita: "Ernst Thälmann ist unser Vorbild."
Elke Urban: "Ja, was wissen wir noch über Ernst Thälmann? Weswegen ist er denn unser Vorbild? Ja, Daniela."
Daniela: "Ernst Thälmann ist auch ein Vorbild für alle Arbeiter."
Ein paar Schüler kichern. An den zerkratzten Schulbänken sitzen natürlich keine DDR-Kinder, sondern Gymnasiasten aus Zeitz. Die Unterrichtsstunde findet im Jahr 2009 statt. Ein Rollenspiel. Der Raum ist ein Nachbau im Schulmuseum Leipzig. Frau Lehmann heißt im richtigen Leben Elke Urban. Die Museumspädagogin will den Jugendlichen vermitteln, wie Schule in der DDR sein konnte.
Elke Urban: "Wir wiederholen gemeinsam den Satz: Ernst Thälmann war ein kommunistischer Arbeiterführer."
Klasse: "Ernst Thälmann war ein kommunistischer Arbeiterführer."
Die Gymnasiasten erfahren von der strengen Lehrerin, was DDR-Schüler alles lernen mussten: die Gesetze der Thälmannpioniere. Wie man das rote Halstuch bindet. Dass es sich lohnt, Altpapier zu sammeln. Was eine Patenbrigade macht. Und der Pioniermarsch wird auch einstudiert.
Elke Urban: "Jetzt singen alle mit. Los geht’s."
Klasse singt:
"Wir tragen die blaue Fahne
Es ruft uns der Trommelklang
Stimm fröhlich ein, du Pionier, in unseren Gesang
Seid bereit, ihr Pioniere, lasst die jungen Herzen glühen
Seid bereit, ihr Pioniere, wie Ernst Thälmann treu und kühn."
So seltsam die Unterrichtsstunde im Jahr 2009 wirken mag: Der vermittelte Stoff ist historisch verbürgt. Auf allen Schulbänken liegt ein originales DDR-Heimatkunde-Buch. Und tatsächlich behandelt es seitenweise Ernst Thälmann und die nach ihm benannte Pionierorganisation. Elke Urban lässt sich nicht gern vorwerfen, sie stelle die DDR-Schule verzerrt dar. Die Museumspädagogin hat viele Jahre an ihrer Rolle als SED-treue Klassenlehrerin gefeilt.
Elke Urban: "Weil ich zunächst mal über meinen eigenen Schatten springen musste. Ich musste meine unangenehmen Erinnerungen, um nicht zu sagen, diese Trauerarbeit, die ich auch leisten musste an der DDR-Schule, erst mal hinter mich bringen. Und muss dann natürlich auch gucken, was war denn positiv an der DDR-Schule, um gerecht zu sein, um ein ausgewogenes Bild zu vermitteln, wo nicht gleich jeder sagen konnte: Ja, also das war ja völlig überzogen. Das war ja völlig übertrieben. So war meine Schule nie, und solche Lehrer hat es gar nicht gegeben."
Wir tragen die blaue Fahne
"Wir lernen die Welt begreifen, wir forschen auf froher Fahrt
und baun ein schönres Vaterland, nach Thälmann Sinn und Art.
Seid bereit ihr Pioniere, lasst die jungen Herzen glüh'n.
Seid bereit ihr Pioniere, wie Ernst Thälmann treu und kühn."
An der DDR-Schule scheiden sich heute die Geister. Ehemalige Lehrer erinnern daran, dass die Ausbildung in den Naturwissenschaften exzellent war. Kritischere Stimmen verweisen darauf, dass die Schule vor allem ein Ziel hatte: die Kinder zu SED-treuen Staatsbürgern zu erziehen. Walter Ulbricht legte den ideologischen Rahmen so fest.
Walter Ulbricht: "Ihr müsst lernen, euch die Lehre anzueignen, die euch als einzige befähigt, mit Erfolg zu kämpfen und zu siegen. Und diese fortschrittliche Wissenschaft – das ist der Marxismus-Leninismus."
Schon früh gehorchte die DDR-Bildungspolitik den Regeln einer Diktatur. Die Fibeln von 1950 zeigen fast nur Kinder mit Pionierhalstüchern. Und die Sachaufgaben in Mathematik behandelten die Wirtschaftspläne volkseigener Betriebe. Von der ersten Klasse an wurde die sozialistische Gesellschaftsordnung vermittelt. Doch die ersten Lehrpläne waren nicht nur in Sachen Ideologie ehrgeizig.
Walter Ulbricht: "Lernt Wissenschaft und Technik meistern, damit ihr imstande seid, die Höchstleistung der Produktion, die höchste Qualität der Arbeit zu erreichen und als künftige Meister, als Leiter von Betrieben, als Agronomen, als Staatsfunktionäre eure Aufgaben zu erfüllen."
Walter Ulbricht wusste: Nur mit gut ausgebildetem Nachwuchs konnte die DDR gegenüber der Bundesrepublik bestehen. Und so beschloss die SED-Führung Ende der Fünfzigerjahre eine tief greifende Bildungsreform, die das DDR-Schulsystem bis zu seinem Ende geprägt hat. Initiator war der Chefideologe der SED.
Ulrich Wiegmann: "Also Kurt Hager ist für mich die Person, die das Ganze konzeptionalisiert, geführt und geleitet hat. Er ist der maßgebliche Mann."
Sagt der Berliner Bildungshistoriker Ulrich Wiegmann.
Ulrich Wiegmann: "Und das liegt daran, dass zu dieser Zeit eine besonders komplizierte Machtsituation im Volksbildungsbereich existierte und die SED-Führung zeitweilig das Ministerium für Volksbildung quasi entmachtet hat. Durch die Bildung einer Schulkommission, die Kurt Hager persönlich leitete. Es waren in dieser Kommission nur zwei Wissenschaftler tätig, ansonsten vor allem Praktiker aus Lehrerbildungseinrichtungen, aber auch aus Schulen."
Die Kommission sollte die Schulgesetze ablösen, die noch die sowjetische Besatzungsmacht eingeführt hatte. Anfang 1959 stellte Hager mehrere Schulthesen vor. Schulische Bildung und Erziehung wurde ausschließliche Angelegenheit des Staates. In Elternabenden und auf Parteiversammlungen wurden die Thesen diskutiert. Besonders umstritten: der verpflichtende Russisch-Unterricht.
Ulrich Wiegmann: "Also wir haben hier in unserem Archiv diese Volksdiskussion dokumentiert. Die Berichte aus den Kreisen. Und da fällt uns sehr oft auf, dass die Bevölkerung gegen diesen Russisch-Unterricht votiert hat. Im Ergebnis des Gesetzgebungsprozesses wurde Russisch dann aber festgelegt als erste Fremdsprache."
Am 2. Dezember 1959 tritt das neue Schulgesetz in Kraft. Kernelement wird die zehnklassige Polytechnische Oberschule – kurz POS. Langes gemeinsames Lernen und gute Bildungschancen auch für Arbeiter- und Bauernkinder – damit will die SED gegenüber dem Westen punkten. Der Schulabschluss nach zehn Jahren POS soll so gut sein wie das Abitur zu Zeiten der Weimarer Republik.
Ulrich Wiegmann: "Aus der ländlichen Bevölkerung kam viel Widerstand, die dagegen waren, dass ihre Kinder länger als acht Jahre in die Schule gehen, weil sie in der eigenen Wirtschaft gebraucht werden. Vor allen Dingen hatte man Vorbehalte gegen eine erweiterte Allgemeinbildung von Mädchen, die man schnell zum Heiraten bringen wollte."
Die SED bleibt hart. Zehn Jahre Schule für alle Kinder – nicht weniger, aber auch nicht mehr. So sah es das Ursprungskonzept vor. Zur Überraschung vieler hält die DDR-Führung dann aber doch zumindest am Abitur fest. Begabte Schüler können auf die Erweiterte Oberschule wechseln und in der 12. Klasse die Hochschulreife erlangen.
Dieser Weg steht allerdings nur einer Minderheit offen. Das Abitur bekommt nur, wer linientreu ist und möglichst aus einem Arbeiter- oder Bauernhaushalt stammt. Dennoch war die Bildungsreform nicht zuletzt wegen der längeren Schulpflicht ein großer Schritt, resümiert Ulrich Wiegmann:
"Die DDR war zeitweilig zumindest dem Westen voraus. Man hatte die gleiche Problemlage. Man wusste, man steht an so einer Übergangsgesellschaft. Das war eigentlich global so. Ein Übergang von der Extensivierung zur Intensivierung. Wissenschaft wird zur Produktivkraft. Das hat man im Westen so nicht gesagt, aber man hat dieselben Problemlagen diskutiert. Man brauchte auch im Westen eine bessere Ausbildung der künftigen Produzenten. Und deswegen hat man schon neugierig geschaut. Aber man hatte nicht die Möglichkeiten, die Konzepte, das so rigoros durchzupeitschen."
Fröhlich sein uns singen – Die schönsten Pionierlieder
Titel 26: Unsere Patenbrigade (Kinder, welch ein Glück)
"Kinder, welch ein Glück.
Unsere Patenbrigade arbeitet in der Bonbonfabrik, Bonbonfabrik, Bonbonfabrik.
Mmh. Mmh. Mmh."
Nicht jede Klasse hat das Glück einer Patenbrigade in der Bonbonfabrik. Aber alle Schulen arbeiten nach 1959 eng mit verschiedenen Betrieben zusammen. Die Bildungsreform legt fest: Der Unterricht soll durch Einblicke in produktive Arbeit ergänzt, die Kluft zwischen Theorie und Praxis überwunden werden.
Die SED beruft sich dabei auf die Lehren von Karl Marx. Eigentlich stammt das Konzept aber von Reformpädagogen. Was sich im frühen 20. Jahrhundert Arbeitsschule nannte, heißt in der DDR polytechnischer Unterricht und beginnt schon in der 1. Klasse mit dem Fach Werken.
Dieter Heimbach: "Ja, Werkunterricht begann mit Pappe- und Papierarbeiten und zog sich dann über Holzbearbeitung bis hin zu Metallbearbeitung, wo am Ende dann mal eine Kohlenschaufel entstand oder ähnliche Dinge, die mir übrigens, wenn wir heute Klassentreffen haben, manche Schüler interessanterweise mal mitbringen, was wir damals vor 30 oder noch mehr Jahren gefertigt haben."
Dieter Heimbach hat 17 Jahre als Polytechniklehrer in Holzhausen bei Leipzig gearbeitet. Er leitete in seiner Schule das polytechnische Kabinett, unterrichtete technisches Zeichnen sowie das Fach "Einführung in die sozialistische Produktion". Und er begleitete die älteren Schüler zu ihrem Unterrichtstag beim VEB Sprio – einer Fabrik für Spritzpistolen.
Dieter Heimbach: "Die mussten zum Teil Elemente, die für die Spritzpistolen waren, in Vormontagen, also sogenannte Nestfertigung, wo bestimmte Teile dazu vormontiert worden sind und dann in eine entsprechende Endmontage kommen. Aber sie mussten auch einfachere Arbeiten machen. Bis hin – das war aber nicht das Hauptsächliche –, dass sie auch Aufräumarbeiten und ähnliches mitzumachen hatten. Das war aber nicht das Wesentliche."
Die DDR-Führung ist stolz auf den Schultag in den Betrieben. In Schwerin wird 1961 sogar ein Museum eingerichtet, das über die Entstehung und die Ziele des polytechnischen Unterrichts informieren soll. Walter Ulbricht spornt die Jugendlichen an.
Walter Ulbricht: "Jeder Jugendliche in den volkseigenen Betrieben muss von einem neuen Verhältnis zur Arbeit erfüllt werden. Er muss wissen, dass in den volkseigenen Betrieben für das große Werk des Neuaufbaus, für das Volk selbst, für das neue Deutschland geschaffen wird."
Überraschend schnell schafft es die DDR, jeder Schule mindestens einen Betrieb zur Seite zu stellen. Die Siebt- bis Zehntklässler arbeiten im Rahmen des Unterrichts einmal wöchentlich in der Landwirtschaft, in Fabriken oder auf dem Bau. Was die SED-Politiker mit Stolz erfüllt, entsetzt die Bildungsexperten im Westen. Dort heißt es bald, die DDR führe die Kinderarbeit wieder ein. Auszug aus einem Interview:
Studiogespräch: "Die Schüler verrichteten die Arbeit an Fließbändern und bekamen dafür aber nichts bezahlt. Es wurden sogar Grundschüler aufgefordert, in einer Lederfabrik zu arbeiten, wo die Arbeitsverhältnisse keineswegs den normalen Arbeitsverhältnissen entsprechen. Wer einigermaßen Ahnung hat von der Lederherstellung, weiß, dass dort ein derart übler Geruch in dem Fabrikgebäude herrscht, wo es unmöglich erscheint, dort Kinder einzusetzen."
Weder die DDR-Führung mit ihrer euphorischen Haltung noch die skeptische westdeutsche Sicht geben die Realität damals angemessen wieder. Der Unterrichtstag in der Produktion wird so gehasst und geliebt wie andere Schulfächer auch. Es hängt einfach davon ab, in welchem Betrieb die Schüler diesen Unterricht absolvieren müssen.
Dieter Heimbach: "Also Mädchen beispielsweise, die vorhatten, Friseuse zu werden, fanden sich nun nicht so sehr wieder in Betrieben, die vor allen Dingen Metall herstellend waren. Für andere wieder, gerade für solche, die vielleicht nicht so schulstark waren, die fanden dort eher auch ein Stück Bestätigung, weil sie eben mehr auch in Richtung handwerklich-praktische Tätigkeiten tendierten. Und damit auch bessere Erfolge für sich sahen, als sie beim schnöden Lernen in der Schule hatten."
Am ehesten geht das Konzept des polytechnischen Unterrichts in den 60er- und frühen 70er-Jahren auf. Doch mit zunehmender Maschinisierung wird es auch in den DDR-Betrieben schwieriger, Aufgaben zu finden, die eine Klasse ungelernter Schüler übernehmen kann. Und so nehmen Hilfstätigkeiten wie Zündkerzen putzen, Schrauben sortieren oder Halle fegen für die Jugendlichen gegen Ende der DDR immer mehr zu. Darüber kann auch die Propaganda nicht hinwegtäuschen.
Archiv (17)
"Ich schmelze Stahl.
Ich bändige Atome.
Und ich werde Agronom – das ist auch nicht ohne.
Und ich, ich habe auch einen heimlichen Traum – ich werde Stewardess im Weltenraum."
Lieder der jungen Pioniere,
Titel 15: Bald bin ich junger Pionier
"Bald bin ich junger Pionier
Das Halstuch trage ich.
Und alle gratulieren mir.
Ja darauf freu ich mich."
Mit der Bildungsreform von 1959 wird auch die Pionierorganisation Ernst Thälmann an den Schulen verankert. Zwar war sie dort schon vorher aktiv. Doch das Gesetz über die sozialistische Entwicklung des Schulwesens garantiert ihr festen Einfluss.
Ulrich Wiegmann: "Da gab es noch Debatten, so 49, 50, 51, über den Charakter der Pionierorganisation. Soll sie dem Lernen förderlich sein, soll sie eng mit Schule kooperieren? Oder eine selbstständige Kinderorganisation sein? Und vor allen Dingen, auf Betreiben von Margot Honecker hat sich das durchgesetzt, dass Schule und Pionierorganisation möglichst zu einer Einheit verschmelzen und Pionierarbeit vor allem dem Lernen dienlich gemacht wird."
An jeder Schule gibt es einen Pionierleiter, der über ein eigenes Zimmer verfügt. Schon die Erstklässler werden Jungpioniere. Wer nicht mitmacht, muss mit Nachteilen rechnen. Beim Fahnenappell stehen Nichtmitglieder in der letzten Reihe. An manchen Freizeitveranstaltungen dürfen sie nicht teilnehmen. Die Demütigung dieser Kinder wird nach Ansicht von Elke Urban heute zu selten thematisiert.
Elke Urban: "Die Leute, die heute nur ein Viertel der Rente bekommen, die sie eigentlich verdient hätten. Die aber damals eben nicht Pionier waren und deswegen nicht studieren durften, nicht Abitur machen durften – die spüren das bis heute."
Die Pädagogin beim Leipziger Schulmuseum war in den Siebzigerjahren selbst Lehrerin. Sie hat in Leipzig Musik und Französisch unterrichtet. Zwei Fächer ohne ideologischen Ballast – zumindest glaubte sie das in ihren ersten Berufsjahren.
Elke Urban: "Spätestens durch die neuen Schulbücher im Fach Musik und den Lehrplan, der da gerade rausgekommen war, habe ich mit großem Schrecken festgestellt, da war ein Bereich 'Erziehung zur Wehrbereitschaft' im Musikunterricht, der mich zutiefst schockiert hat. Und im Französischunterricht habe ich dann auch gemerkt: Immer mehr ist das eine Erziehung zur Schizophrenie. Ich kann nicht Kinder für ein Land und eine Kultur begeistern, wenn ich weiß: Da komme ich nie hin. Auch wenn ich mich total anstrenge: Ich komme da nie hin. Und das fand ich schon damals total absurd."
DDR-Schule und SED-Ideologie – das ist für Urban untrennbar miteinander verbunden. Und doch gab es Spielräume. Auch wenn es üblich war: Ein Sportlehrer musste die Schüler nicht mit ausgedienten Handgranaten Weitwurf üben lassen. Ein Musiklehrer konnte auf das eine oder andere Propagandalied verzichten.
Elke Urban: "Es gab sicher solche Lehrer, die das vermieden haben. Ich kenne sogar einen Musiklehrer, der hat im Musikunterricht in der Schule vom Lied 'Der Mond ist aufgegangen' alle Strophen gesungen. Obwohl die natürlich nicht abgebildet waren. Also der Text konnte ja auf keinen Fall abgedruckt werden im Liederbuch. Es wurde nur die erste Strophe gesungen. Und der hat eben auch die Strophe mit 'Verschon uns Gott mit Strafen und lass uns ruhig schlafen und unseren kranken Nachbarn auch' - das hat der einfach gesungen."
Die schönsten Pionierlieder, Vol. 2
Titel 27: Gemeinsam mit guten Genossen
"Mein Lehrer kennt sich im Leben aus. Er steht mir beim Denken zur Seite.
Und einmal, als ich fragte, da sagte er mir: Was morgen sein wird, liegt im Heute. Im Jahr 46, es war im April, da wurde die Zukunft geschlossen.
Und gemeinsam marschieren wir sicher zum Ziel. Gemeinsam mit guten Genossen."
Seit vier Jahren bietet Elke Urban Jugendlichen das Rollenspiel "DDR-Heimatkunde-Unterricht" an – im original ausgestatteten DDR-Klassenzimmer in ihrem Schulmuseum. Man kann auch noch über einen anderen Weg erfahren, wie es in der DDR-Schule zuging. Eine echte Unterrichtsstunde klang so:
DDR-Stunde (1/3)
"Freundschaft.
Freundschaft.
Wir wollen uns heute den Maßnahmen des 13. August 1961 zuwenden. Und wollen uns auseinandersetzen mit einer Behauptung, die vom Klassengegner über diese Maßnahmen seit eh und je verbreitet wird."
Der Mauerbau als Thema in der 9. Klasse. Ein Originalmitschnitt aus Ost-Berlin.
DDR-Stunde (3)
"Man wirft uns vor, diese Maßnahmen seien ein Willkürakt gewesen und letzten Endes der Schlusspunkt unter einer von der DDR verursachten Entwicklung."
Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1977. Bildungsforscher der Berliner Humboldt-Universität haben die Unterrichtsstunde damals mitgeschnitten. Durch Zufall gelangte sie vor sechs Jahren in die Hände des Erziehungswissenschaftlers Henning Schluß.
Henning Schluß: "Ein Kollege von mir kam eines Tages mit einem Videoband auf mich zu. Man muss sich so ein Videoband vorstellen wie früher die Tonbänder, waren nur noch ein bisschen dicker. Ein Zoll dick. Und der sagte: Da soll Staatsbürgerkunde-Unterricht drauf sein. Ich kann das aber nicht sichtbar machen. Er war schon durch sämtliche Videostudios der Republik getingelt. Aber keiner hat das letztlich gekonnt."
Schluß findet ein Videostudio in Hamburg, das ihm das Band digitalisieren kann. Er recherchiert die Hintergründe der Aufnahme und stößt auf weiteres Material. Dutzende Videos mit Schulstunden aus den Siebziger- und Achtzigerjahren. Aufgenommen in einem speziell mit Kameras eingerichteten Klassenzimmer an der Humboldt-Universität. Die Mitschnitte sollten bei der Lehrerausbildung eingesetzt werden.
Henning Schluß: "Es ging darum, möglichst realistische Unterrichtsszenen zu haben. Die kriegt man aber nicht, wenn man einen ganz künstlichen Raum hat. Also haben die das so gemacht, dass sie einen Raum hergerichtet haben, der wie ein naturwissenschaftlicher Unterrichtsraum war, damit man eben auch Chemie oder Physik unterrichten konnte an der Humboldt-Uni. Und dann ist eine Schulkasse jeden Mittwoch dorthin gefahren und wurde dort komplett unterrichtet. Aus einer benachbarten Schule, sodass sie sich an den Raum gewöhnt hatten."
Während des Unterrichts nahm ein Kamerateam alles auf. Die Tafel, die Lehrerin, die Reaktionen der Schüler. Insgesamt gibt es Material von 100 Schulstunden. Biologie, Englisch, Geschichte – fast jedes Fach ist dabei. Für Bildungshistoriker eine wahre Fundgrube.
Henning Schluß: "Die Bänder sagen nicht: Die DDR-Schule funktionierte nur nach Schema F. Aber sagen wir mal: Eine relativ große Lehrplantreue, eine relativ große Konformität. Trotzdem gibt es manche Aufzeichnungen, die zum Beispiel Gruppenarbeit zeigen – was man mit DDR-Schule und Frontalunterricht erst einmal nicht in Verbindung bringt. Aber wo man sieht, jedenfalls an der Universität, wurde auch über solche Lernformen nachgedacht."
Die Aufnahmen machen die ganze Ambivalenz der DDR-Schule deutlich. Manche Stunden wirken wie einstudiert. Ganz brav sitzen die Schüler da. In anderen Aufzeichnungen benehmen sie sich überraschend daneben. Eine Stunde muss wegen mangelnder Disziplin sogar abgebrochen werden. In der Stunde zum Mauerbau tragen einige Schüler dicke Siegelringe und Westklamotten – was von der SED nicht gern gesehen wurde. Der Unterricht selbst verläuft aber streng nach Lehrplan.
DDR-Stunde
"Dieses Abkommen guten Willens wurde also der Deutsche Friedensplan unsererseits genannt. Wir haben einige Auszüge daraus auf Seite 167 in unserem Lehrbuch, wenn Sie einmal umblättern."
Die Klassenlehrerin vermittelt die DDR-Sicht auf die Ereignisse, die zum Mauerbau führten. Der Westen habe gedroht, in Ostberlin einzumarschieren. Zahlreiche Friedensangebote der DDR seien ausgeschlagen worden. Die Lehrerin legt eine Unterrichtsschallplatte auf.
DDR-Stunde
"Die Imperialisten wollten die DDR – ein Bollwerk des Friedens – überfallen und die Uhren der Geschichte zurückdrehen. Das durfte niemals geschehen. Der Frieden war in Gefahr. Er musste gerettet werden."
DDR-Stunde
Lehrerin: "Inwiefern war der Frieden in Gefahr?"
Schüler: "Na durch den Westen, durch die BRD, die ja schon den Krieg vorbereitete. Die rüstete ja total auf jetzt."
Am Ende der Stunde scheinen die Schüler tatsächlich von der DDR-Sicht überzeugt. Henning Schluß:
"Wenn man sich da mal einlässt – da hat das ja eine solche suggestive Kraft, dass man am Ende wirklich glaubt, die Mauer ist gebaut worden, um vor den NATO-Streitkräften zu schützen, die sonst – wenn die Mauer nicht wäre – die Atombombe nach Berlin geschmissen hätten. Durch diese Suggestion, die wirklich eine Indoktrination anzielt zumindest, kriegt man gar nicht mit, dass die Mauer natürlich nie vor einer Atombombe hätte schützen können.
Das wird einfach überspielt durch den Medieneinsatz. Aber sobald die auf dem Schulhof sind, die Schülerinnen und Schüler – da erleben die ja eine ganz andere Welt. Da verliebt sich eben die eine Schülerin Carola plötzlich in einen Mann aus Westberlin, und da sieht die Mauer plötzlich ganz anders aus, als man es im Unterricht gehabt hat."
Schluß hat die Schüler der Staatsbürgerkundestunde vor fünf Jahren ausfindig gemacht, ihnen die alte Aufnahme vorgespielt und sie interviewt. Kaum einer trauert der DDR heute nach. Elke Urban vom Schulmuseum:
Elke Urban: "Und das ist auch eine Erfahrung, die wir Gott sei Dank alle machen konnten, dass die Holzhammer-Methode eher das Gegenteil bewirkt hat. Sonst hätte es ja keine friedliche Revolution gegeben. Dass so viele Menschen sich auch von diesem DDR-Staat abgewandt haben und es auch kaum jemanden gibt, der sie zurückhaben will, beweist doch, dass die Schule zumindest dieses Erziehungsziel nicht erreicht hat."
Vielleicht ist das die wichtigste Lehre aus der DDR-Schulgeschichte. Fachlich waren die Absolventen der POS nicht schlechter als die Realschüler in der Bundesrepublik. Aber so sehr sich die SED auch bemühte – ihre Ideologie verfing nur bei einem geringen Teil. Für den Bildungshistoriker Ulrich Wiegmann gibt es dafür einen einfachen Grund.
Ulrich Wiegmann: "Höhere Bildung immunisiert gegen Ideologisierung, macht kritisch. Das weiß man eigentlich vorher. Und das ist immer ein Spagat für Herrschende, so etwas zu versuchen. Höher zu bilden und gleichzeitig zu indoktrinieren - das funktioniert nicht. Es ist ein systematischer Widerspruch, den auch die DDR-Verantwortlichen haben erfahren müssen."
Elke Urban: "Danke. Für Frieden und Sozialismus seid bereit!"
Klasse: "Immer bereit."
Elke Urban: "Setzt Euch."
Ein Klassenzimmer wie in den Siebzigerjahren. Grau-gelber PVC-Fußboden, orangene Gardinen, Pressspan-Möbel und ein Porträt von Erich Honecker über der Tafel. Die Klassenlehrerin Frau Lehmann steht in einem grauen Kostüm vor 17 Schülern.
Elke Urban: "Heute früh war ich ganz stolz auf euch Kinder. Ihr wart alle pünktlich zum Fahnenappell. Alle haben das Halstuch mit. Ganz prima in Ordnung. Und Mandy stand in der letzten Reihe, dass man das nicht so sieht, dass wir noch einen Nicht-Pionier haben. Das war auch in Ordnung."
Auf dem Stundenplan steht Heimatkunde. Klasse drei. Leben und Wirken des Arbeiterführers Ernst Thälmann.
Elke Urban: "Ernst Thälmann, der war treu und kühn. Was wissen wir denn noch über Ernst Thälmann? Anita, von dir habe ich heute noch gar nichts gehört."
Anita: "Ernst Thälmann ist unser Vorbild."
Elke Urban: "Ja, was wissen wir noch über Ernst Thälmann? Weswegen ist er denn unser Vorbild? Ja, Daniela."
Daniela: "Ernst Thälmann ist auch ein Vorbild für alle Arbeiter."
Ein paar Schüler kichern. An den zerkratzten Schulbänken sitzen natürlich keine DDR-Kinder, sondern Gymnasiasten aus Zeitz. Die Unterrichtsstunde findet im Jahr 2009 statt. Ein Rollenspiel. Der Raum ist ein Nachbau im Schulmuseum Leipzig. Frau Lehmann heißt im richtigen Leben Elke Urban. Die Museumspädagogin will den Jugendlichen vermitteln, wie Schule in der DDR sein konnte.
Elke Urban: "Wir wiederholen gemeinsam den Satz: Ernst Thälmann war ein kommunistischer Arbeiterführer."
Klasse: "Ernst Thälmann war ein kommunistischer Arbeiterführer."
Die Gymnasiasten erfahren von der strengen Lehrerin, was DDR-Schüler alles lernen mussten: die Gesetze der Thälmannpioniere. Wie man das rote Halstuch bindet. Dass es sich lohnt, Altpapier zu sammeln. Was eine Patenbrigade macht. Und der Pioniermarsch wird auch einstudiert.
Elke Urban: "Jetzt singen alle mit. Los geht’s."
Klasse singt:
"Wir tragen die blaue Fahne
Es ruft uns der Trommelklang
Stimm fröhlich ein, du Pionier, in unseren Gesang
Seid bereit, ihr Pioniere, lasst die jungen Herzen glühen
Seid bereit, ihr Pioniere, wie Ernst Thälmann treu und kühn."
So seltsam die Unterrichtsstunde im Jahr 2009 wirken mag: Der vermittelte Stoff ist historisch verbürgt. Auf allen Schulbänken liegt ein originales DDR-Heimatkunde-Buch. Und tatsächlich behandelt es seitenweise Ernst Thälmann und die nach ihm benannte Pionierorganisation. Elke Urban lässt sich nicht gern vorwerfen, sie stelle die DDR-Schule verzerrt dar. Die Museumspädagogin hat viele Jahre an ihrer Rolle als SED-treue Klassenlehrerin gefeilt.
Elke Urban: "Weil ich zunächst mal über meinen eigenen Schatten springen musste. Ich musste meine unangenehmen Erinnerungen, um nicht zu sagen, diese Trauerarbeit, die ich auch leisten musste an der DDR-Schule, erst mal hinter mich bringen. Und muss dann natürlich auch gucken, was war denn positiv an der DDR-Schule, um gerecht zu sein, um ein ausgewogenes Bild zu vermitteln, wo nicht gleich jeder sagen konnte: Ja, also das war ja völlig überzogen. Das war ja völlig übertrieben. So war meine Schule nie, und solche Lehrer hat es gar nicht gegeben."
Wir tragen die blaue Fahne
"Wir lernen die Welt begreifen, wir forschen auf froher Fahrt
und baun ein schönres Vaterland, nach Thälmann Sinn und Art.
Seid bereit ihr Pioniere, lasst die jungen Herzen glüh'n.
Seid bereit ihr Pioniere, wie Ernst Thälmann treu und kühn."
An der DDR-Schule scheiden sich heute die Geister. Ehemalige Lehrer erinnern daran, dass die Ausbildung in den Naturwissenschaften exzellent war. Kritischere Stimmen verweisen darauf, dass die Schule vor allem ein Ziel hatte: die Kinder zu SED-treuen Staatsbürgern zu erziehen. Walter Ulbricht legte den ideologischen Rahmen so fest.
Walter Ulbricht: "Ihr müsst lernen, euch die Lehre anzueignen, die euch als einzige befähigt, mit Erfolg zu kämpfen und zu siegen. Und diese fortschrittliche Wissenschaft – das ist der Marxismus-Leninismus."
Schon früh gehorchte die DDR-Bildungspolitik den Regeln einer Diktatur. Die Fibeln von 1950 zeigen fast nur Kinder mit Pionierhalstüchern. Und die Sachaufgaben in Mathematik behandelten die Wirtschaftspläne volkseigener Betriebe. Von der ersten Klasse an wurde die sozialistische Gesellschaftsordnung vermittelt. Doch die ersten Lehrpläne waren nicht nur in Sachen Ideologie ehrgeizig.
Walter Ulbricht: "Lernt Wissenschaft und Technik meistern, damit ihr imstande seid, die Höchstleistung der Produktion, die höchste Qualität der Arbeit zu erreichen und als künftige Meister, als Leiter von Betrieben, als Agronomen, als Staatsfunktionäre eure Aufgaben zu erfüllen."
Walter Ulbricht wusste: Nur mit gut ausgebildetem Nachwuchs konnte die DDR gegenüber der Bundesrepublik bestehen. Und so beschloss die SED-Führung Ende der Fünfzigerjahre eine tief greifende Bildungsreform, die das DDR-Schulsystem bis zu seinem Ende geprägt hat. Initiator war der Chefideologe der SED.
Ulrich Wiegmann: "Also Kurt Hager ist für mich die Person, die das Ganze konzeptionalisiert, geführt und geleitet hat. Er ist der maßgebliche Mann."
Sagt der Berliner Bildungshistoriker Ulrich Wiegmann.
Ulrich Wiegmann: "Und das liegt daran, dass zu dieser Zeit eine besonders komplizierte Machtsituation im Volksbildungsbereich existierte und die SED-Führung zeitweilig das Ministerium für Volksbildung quasi entmachtet hat. Durch die Bildung einer Schulkommission, die Kurt Hager persönlich leitete. Es waren in dieser Kommission nur zwei Wissenschaftler tätig, ansonsten vor allem Praktiker aus Lehrerbildungseinrichtungen, aber auch aus Schulen."
Die Kommission sollte die Schulgesetze ablösen, die noch die sowjetische Besatzungsmacht eingeführt hatte. Anfang 1959 stellte Hager mehrere Schulthesen vor. Schulische Bildung und Erziehung wurde ausschließliche Angelegenheit des Staates. In Elternabenden und auf Parteiversammlungen wurden die Thesen diskutiert. Besonders umstritten: der verpflichtende Russisch-Unterricht.
Ulrich Wiegmann: "Also wir haben hier in unserem Archiv diese Volksdiskussion dokumentiert. Die Berichte aus den Kreisen. Und da fällt uns sehr oft auf, dass die Bevölkerung gegen diesen Russisch-Unterricht votiert hat. Im Ergebnis des Gesetzgebungsprozesses wurde Russisch dann aber festgelegt als erste Fremdsprache."
Am 2. Dezember 1959 tritt das neue Schulgesetz in Kraft. Kernelement wird die zehnklassige Polytechnische Oberschule – kurz POS. Langes gemeinsames Lernen und gute Bildungschancen auch für Arbeiter- und Bauernkinder – damit will die SED gegenüber dem Westen punkten. Der Schulabschluss nach zehn Jahren POS soll so gut sein wie das Abitur zu Zeiten der Weimarer Republik.
Ulrich Wiegmann: "Aus der ländlichen Bevölkerung kam viel Widerstand, die dagegen waren, dass ihre Kinder länger als acht Jahre in die Schule gehen, weil sie in der eigenen Wirtschaft gebraucht werden. Vor allen Dingen hatte man Vorbehalte gegen eine erweiterte Allgemeinbildung von Mädchen, die man schnell zum Heiraten bringen wollte."
Die SED bleibt hart. Zehn Jahre Schule für alle Kinder – nicht weniger, aber auch nicht mehr. So sah es das Ursprungskonzept vor. Zur Überraschung vieler hält die DDR-Führung dann aber doch zumindest am Abitur fest. Begabte Schüler können auf die Erweiterte Oberschule wechseln und in der 12. Klasse die Hochschulreife erlangen.
Dieser Weg steht allerdings nur einer Minderheit offen. Das Abitur bekommt nur, wer linientreu ist und möglichst aus einem Arbeiter- oder Bauernhaushalt stammt. Dennoch war die Bildungsreform nicht zuletzt wegen der längeren Schulpflicht ein großer Schritt, resümiert Ulrich Wiegmann:
"Die DDR war zeitweilig zumindest dem Westen voraus. Man hatte die gleiche Problemlage. Man wusste, man steht an so einer Übergangsgesellschaft. Das war eigentlich global so. Ein Übergang von der Extensivierung zur Intensivierung. Wissenschaft wird zur Produktivkraft. Das hat man im Westen so nicht gesagt, aber man hat dieselben Problemlagen diskutiert. Man brauchte auch im Westen eine bessere Ausbildung der künftigen Produzenten. Und deswegen hat man schon neugierig geschaut. Aber man hatte nicht die Möglichkeiten, die Konzepte, das so rigoros durchzupeitschen."
Fröhlich sein uns singen – Die schönsten Pionierlieder
Titel 26: Unsere Patenbrigade (Kinder, welch ein Glück)
"Kinder, welch ein Glück.
Unsere Patenbrigade arbeitet in der Bonbonfabrik, Bonbonfabrik, Bonbonfabrik.
Mmh. Mmh. Mmh."
Nicht jede Klasse hat das Glück einer Patenbrigade in der Bonbonfabrik. Aber alle Schulen arbeiten nach 1959 eng mit verschiedenen Betrieben zusammen. Die Bildungsreform legt fest: Der Unterricht soll durch Einblicke in produktive Arbeit ergänzt, die Kluft zwischen Theorie und Praxis überwunden werden.
Die SED beruft sich dabei auf die Lehren von Karl Marx. Eigentlich stammt das Konzept aber von Reformpädagogen. Was sich im frühen 20. Jahrhundert Arbeitsschule nannte, heißt in der DDR polytechnischer Unterricht und beginnt schon in der 1. Klasse mit dem Fach Werken.
Dieter Heimbach: "Ja, Werkunterricht begann mit Pappe- und Papierarbeiten und zog sich dann über Holzbearbeitung bis hin zu Metallbearbeitung, wo am Ende dann mal eine Kohlenschaufel entstand oder ähnliche Dinge, die mir übrigens, wenn wir heute Klassentreffen haben, manche Schüler interessanterweise mal mitbringen, was wir damals vor 30 oder noch mehr Jahren gefertigt haben."
Dieter Heimbach hat 17 Jahre als Polytechniklehrer in Holzhausen bei Leipzig gearbeitet. Er leitete in seiner Schule das polytechnische Kabinett, unterrichtete technisches Zeichnen sowie das Fach "Einführung in die sozialistische Produktion". Und er begleitete die älteren Schüler zu ihrem Unterrichtstag beim VEB Sprio – einer Fabrik für Spritzpistolen.
Dieter Heimbach: "Die mussten zum Teil Elemente, die für die Spritzpistolen waren, in Vormontagen, also sogenannte Nestfertigung, wo bestimmte Teile dazu vormontiert worden sind und dann in eine entsprechende Endmontage kommen. Aber sie mussten auch einfachere Arbeiten machen. Bis hin – das war aber nicht das Hauptsächliche –, dass sie auch Aufräumarbeiten und ähnliches mitzumachen hatten. Das war aber nicht das Wesentliche."
Die DDR-Führung ist stolz auf den Schultag in den Betrieben. In Schwerin wird 1961 sogar ein Museum eingerichtet, das über die Entstehung und die Ziele des polytechnischen Unterrichts informieren soll. Walter Ulbricht spornt die Jugendlichen an.
Walter Ulbricht: "Jeder Jugendliche in den volkseigenen Betrieben muss von einem neuen Verhältnis zur Arbeit erfüllt werden. Er muss wissen, dass in den volkseigenen Betrieben für das große Werk des Neuaufbaus, für das Volk selbst, für das neue Deutschland geschaffen wird."
Überraschend schnell schafft es die DDR, jeder Schule mindestens einen Betrieb zur Seite zu stellen. Die Siebt- bis Zehntklässler arbeiten im Rahmen des Unterrichts einmal wöchentlich in der Landwirtschaft, in Fabriken oder auf dem Bau. Was die SED-Politiker mit Stolz erfüllt, entsetzt die Bildungsexperten im Westen. Dort heißt es bald, die DDR führe die Kinderarbeit wieder ein. Auszug aus einem Interview:
Studiogespräch: "Die Schüler verrichteten die Arbeit an Fließbändern und bekamen dafür aber nichts bezahlt. Es wurden sogar Grundschüler aufgefordert, in einer Lederfabrik zu arbeiten, wo die Arbeitsverhältnisse keineswegs den normalen Arbeitsverhältnissen entsprechen. Wer einigermaßen Ahnung hat von der Lederherstellung, weiß, dass dort ein derart übler Geruch in dem Fabrikgebäude herrscht, wo es unmöglich erscheint, dort Kinder einzusetzen."
Weder die DDR-Führung mit ihrer euphorischen Haltung noch die skeptische westdeutsche Sicht geben die Realität damals angemessen wieder. Der Unterrichtstag in der Produktion wird so gehasst und geliebt wie andere Schulfächer auch. Es hängt einfach davon ab, in welchem Betrieb die Schüler diesen Unterricht absolvieren müssen.
Dieter Heimbach: "Also Mädchen beispielsweise, die vorhatten, Friseuse zu werden, fanden sich nun nicht so sehr wieder in Betrieben, die vor allen Dingen Metall herstellend waren. Für andere wieder, gerade für solche, die vielleicht nicht so schulstark waren, die fanden dort eher auch ein Stück Bestätigung, weil sie eben mehr auch in Richtung handwerklich-praktische Tätigkeiten tendierten. Und damit auch bessere Erfolge für sich sahen, als sie beim schnöden Lernen in der Schule hatten."
Am ehesten geht das Konzept des polytechnischen Unterrichts in den 60er- und frühen 70er-Jahren auf. Doch mit zunehmender Maschinisierung wird es auch in den DDR-Betrieben schwieriger, Aufgaben zu finden, die eine Klasse ungelernter Schüler übernehmen kann. Und so nehmen Hilfstätigkeiten wie Zündkerzen putzen, Schrauben sortieren oder Halle fegen für die Jugendlichen gegen Ende der DDR immer mehr zu. Darüber kann auch die Propaganda nicht hinwegtäuschen.
Archiv (17)
"Ich schmelze Stahl.
Ich bändige Atome.
Und ich werde Agronom – das ist auch nicht ohne.
Und ich, ich habe auch einen heimlichen Traum – ich werde Stewardess im Weltenraum."
Lieder der jungen Pioniere,
Titel 15: Bald bin ich junger Pionier
"Bald bin ich junger Pionier
Das Halstuch trage ich.
Und alle gratulieren mir.
Ja darauf freu ich mich."
Mit der Bildungsreform von 1959 wird auch die Pionierorganisation Ernst Thälmann an den Schulen verankert. Zwar war sie dort schon vorher aktiv. Doch das Gesetz über die sozialistische Entwicklung des Schulwesens garantiert ihr festen Einfluss.
Ulrich Wiegmann: "Da gab es noch Debatten, so 49, 50, 51, über den Charakter der Pionierorganisation. Soll sie dem Lernen förderlich sein, soll sie eng mit Schule kooperieren? Oder eine selbstständige Kinderorganisation sein? Und vor allen Dingen, auf Betreiben von Margot Honecker hat sich das durchgesetzt, dass Schule und Pionierorganisation möglichst zu einer Einheit verschmelzen und Pionierarbeit vor allem dem Lernen dienlich gemacht wird."
An jeder Schule gibt es einen Pionierleiter, der über ein eigenes Zimmer verfügt. Schon die Erstklässler werden Jungpioniere. Wer nicht mitmacht, muss mit Nachteilen rechnen. Beim Fahnenappell stehen Nichtmitglieder in der letzten Reihe. An manchen Freizeitveranstaltungen dürfen sie nicht teilnehmen. Die Demütigung dieser Kinder wird nach Ansicht von Elke Urban heute zu selten thematisiert.
Elke Urban: "Die Leute, die heute nur ein Viertel der Rente bekommen, die sie eigentlich verdient hätten. Die aber damals eben nicht Pionier waren und deswegen nicht studieren durften, nicht Abitur machen durften – die spüren das bis heute."
Die Pädagogin beim Leipziger Schulmuseum war in den Siebzigerjahren selbst Lehrerin. Sie hat in Leipzig Musik und Französisch unterrichtet. Zwei Fächer ohne ideologischen Ballast – zumindest glaubte sie das in ihren ersten Berufsjahren.
Elke Urban: "Spätestens durch die neuen Schulbücher im Fach Musik und den Lehrplan, der da gerade rausgekommen war, habe ich mit großem Schrecken festgestellt, da war ein Bereich 'Erziehung zur Wehrbereitschaft' im Musikunterricht, der mich zutiefst schockiert hat. Und im Französischunterricht habe ich dann auch gemerkt: Immer mehr ist das eine Erziehung zur Schizophrenie. Ich kann nicht Kinder für ein Land und eine Kultur begeistern, wenn ich weiß: Da komme ich nie hin. Auch wenn ich mich total anstrenge: Ich komme da nie hin. Und das fand ich schon damals total absurd."
DDR-Schule und SED-Ideologie – das ist für Urban untrennbar miteinander verbunden. Und doch gab es Spielräume. Auch wenn es üblich war: Ein Sportlehrer musste die Schüler nicht mit ausgedienten Handgranaten Weitwurf üben lassen. Ein Musiklehrer konnte auf das eine oder andere Propagandalied verzichten.
Elke Urban: "Es gab sicher solche Lehrer, die das vermieden haben. Ich kenne sogar einen Musiklehrer, der hat im Musikunterricht in der Schule vom Lied 'Der Mond ist aufgegangen' alle Strophen gesungen. Obwohl die natürlich nicht abgebildet waren. Also der Text konnte ja auf keinen Fall abgedruckt werden im Liederbuch. Es wurde nur die erste Strophe gesungen. Und der hat eben auch die Strophe mit 'Verschon uns Gott mit Strafen und lass uns ruhig schlafen und unseren kranken Nachbarn auch' - das hat der einfach gesungen."
Die schönsten Pionierlieder, Vol. 2
Titel 27: Gemeinsam mit guten Genossen
"Mein Lehrer kennt sich im Leben aus. Er steht mir beim Denken zur Seite.
Und einmal, als ich fragte, da sagte er mir: Was morgen sein wird, liegt im Heute. Im Jahr 46, es war im April, da wurde die Zukunft geschlossen.
Und gemeinsam marschieren wir sicher zum Ziel. Gemeinsam mit guten Genossen."
Seit vier Jahren bietet Elke Urban Jugendlichen das Rollenspiel "DDR-Heimatkunde-Unterricht" an – im original ausgestatteten DDR-Klassenzimmer in ihrem Schulmuseum. Man kann auch noch über einen anderen Weg erfahren, wie es in der DDR-Schule zuging. Eine echte Unterrichtsstunde klang so:
DDR-Stunde (1/3)
"Freundschaft.
Freundschaft.
Wir wollen uns heute den Maßnahmen des 13. August 1961 zuwenden. Und wollen uns auseinandersetzen mit einer Behauptung, die vom Klassengegner über diese Maßnahmen seit eh und je verbreitet wird."
Der Mauerbau als Thema in der 9. Klasse. Ein Originalmitschnitt aus Ost-Berlin.
DDR-Stunde (3)
"Man wirft uns vor, diese Maßnahmen seien ein Willkürakt gewesen und letzten Endes der Schlusspunkt unter einer von der DDR verursachten Entwicklung."
Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1977. Bildungsforscher der Berliner Humboldt-Universität haben die Unterrichtsstunde damals mitgeschnitten. Durch Zufall gelangte sie vor sechs Jahren in die Hände des Erziehungswissenschaftlers Henning Schluß.
Henning Schluß: "Ein Kollege von mir kam eines Tages mit einem Videoband auf mich zu. Man muss sich so ein Videoband vorstellen wie früher die Tonbänder, waren nur noch ein bisschen dicker. Ein Zoll dick. Und der sagte: Da soll Staatsbürgerkunde-Unterricht drauf sein. Ich kann das aber nicht sichtbar machen. Er war schon durch sämtliche Videostudios der Republik getingelt. Aber keiner hat das letztlich gekonnt."
Schluß findet ein Videostudio in Hamburg, das ihm das Band digitalisieren kann. Er recherchiert die Hintergründe der Aufnahme und stößt auf weiteres Material. Dutzende Videos mit Schulstunden aus den Siebziger- und Achtzigerjahren. Aufgenommen in einem speziell mit Kameras eingerichteten Klassenzimmer an der Humboldt-Universität. Die Mitschnitte sollten bei der Lehrerausbildung eingesetzt werden.
Henning Schluß: "Es ging darum, möglichst realistische Unterrichtsszenen zu haben. Die kriegt man aber nicht, wenn man einen ganz künstlichen Raum hat. Also haben die das so gemacht, dass sie einen Raum hergerichtet haben, der wie ein naturwissenschaftlicher Unterrichtsraum war, damit man eben auch Chemie oder Physik unterrichten konnte an der Humboldt-Uni. Und dann ist eine Schulkasse jeden Mittwoch dorthin gefahren und wurde dort komplett unterrichtet. Aus einer benachbarten Schule, sodass sie sich an den Raum gewöhnt hatten."
Während des Unterrichts nahm ein Kamerateam alles auf. Die Tafel, die Lehrerin, die Reaktionen der Schüler. Insgesamt gibt es Material von 100 Schulstunden. Biologie, Englisch, Geschichte – fast jedes Fach ist dabei. Für Bildungshistoriker eine wahre Fundgrube.
Henning Schluß: "Die Bänder sagen nicht: Die DDR-Schule funktionierte nur nach Schema F. Aber sagen wir mal: Eine relativ große Lehrplantreue, eine relativ große Konformität. Trotzdem gibt es manche Aufzeichnungen, die zum Beispiel Gruppenarbeit zeigen – was man mit DDR-Schule und Frontalunterricht erst einmal nicht in Verbindung bringt. Aber wo man sieht, jedenfalls an der Universität, wurde auch über solche Lernformen nachgedacht."
Die Aufnahmen machen die ganze Ambivalenz der DDR-Schule deutlich. Manche Stunden wirken wie einstudiert. Ganz brav sitzen die Schüler da. In anderen Aufzeichnungen benehmen sie sich überraschend daneben. Eine Stunde muss wegen mangelnder Disziplin sogar abgebrochen werden. In der Stunde zum Mauerbau tragen einige Schüler dicke Siegelringe und Westklamotten – was von der SED nicht gern gesehen wurde. Der Unterricht selbst verläuft aber streng nach Lehrplan.
DDR-Stunde
"Dieses Abkommen guten Willens wurde also der Deutsche Friedensplan unsererseits genannt. Wir haben einige Auszüge daraus auf Seite 167 in unserem Lehrbuch, wenn Sie einmal umblättern."
Die Klassenlehrerin vermittelt die DDR-Sicht auf die Ereignisse, die zum Mauerbau führten. Der Westen habe gedroht, in Ostberlin einzumarschieren. Zahlreiche Friedensangebote der DDR seien ausgeschlagen worden. Die Lehrerin legt eine Unterrichtsschallplatte auf.
DDR-Stunde
"Die Imperialisten wollten die DDR – ein Bollwerk des Friedens – überfallen und die Uhren der Geschichte zurückdrehen. Das durfte niemals geschehen. Der Frieden war in Gefahr. Er musste gerettet werden."
DDR-Stunde
Lehrerin: "Inwiefern war der Frieden in Gefahr?"
Schüler: "Na durch den Westen, durch die BRD, die ja schon den Krieg vorbereitete. Die rüstete ja total auf jetzt."
Am Ende der Stunde scheinen die Schüler tatsächlich von der DDR-Sicht überzeugt. Henning Schluß:
"Wenn man sich da mal einlässt – da hat das ja eine solche suggestive Kraft, dass man am Ende wirklich glaubt, die Mauer ist gebaut worden, um vor den NATO-Streitkräften zu schützen, die sonst – wenn die Mauer nicht wäre – die Atombombe nach Berlin geschmissen hätten. Durch diese Suggestion, die wirklich eine Indoktrination anzielt zumindest, kriegt man gar nicht mit, dass die Mauer natürlich nie vor einer Atombombe hätte schützen können.
Das wird einfach überspielt durch den Medieneinsatz. Aber sobald die auf dem Schulhof sind, die Schülerinnen und Schüler – da erleben die ja eine ganz andere Welt. Da verliebt sich eben die eine Schülerin Carola plötzlich in einen Mann aus Westberlin, und da sieht die Mauer plötzlich ganz anders aus, als man es im Unterricht gehabt hat."
Schluß hat die Schüler der Staatsbürgerkundestunde vor fünf Jahren ausfindig gemacht, ihnen die alte Aufnahme vorgespielt und sie interviewt. Kaum einer trauert der DDR heute nach. Elke Urban vom Schulmuseum:
Elke Urban: "Und das ist auch eine Erfahrung, die wir Gott sei Dank alle machen konnten, dass die Holzhammer-Methode eher das Gegenteil bewirkt hat. Sonst hätte es ja keine friedliche Revolution gegeben. Dass so viele Menschen sich auch von diesem DDR-Staat abgewandt haben und es auch kaum jemanden gibt, der sie zurückhaben will, beweist doch, dass die Schule zumindest dieses Erziehungsziel nicht erreicht hat."
Vielleicht ist das die wichtigste Lehre aus der DDR-Schulgeschichte. Fachlich waren die Absolventen der POS nicht schlechter als die Realschüler in der Bundesrepublik. Aber so sehr sich die SED auch bemühte – ihre Ideologie verfing nur bei einem geringen Teil. Für den Bildungshistoriker Ulrich Wiegmann gibt es dafür einen einfachen Grund.
Ulrich Wiegmann: "Höhere Bildung immunisiert gegen Ideologisierung, macht kritisch. Das weiß man eigentlich vorher. Und das ist immer ein Spagat für Herrschende, so etwas zu versuchen. Höher zu bilden und gleichzeitig zu indoktrinieren - das funktioniert nicht. Es ist ein systematischer Widerspruch, den auch die DDR-Verantwortlichen haben erfahren müssen."