Erziehungsexperte: Erfolg des Kindes bestimmt Ansehen der Familie in China
Im chinesischen Denken sei der Erfolg des Kindes ein Spiegel der Wertigkeit der Eltern. Amy Chuas umstrittenes Buch "Die Mutter des Erfolgs" sei ein Beleg dafür, "dass sie vor allen Dingen die Leistung des Kindes für ihr Ansehen in der Gesellschaft benötigt", sagt der Erziehungswissenschaftler Jürgen Henze.
Joachim Scholl: Das Jahr des Tigers ist im chinesischen Kalender zwar gerade vom Jahr des Hasen abgelöst worden, aber weiterhin hört man weltweit das Grollen dieser chinesischen Tigermutter Amy Chua. Die Amerikanerin mit chinesischen Wurzeln hat mit ihrem Buch "Die Mutter des Erfolgs" eine interessante pädagogische Kontroverse erzeugt, und ein zentraler Punkt ist dabei der Unterschied zwischen westlicher und chinesischer Erziehung. Bei uns im Studio begrüße ich jetzt Jürgen Henze, er lehrt vergleichende Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin. Guten Morgen, Herr Henze!
Jürgen Henze: Guten Morgen!
Scholl: Amy Chua sagt in ihrem Buch: Wenn ein Kind eine eins minus nach Hause bringt, freuen sich westliche Eltern und loben den Sprössling, chinesische Eltern seien dagegen sauer und schimpfen, weil es nämlich keine glatte eins ist. Ist das wirklich so?
Henze: Das ist vielleicht mit leichten Abstrichen so, aber dahinter steht die Figur, dass mein Kind das optimalste Ergebnis bringen soll, um selbst zu einer Art optimalen Entwicklung zu gelangen. Und in dem Punkte sind mit einer großen Wahrscheinlichkeit chinesische Eltern härter als die meisten nicht-chinesischen Eltern, ja.
Scholl: Auf welcher geistigen nationalen oder soziologischen Tradition beruht denn diese strenge Haltung?
Henze: Darüber gehen die Meinungen auseinander, selbst in meiner Disziplin oder in angrenzenden wissenschaftlichen Disziplinen. Lassen Sie es mich vielleicht mal so formulieren: Die eine Seite der Wissenschaft würde Ihnen sagen, es ist ein Ergebnis der Mischung unterschiedlicher philosophisch-pädagogischer Strömungen, häufig wird zitiert der Konfuzianismus oder der Neo-Konfuzianismus. Ich würde von einer besonderen Architektur des Lernens und auch einer besonderen Architektur der Weltsicht überhaupt sprechen. Für chinesische Eltern – um Ihnen ein Beispiel zu geben – besteht die Welt vor allen Dingen in Form von Hierarchien. Es gibt de facto keine nicht hierarchisierten Räume. Zweitens, es gibt ein einfaches Sprichwort: etwa 1 Prozent Erfolgswahrscheinlichkeit für 99 Prozent Aufwand – ich gehe als chinesisches Elternteil davon aus, dass mein Kind theoretisch oben in einer gedachten sozialen Hierarchie ankommen kann, und es kommt nur dann oben an, wenn der Aufwand, vor allen Dingen der schulische Aufwand, der Lernaufwand, optimal betrieben wird. Und da unterscheiden sich die Geister zwischen westlichen und chinesischen Eltern.
Scholl: Dann dürften Sie dieses Hierarchiemodell mit besonderem Interesse in Amy Chuas Buch wiedergefunden haben.
Henze: Habe ich in der Tat, wie ich überhaupt finde, dass das Buch eine Familiensaga ist, und ich nur zum Teil verstehen kann, dass das in der Welt solche Wellen schlägt. Und ich habe mir in der Vorbereitung des heutigen Gesprächs einmal angesehen, was die Blogger in "New York Times" und "Wall Street Journal" geschrieben haben, und da würden Sie finden, dass einige gesagt haben: Das ist ja gar keine chinesische Mutter, und nicht umsonst heißt die chinesische Übersetzung "The American Mum", und es wurde natürlich der Hinweis geführt, ja, dass sie über die Philippinen mit ihren Eltern dann erst am Ende in die USA eingewandert ist. Aber im Prinzip verkörpert sie eine Wertelandschaft, die sie als Normalverteilung unter chinesischen Eltern durchaus finden. Sie finden nicht in der Normalverteilung die Praxis der Bestrafung und des Drills, wie das in diesem Buch dargestellt wird, aber die Grundfigur des Denkens – was ist zu tun, damit mein Kind erfolgreich wird –, die ist schon sehr stark vorhanden.
Scholl: Bleiben wir mal bei dem Stichwort Hierarchie, Herr Henze – welche Rolle spielt denn dann Individualität in diesem pädagogischen Kontext? Bei uns ist dieser Begriff ja durchweg positiv konnotiert, also die Eigenständigkeit, die Individualität des Kindes muss gefördert werden und gefordert werden eben auch, das heißt aber auch, sozusagen freigelassen werden. In diesem hierarchischen Modell, wie Sie es jetzt gerade entwickelt haben, ist ja für Individualität dann weniger Platz, oder?
Henze: Also Modernisierung in China bedeutet zumindest in den letzten etwa 30 Jahren ständige Auseinandersetzung um diese Frage, auch eigentlich in jeder Familie. Es wird ja in diesem Buch am Ende sehr klar, man könnte ja sogar sagen, das Buch ist das Dokument eines Misserfolges, eines pädagogischen Misserfolges auf der einen Seite, auf der anderen Seite eines pädagogischen Erfolges.
Scholl: Weil die eine Tochter sozusagen triumphiert und die andere rebelliert und scheitert, im Modell der Mutter.
Henze: Ja, exakt. Und Anfang des 20. Jahrhunderts hat ein berühmter chinesischer Soziologe, Fei Xiaotong, einmal gesagt: Es gibt kein egoistischeres Lebewesen als den Chinesen. Das ist natürlich nicht wahrgenommen worden und es wird eher belächelt, aber ich denke, in der heutigen Zeit ist es angemessen, zu sagen: Immer mehr junge Leute in China haben eine eigene Lebensplanung. Zweitens: Sie setzen voraus, dass sie diese Lebensplanung umsetzen können, zu ihrem eigenen individuellen Erfolg. Das produziert enorme Spannungen, das ist nicht nur eine Folge der Ein-Kind-Ehe, sondern das ist auch eine Folge der Verlagerung von Wertelandschaften durch Modernisierung, und das werden Ihnen alle Schuldirektoren, alle soziologischen Untersuchungen und alle psychiatrischen Beratungsstellen in Großstädten durchaus sagen. Das ist ein Problem.
Scholl: "Die Mutter des Erfolgs", im Deutschlandradio Kultur ist der Erziehungswissenschaftler Jürgen Henze zu Gast. Wir haben, Herr Henze, hier im "Radiofeuilleton" vor zwei Tagen mit Ihrem Frankfurter Kollegen Micha Brumlik den Fall diskutiert, und er hat auf, ja, diesen chinesisch-westlichen Aspekt aufmerksam gemacht, dass man nämlich unbedingt mit einbeziehen sollte, dass hier eine Chinesin schreibt, die zur Amerikanerin wurde. Sie haben diesen Aspekt auch schon angesprochen, vertiefen wir ihn gleich. Hören wir mal Micha Brumlik.
Micha Brumlik: Na ja, also Chua sagt ja selbst, dass sie das nicht rassistisch gelesen haben will, alsodass westliche Erziehungsziele auch von chinesischen Eltern der Herkunft nach vertreten werden können. Mein Eindruck war deutlich, und am Ende des Buches schreibt Chua das auch, dass es die calvinistische Ethik ist, und man kann gut verstehen, dass Immigranten aus ostasiatischen Ländern, wenn sie dann in einer neuen Welt angekommen sind, darauf bedacht sind, es zu etwas zu bringen. Aber das kommt mir sehr viel amerikanischer und calvinistischer vor, als dass es jetzt eine konfuzianische Tugend wäre, in der ja Gelassenheit eine große Rolle spielt.
Scholl: Der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik. Können Sie diesen Befund bestätigen, Herr Henze, dass wir im Grunde also eher calvinistisch-asketische Ethik am Werke sehen als chinesisch-konfuzianische?
Henze: Also wenn wir uns das Ganze vorstellen als Theaterschauspiel – auf der Bühne läuft das ab, was Amy Chua beschreibt –, dann ist hinter der Bühne vielleicht auch so etwas wie calvinistische Ethik verborgen. Aber daneben und vor allen Dingen auf der Bühne haben Sie etwas, das mögen Sie als eine Mischung aus konfuzianischer Tradition, aus taoistischer Tradition und aus weiteren Traditionen bezeichnen. Wenn Sie heute in eine Großstadt wie Schanghai gehen – ich darf das vielleicht mal an einem Beispiel klar machen, was Sie als Eltern für einen sozialen Stress erhalten, wenn Sie bestimmte Dinge nicht tun. Der Konkurrenzkampf ist mittlerweile so groß, dass Sie Ihr Kind in der Regel mit Zusatzleistungen aufwachsen lassen, wie das auch bei Amy Chua beschrieben wird: Ballettunterricht, Klavierunterricht, Zusatzunterricht in bestimmten Fächern. Wenn Sie das nicht für Ihr Kind organisieren, werden Sie ein soziales Missansehen erhalten, das heißt, Ihre Umgebung wird Sie fragen: Warum tust du das nicht? Hast du vielleicht zu wenig Geld oder bist du nicht der richtige Elternteil? Das heißt, die Grundthese ist: Wenn ich nicht ein ganzes Bündel zusätzlicher Aktivitäten zu meinen extrem geforderten schulischen Leistungen organisiere, schade ich meinem Kind, weil ich die Erfolgswahrscheinlichkeit für eine obere Sprosse in der sozialen Hierarchie minimiere.
Scholl: Aber das hört sich jetzt eben gerade so an, Herr Henze, als ob die Eltern eher für sich diese Erziehung propagieren, um nach außen hin einen sozialen Status zu vermitteln und weniger an den Erfolg des Kindes denken, sondern der Erfolg des Kindes symbolisiert dann gleichzeitig den Erfolg der Familie?
Henze: Ja, exakt so. Im chinesischen Denken – und das ist nicht nur im chinesischen Denken, aber wir belassen es dabei – ist der Erfolg meines Kindes der Spiegel meiner eigenen Wertigkeit. Hat mein Kind Misserfolg, nehmen wir ein Beispiel für die deutsche Schule, schreibt mein Kind fünf Mal in Mathematik eine Arbeit, die unter dem Durchschnitt liegt, dann, wie Amy Chua sagt, werde ich es massiv kritisieren. Das Ansehen der Familie eines Kindes, das permanent nicht den obersten Erfolg garantiert, sinkt. Das heißt, ihre Leistung, die Leistung des Kindes ist eine Art Face-Produktion, Gesichtsproduktion für die Familie, ja. Und Amy Chuas Buch ist unter anderem ein Beleg dafür, dass sie vor allen Dingen die Leistung des Kindes für ihr Ansehen in der Gesellschaft benötigt.
Scholl: Was, glauben Sie, bringt nun diese Kontroverse um Amy Chuas an Erkenntnisfortschritt, ja, auch für unsere Pädagogik, für unsere Vorstellung von Erziehung?
Henze: Also ich befürchte, dass es nichts dramatisch Neues gibt. Das, was hier vorgestellt wurde, ist eigentlich in der Wissenschaft bekannt. Es gibt im chinesischen System, in der chinesischen Geschichte seit Anfang des 20. Jahrhunderts reformpädagogische Nebenströmungen, wenn Sie so wollen. Das ist gerade in den 20er- und 30er-Jahren unter dem Einfluss von John Dewey massivst in China diskutiert worden. Es hat heute statistisch keine Bedeutung, aber es gibt Reformprojekte im chinesischen Bildungswesen, wo Sie staunen würden, wenn Sie in eine Grundschule kommen und Projektunterricht in inselartiger Struktur im Klassenraum finden. Das System ist im Wandel begriffen, und der Westen, wenn ich das so pauschal sagen darf, tut gut daran, analytisch sauber, vielleicht als Reflex auf eine etwas atemberaubende Lektüre, sich mit dieser pädagogischen Struktur in China auseinanderzusetzen.
Scholl: Würden Sie denn sagen, das Buch oder der Erfolg dieses Buches ist Beleg dafür, dass hier eine Art pädagogischer Roll-back stattfindet, dass wir also uns wieder zu den, ja, eher härteren Tugenden zurückfinden sollen, und Eltern doch eher auf Strenge, Disziplin und Gehorsam achten sollen als eher auf Kuschelpädagogik?
Henze: Nein. Also ich gehe nicht davon aus, dass das Buch jetzt verstanden wird als die Antithese zur Kuschelpädagogik. Das Buch ist für mich vielmehr zu sehen im Umkreis der Pisa-Studien, also der Auseinandersetzung darüber: Warum sind chinesische Kinder und Jugendliche im Raume Schanghai denn so viel besser in Mathematik als in anderen Ländern? Das kann man aber ganz anders erklären, nicht unbedingt durch Strenge. Aber ein Nachdenken über die systematische Anleitung zum Erreichen bestimmter Ziele, ein Nachdenken über den notwendigen Energieaufwand, Betreuungsaufwand, das ist vielleicht ganz hilfreich.
Scholl: Aber Stofftiere verbrennen muss nicht sein.
Henze: Nein, Stofftiere verbrennen muss nicht sein, und genauso gut bei minus sechs Grad oder minus vier Grad in der Kälte stehen auch nicht.
Scholl: Amy Chua, "Die Mutter des Erfolgs", in dieser Woche haben wir hier im "Radiofeuilleton" täglich die Diskussion geführt, und heute war der Erziehungswissenschaftler Jürgen Henze zu Gast. Danke für Ihren Besuch, Herr Henze, und für das Gespräch!
Henze: Ich danke auch!
Jürgen Henze: Guten Morgen!
Scholl: Amy Chua sagt in ihrem Buch: Wenn ein Kind eine eins minus nach Hause bringt, freuen sich westliche Eltern und loben den Sprössling, chinesische Eltern seien dagegen sauer und schimpfen, weil es nämlich keine glatte eins ist. Ist das wirklich so?
Henze: Das ist vielleicht mit leichten Abstrichen so, aber dahinter steht die Figur, dass mein Kind das optimalste Ergebnis bringen soll, um selbst zu einer Art optimalen Entwicklung zu gelangen. Und in dem Punkte sind mit einer großen Wahrscheinlichkeit chinesische Eltern härter als die meisten nicht-chinesischen Eltern, ja.
Scholl: Auf welcher geistigen nationalen oder soziologischen Tradition beruht denn diese strenge Haltung?
Henze: Darüber gehen die Meinungen auseinander, selbst in meiner Disziplin oder in angrenzenden wissenschaftlichen Disziplinen. Lassen Sie es mich vielleicht mal so formulieren: Die eine Seite der Wissenschaft würde Ihnen sagen, es ist ein Ergebnis der Mischung unterschiedlicher philosophisch-pädagogischer Strömungen, häufig wird zitiert der Konfuzianismus oder der Neo-Konfuzianismus. Ich würde von einer besonderen Architektur des Lernens und auch einer besonderen Architektur der Weltsicht überhaupt sprechen. Für chinesische Eltern – um Ihnen ein Beispiel zu geben – besteht die Welt vor allen Dingen in Form von Hierarchien. Es gibt de facto keine nicht hierarchisierten Räume. Zweitens, es gibt ein einfaches Sprichwort: etwa 1 Prozent Erfolgswahrscheinlichkeit für 99 Prozent Aufwand – ich gehe als chinesisches Elternteil davon aus, dass mein Kind theoretisch oben in einer gedachten sozialen Hierarchie ankommen kann, und es kommt nur dann oben an, wenn der Aufwand, vor allen Dingen der schulische Aufwand, der Lernaufwand, optimal betrieben wird. Und da unterscheiden sich die Geister zwischen westlichen und chinesischen Eltern.
Scholl: Dann dürften Sie dieses Hierarchiemodell mit besonderem Interesse in Amy Chuas Buch wiedergefunden haben.
Henze: Habe ich in der Tat, wie ich überhaupt finde, dass das Buch eine Familiensaga ist, und ich nur zum Teil verstehen kann, dass das in der Welt solche Wellen schlägt. Und ich habe mir in der Vorbereitung des heutigen Gesprächs einmal angesehen, was die Blogger in "New York Times" und "Wall Street Journal" geschrieben haben, und da würden Sie finden, dass einige gesagt haben: Das ist ja gar keine chinesische Mutter, und nicht umsonst heißt die chinesische Übersetzung "The American Mum", und es wurde natürlich der Hinweis geführt, ja, dass sie über die Philippinen mit ihren Eltern dann erst am Ende in die USA eingewandert ist. Aber im Prinzip verkörpert sie eine Wertelandschaft, die sie als Normalverteilung unter chinesischen Eltern durchaus finden. Sie finden nicht in der Normalverteilung die Praxis der Bestrafung und des Drills, wie das in diesem Buch dargestellt wird, aber die Grundfigur des Denkens – was ist zu tun, damit mein Kind erfolgreich wird –, die ist schon sehr stark vorhanden.
Scholl: Bleiben wir mal bei dem Stichwort Hierarchie, Herr Henze – welche Rolle spielt denn dann Individualität in diesem pädagogischen Kontext? Bei uns ist dieser Begriff ja durchweg positiv konnotiert, also die Eigenständigkeit, die Individualität des Kindes muss gefördert werden und gefordert werden eben auch, das heißt aber auch, sozusagen freigelassen werden. In diesem hierarchischen Modell, wie Sie es jetzt gerade entwickelt haben, ist ja für Individualität dann weniger Platz, oder?
Henze: Also Modernisierung in China bedeutet zumindest in den letzten etwa 30 Jahren ständige Auseinandersetzung um diese Frage, auch eigentlich in jeder Familie. Es wird ja in diesem Buch am Ende sehr klar, man könnte ja sogar sagen, das Buch ist das Dokument eines Misserfolges, eines pädagogischen Misserfolges auf der einen Seite, auf der anderen Seite eines pädagogischen Erfolges.
Scholl: Weil die eine Tochter sozusagen triumphiert und die andere rebelliert und scheitert, im Modell der Mutter.
Henze: Ja, exakt. Und Anfang des 20. Jahrhunderts hat ein berühmter chinesischer Soziologe, Fei Xiaotong, einmal gesagt: Es gibt kein egoistischeres Lebewesen als den Chinesen. Das ist natürlich nicht wahrgenommen worden und es wird eher belächelt, aber ich denke, in der heutigen Zeit ist es angemessen, zu sagen: Immer mehr junge Leute in China haben eine eigene Lebensplanung. Zweitens: Sie setzen voraus, dass sie diese Lebensplanung umsetzen können, zu ihrem eigenen individuellen Erfolg. Das produziert enorme Spannungen, das ist nicht nur eine Folge der Ein-Kind-Ehe, sondern das ist auch eine Folge der Verlagerung von Wertelandschaften durch Modernisierung, und das werden Ihnen alle Schuldirektoren, alle soziologischen Untersuchungen und alle psychiatrischen Beratungsstellen in Großstädten durchaus sagen. Das ist ein Problem.
Scholl: "Die Mutter des Erfolgs", im Deutschlandradio Kultur ist der Erziehungswissenschaftler Jürgen Henze zu Gast. Wir haben, Herr Henze, hier im "Radiofeuilleton" vor zwei Tagen mit Ihrem Frankfurter Kollegen Micha Brumlik den Fall diskutiert, und er hat auf, ja, diesen chinesisch-westlichen Aspekt aufmerksam gemacht, dass man nämlich unbedingt mit einbeziehen sollte, dass hier eine Chinesin schreibt, die zur Amerikanerin wurde. Sie haben diesen Aspekt auch schon angesprochen, vertiefen wir ihn gleich. Hören wir mal Micha Brumlik.
Micha Brumlik: Na ja, also Chua sagt ja selbst, dass sie das nicht rassistisch gelesen haben will, alsodass westliche Erziehungsziele auch von chinesischen Eltern der Herkunft nach vertreten werden können. Mein Eindruck war deutlich, und am Ende des Buches schreibt Chua das auch, dass es die calvinistische Ethik ist, und man kann gut verstehen, dass Immigranten aus ostasiatischen Ländern, wenn sie dann in einer neuen Welt angekommen sind, darauf bedacht sind, es zu etwas zu bringen. Aber das kommt mir sehr viel amerikanischer und calvinistischer vor, als dass es jetzt eine konfuzianische Tugend wäre, in der ja Gelassenheit eine große Rolle spielt.
Scholl: Der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik. Können Sie diesen Befund bestätigen, Herr Henze, dass wir im Grunde also eher calvinistisch-asketische Ethik am Werke sehen als chinesisch-konfuzianische?
Henze: Also wenn wir uns das Ganze vorstellen als Theaterschauspiel – auf der Bühne läuft das ab, was Amy Chua beschreibt –, dann ist hinter der Bühne vielleicht auch so etwas wie calvinistische Ethik verborgen. Aber daneben und vor allen Dingen auf der Bühne haben Sie etwas, das mögen Sie als eine Mischung aus konfuzianischer Tradition, aus taoistischer Tradition und aus weiteren Traditionen bezeichnen. Wenn Sie heute in eine Großstadt wie Schanghai gehen – ich darf das vielleicht mal an einem Beispiel klar machen, was Sie als Eltern für einen sozialen Stress erhalten, wenn Sie bestimmte Dinge nicht tun. Der Konkurrenzkampf ist mittlerweile so groß, dass Sie Ihr Kind in der Regel mit Zusatzleistungen aufwachsen lassen, wie das auch bei Amy Chua beschrieben wird: Ballettunterricht, Klavierunterricht, Zusatzunterricht in bestimmten Fächern. Wenn Sie das nicht für Ihr Kind organisieren, werden Sie ein soziales Missansehen erhalten, das heißt, Ihre Umgebung wird Sie fragen: Warum tust du das nicht? Hast du vielleicht zu wenig Geld oder bist du nicht der richtige Elternteil? Das heißt, die Grundthese ist: Wenn ich nicht ein ganzes Bündel zusätzlicher Aktivitäten zu meinen extrem geforderten schulischen Leistungen organisiere, schade ich meinem Kind, weil ich die Erfolgswahrscheinlichkeit für eine obere Sprosse in der sozialen Hierarchie minimiere.
Scholl: Aber das hört sich jetzt eben gerade so an, Herr Henze, als ob die Eltern eher für sich diese Erziehung propagieren, um nach außen hin einen sozialen Status zu vermitteln und weniger an den Erfolg des Kindes denken, sondern der Erfolg des Kindes symbolisiert dann gleichzeitig den Erfolg der Familie?
Henze: Ja, exakt so. Im chinesischen Denken – und das ist nicht nur im chinesischen Denken, aber wir belassen es dabei – ist der Erfolg meines Kindes der Spiegel meiner eigenen Wertigkeit. Hat mein Kind Misserfolg, nehmen wir ein Beispiel für die deutsche Schule, schreibt mein Kind fünf Mal in Mathematik eine Arbeit, die unter dem Durchschnitt liegt, dann, wie Amy Chua sagt, werde ich es massiv kritisieren. Das Ansehen der Familie eines Kindes, das permanent nicht den obersten Erfolg garantiert, sinkt. Das heißt, ihre Leistung, die Leistung des Kindes ist eine Art Face-Produktion, Gesichtsproduktion für die Familie, ja. Und Amy Chuas Buch ist unter anderem ein Beleg dafür, dass sie vor allen Dingen die Leistung des Kindes für ihr Ansehen in der Gesellschaft benötigt.
Scholl: Was, glauben Sie, bringt nun diese Kontroverse um Amy Chuas an Erkenntnisfortschritt, ja, auch für unsere Pädagogik, für unsere Vorstellung von Erziehung?
Henze: Also ich befürchte, dass es nichts dramatisch Neues gibt. Das, was hier vorgestellt wurde, ist eigentlich in der Wissenschaft bekannt. Es gibt im chinesischen System, in der chinesischen Geschichte seit Anfang des 20. Jahrhunderts reformpädagogische Nebenströmungen, wenn Sie so wollen. Das ist gerade in den 20er- und 30er-Jahren unter dem Einfluss von John Dewey massivst in China diskutiert worden. Es hat heute statistisch keine Bedeutung, aber es gibt Reformprojekte im chinesischen Bildungswesen, wo Sie staunen würden, wenn Sie in eine Grundschule kommen und Projektunterricht in inselartiger Struktur im Klassenraum finden. Das System ist im Wandel begriffen, und der Westen, wenn ich das so pauschal sagen darf, tut gut daran, analytisch sauber, vielleicht als Reflex auf eine etwas atemberaubende Lektüre, sich mit dieser pädagogischen Struktur in China auseinanderzusetzen.
Scholl: Würden Sie denn sagen, das Buch oder der Erfolg dieses Buches ist Beleg dafür, dass hier eine Art pädagogischer Roll-back stattfindet, dass wir also uns wieder zu den, ja, eher härteren Tugenden zurückfinden sollen, und Eltern doch eher auf Strenge, Disziplin und Gehorsam achten sollen als eher auf Kuschelpädagogik?
Henze: Nein. Also ich gehe nicht davon aus, dass das Buch jetzt verstanden wird als die Antithese zur Kuschelpädagogik. Das Buch ist für mich vielmehr zu sehen im Umkreis der Pisa-Studien, also der Auseinandersetzung darüber: Warum sind chinesische Kinder und Jugendliche im Raume Schanghai denn so viel besser in Mathematik als in anderen Ländern? Das kann man aber ganz anders erklären, nicht unbedingt durch Strenge. Aber ein Nachdenken über die systematische Anleitung zum Erreichen bestimmter Ziele, ein Nachdenken über den notwendigen Energieaufwand, Betreuungsaufwand, das ist vielleicht ganz hilfreich.
Scholl: Aber Stofftiere verbrennen muss nicht sein.
Henze: Nein, Stofftiere verbrennen muss nicht sein, und genauso gut bei minus sechs Grad oder minus vier Grad in der Kälte stehen auch nicht.
Scholl: Amy Chua, "Die Mutter des Erfolgs", in dieser Woche haben wir hier im "Radiofeuilleton" täglich die Diskussion geführt, und heute war der Erziehungswissenschaftler Jürgen Henze zu Gast. Danke für Ihren Besuch, Herr Henze, und für das Gespräch!
Henze: Ich danke auch!