Erziehungswissenschaft für alle
Wolfgang Böhm hat eine Geschichte der Pädagogik geschrieben, die nur knapp 130 Seiten umfasst. Und er hat dieses schmale Bändchen in einer Sprache geschrieben, die jedermann versteht, der sich auch nur ein bisschen für Erziehungswissenschaft interessiert.
Mit erzieherischem Handeln als einer "Praxis" meinen wir in jedem Falle etwas, das mit menschlicher Freiheit zu tun hat und nach Grundsätzen, Maßgaben oder Prinzipien abläuft, also stets von Ideen geleitet ist. Um es ganz einfach auszudrücken: Wer erzieht, sollte sich vorher etwas gedacht haben, er beziehungsweise sie sollte eine Idee von Pädagogik haben, die als Richtmaß und Leitstern des Handelns dienen kann.
Schon in der Einleitung zu seiner "Geschichte der Pädagogik von Platon bis zur Gegenwart" macht der Würzburger Professor der Pädagogik, Wolfgang Böhm, Jahrgang 1937, unmissverständlich klar, worum es ihm geht: Hier schreibt jemand keine Sozialgeschichte der Erzieher und keine Institutionengeschichte der Schule, auch keine Tatsachengeschichte der Erziehung und keine Heldengeschichte pädagogischer Persönlichkeiten ... und nicht einmal eine pädagogische Prinzipiengeschichte im herkömmlichen Sinne. Hier schreibt ein ganz "unwissenschaftlicher" Wissenschaftler vielmehr eine Ideengeschichte im wortwörtlichen Sinne. Winfried Böhm:
"Von daher geht es nicht darum, einen lückenlosen Katalog der ganzen Fülle pädagogischer Ideen (im Plural!) zu erstellen, sondern vielmehr die Entstehung, die Ausgestaltung und - bildhaft gesprochen - "schichtweise" Anreicherung der Idee der Pädagogik (im Singular!) zu rekonstruieren und nachzuzeichnen."
Die Absicht ist klar: Hier werden nur einige wenige, jedoch pädagogisch wegweisende Elemente der Erziehung gewürdigt, die - jedenfalls nach Meinung des Autors - der Urbestimmung des Menschen entsprechen. Nämlich ein geschichtliches Lebewesen zu sein, das mit Vernunft, Freiheit und Sprache begabt ist. Von daher ist Erziehung davon bestimmt, diesem Lebewesen namens Mensch dazu zu verhelfen, seine Urbestimmung aus sich selbst heraus zu erlernen und zu leben. Werde der, der du bist, heißt die entsprechende existenzielle, pädagogische Idee, die gilt, seit es "Erziehung" überhaupt gibt – also seit der griechischen Antike. Denn sie ist es, welche...
"... die Auffassung der Erziehung als einer bloßen Nachahmung der Älteren und als einer tätigen Eingewöhnung in das soziale Gefüge überwunden und damit zuallererst den Grund für ein pädagogisches Bewusstsein gelegt hat."
Neben der großen - positiv bewerteten - Wende zu einer pädagogischen Idee vom Menschen, wie sie sich um 500 vor unserer Zeitrechnung vollzogen hat, benennt der Autor jedoch noch einen zweiten tiefen Einschnitt in die pädagogische Menschheitsgeschichte - und der ist negativ besetzt: nämlich die Aufklärung im Allgemeinen und die pädagogische Idee des Aufklärers Rousseau im Besonderen. Indem Rousseau meinte, die Differenz zwischen dem gesellschaftlich wirklichen und dem natürlich möglichen Menschen durch Erziehung aufzuheben zu können, wendet sich die Idee der Pädagogik von ihren jüdischen und griechischen Wurzeln und Inhalten ab. Sie sieht nun den zu Erziehenden ständig im Schnittpunkt von Natur und Gesellschaft und räumt für die Idee der Pädagogik nicht mehr der Person, dem Ich, den "absoluten Vorrang" ein. Jener sogenannte Personalismus müsse jedoch Grundlage aller erzieherischen Praxis sein und bleiben. Wie es bereits Mitte der 30er Jahre, Böhms Lehrer, der französische christliche Existenzialist Emmanuel Mounier gefordert hatte:
"Unter Personalismus verstehen wir jede Lehre und Kultur, die den Vorrang der Person des Menschen vor den natürlichen und materiellen Bedürfnissen sowie den gesellschaftlichen Einrichtungen vertritt."
Und dafür stellen sich dann auch überkommene und insbesondere im Katholizismus bewährte Begriffe ein. Da ist von der unbedingten Freiheit der Person die Rede und von einem dem Menschen innewohnenden Gewissen als oberster ethischer Instanz, die sich dem Menschheitsauftrag stellt, eine Zivilisation der Liebe zu schaffen und zu bewahren. Mit nur einer kleinen Einschränkung, die Winfried Böhm zum Schluss einräumt:
"Personsein ist niemals absolut, sondern immer nur annäherungsweise zu verwirklichen. Das macht auch die Grenzen der Erziehung aus."
Böhms Geschichte der Pädagogik gerät ziemlich ungeniert zu einer Streitschrift gegen die Moderne und ihre Fratzen wie Nationalismus, Chauvinismus, Faschismus, Nazismus, Kommunismus und sogar einem bürgerlich verfassten Kollektivismus. Sie ist im besten Sinne des Wortes ein Pamphlet, das wortgewaltig fordert, den Menschen endlich wieder zum alleinigen Subjekt seiner Erziehung zu machen und ihm die Möglichkeit zurückzugeben, ...
"... sein Leben vernünftig, frei und kommunikativ zu gestalten und selbst zu bestimmen."
Winfried Böhm: Geschichte der Pädagogik. Von Platon bis zur Gegenwart. C.H. Beck Wissen in der Beck’schen Reihe.. Verlag C.H. Beck München 2005. 128 Seiten, 7,90 €.
Schon in der Einleitung zu seiner "Geschichte der Pädagogik von Platon bis zur Gegenwart" macht der Würzburger Professor der Pädagogik, Wolfgang Böhm, Jahrgang 1937, unmissverständlich klar, worum es ihm geht: Hier schreibt jemand keine Sozialgeschichte der Erzieher und keine Institutionengeschichte der Schule, auch keine Tatsachengeschichte der Erziehung und keine Heldengeschichte pädagogischer Persönlichkeiten ... und nicht einmal eine pädagogische Prinzipiengeschichte im herkömmlichen Sinne. Hier schreibt ein ganz "unwissenschaftlicher" Wissenschaftler vielmehr eine Ideengeschichte im wortwörtlichen Sinne. Winfried Böhm:
"Von daher geht es nicht darum, einen lückenlosen Katalog der ganzen Fülle pädagogischer Ideen (im Plural!) zu erstellen, sondern vielmehr die Entstehung, die Ausgestaltung und - bildhaft gesprochen - "schichtweise" Anreicherung der Idee der Pädagogik (im Singular!) zu rekonstruieren und nachzuzeichnen."
Die Absicht ist klar: Hier werden nur einige wenige, jedoch pädagogisch wegweisende Elemente der Erziehung gewürdigt, die - jedenfalls nach Meinung des Autors - der Urbestimmung des Menschen entsprechen. Nämlich ein geschichtliches Lebewesen zu sein, das mit Vernunft, Freiheit und Sprache begabt ist. Von daher ist Erziehung davon bestimmt, diesem Lebewesen namens Mensch dazu zu verhelfen, seine Urbestimmung aus sich selbst heraus zu erlernen und zu leben. Werde der, der du bist, heißt die entsprechende existenzielle, pädagogische Idee, die gilt, seit es "Erziehung" überhaupt gibt – also seit der griechischen Antike. Denn sie ist es, welche...
"... die Auffassung der Erziehung als einer bloßen Nachahmung der Älteren und als einer tätigen Eingewöhnung in das soziale Gefüge überwunden und damit zuallererst den Grund für ein pädagogisches Bewusstsein gelegt hat."
Neben der großen - positiv bewerteten - Wende zu einer pädagogischen Idee vom Menschen, wie sie sich um 500 vor unserer Zeitrechnung vollzogen hat, benennt der Autor jedoch noch einen zweiten tiefen Einschnitt in die pädagogische Menschheitsgeschichte - und der ist negativ besetzt: nämlich die Aufklärung im Allgemeinen und die pädagogische Idee des Aufklärers Rousseau im Besonderen. Indem Rousseau meinte, die Differenz zwischen dem gesellschaftlich wirklichen und dem natürlich möglichen Menschen durch Erziehung aufzuheben zu können, wendet sich die Idee der Pädagogik von ihren jüdischen und griechischen Wurzeln und Inhalten ab. Sie sieht nun den zu Erziehenden ständig im Schnittpunkt von Natur und Gesellschaft und räumt für die Idee der Pädagogik nicht mehr der Person, dem Ich, den "absoluten Vorrang" ein. Jener sogenannte Personalismus müsse jedoch Grundlage aller erzieherischen Praxis sein und bleiben. Wie es bereits Mitte der 30er Jahre, Böhms Lehrer, der französische christliche Existenzialist Emmanuel Mounier gefordert hatte:
"Unter Personalismus verstehen wir jede Lehre und Kultur, die den Vorrang der Person des Menschen vor den natürlichen und materiellen Bedürfnissen sowie den gesellschaftlichen Einrichtungen vertritt."
Und dafür stellen sich dann auch überkommene und insbesondere im Katholizismus bewährte Begriffe ein. Da ist von der unbedingten Freiheit der Person die Rede und von einem dem Menschen innewohnenden Gewissen als oberster ethischer Instanz, die sich dem Menschheitsauftrag stellt, eine Zivilisation der Liebe zu schaffen und zu bewahren. Mit nur einer kleinen Einschränkung, die Winfried Böhm zum Schluss einräumt:
"Personsein ist niemals absolut, sondern immer nur annäherungsweise zu verwirklichen. Das macht auch die Grenzen der Erziehung aus."
Böhms Geschichte der Pädagogik gerät ziemlich ungeniert zu einer Streitschrift gegen die Moderne und ihre Fratzen wie Nationalismus, Chauvinismus, Faschismus, Nazismus, Kommunismus und sogar einem bürgerlich verfassten Kollektivismus. Sie ist im besten Sinne des Wortes ein Pamphlet, das wortgewaltig fordert, den Menschen endlich wieder zum alleinigen Subjekt seiner Erziehung zu machen und ihm die Möglichkeit zurückzugeben, ...
"... sein Leben vernünftig, frei und kommunikativ zu gestalten und selbst zu bestimmen."
Winfried Böhm: Geschichte der Pädagogik. Von Platon bis zur Gegenwart. C.H. Beck Wissen in der Beck’schen Reihe.. Verlag C.H. Beck München 2005. 128 Seiten, 7,90 €.