"Es bleibt viel zu tun"

Von Jürgen Stratmann |
Seit 1970 ist in der Bundesrepublik die Jahreswechselrede Kanzlersache. Davor war diese rhetorische Königsdisziplin den Bundespräsidenten vorbehalten. Dass damit ein gewisses Gefälle in der Stilebene einherging, ist zunächst nur ein Verdacht. Beispiele gefällig?
(histor. Aufnahme von Silvester 1899, verrauscht):
"Hört! Höört! HÖÖÖRT! – diese Stimme aus diesem wesenlosen Apparaaat – zu euch erschallen!"

So begann zum Jahres- und Jahrhundertwechsel Silvester 1899 Deutschlands wahrscheinlich erste, sozusagen elektroakustisch übertragene Neujahrsansprache – versendet von keiner amtlichen Radiostation, auch nicht rezitiert von einem staatstragendem Organ, sondern von einem biederen Familienvater aus Petershain in der Niederlausitz, sein Name: Adolf Rechenberg:

"Hochverehrte Anwesende! Ein langes, langes Jahr, und doch in der Ewigkeit nur ein Blitz."

Ein langes, langes Jahr, und doch in der Ewigkeit nur ein Blitz – schepperndes Pathos eines theatralisch tremolierenden Deklamators, klischeehafte Feiertags-Poesie, zu Gehör gebracht durch den Schalltrichter eines knarzenden Edison-Phonographen vor einer kleinen Schar sektglasreckender Silvestergäste in der guten Stube der Rechenbergs.

"Hurra! Hurra! Hurra! HURRAAH!"

Man wird nicht umhin können, den Rechenberg´schen Vortrag als prototypisch für das Genre zu betrachten, enthält es doch im Ansatz schon alle gattungskonstituierenden Elemente: ist sowohl, dem janusköpfigen Charakter des Datums geschuldet, Rückschauende Beurteilung, dabei im Stolz auf Geleistetes festlicher Lobgesang, gleichzeitig in Erwartung des Kommenden Ausblick- und Erörterung – eine Struktur, von der es bis heute kaum Abweichungen gegeben hat – hüben nicht und drüben auch nicht:

Lübke:
"Meine lieben Landsleute..."

Ulbricht:
"Liebe Freunde, liebe Genossen"

Brandt:
"Meine Damen ..."

Schmidt:
"... und Herren ..."

Kohl:
"…am Silvesterabend..."

Lübke:
"...in den letzten Stunden des alten Jahres ...."

Ulbricht:
"...da das alte versinkt und ein neues Jahr emporsteigt..."

Schmidt:
"…wenn wir dann uns zurückbesinnen, auf das alte Jahr..."

Brandt:
"....zieht manches noch einmal vorüber, mit den guten, auch den weniger guten Tagen, und man fragt sich: wie mag das neue werden?"

Kohl:
"Und ich möchte in dieser Stunde an uns alle appellieren:"

Dabei unbedingt Aufrichtigkeit zu bewahren, denn:

Lübke:
"Wer sich anschickt, Soll und Haben im Großen und im Kleinen einander gegenüber zu stellen, muss den Mut aufbringen, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen:"

Worin manch einer große Tapferkeit bewies:

Brandt:
"Zunächst sollten wir zugeben, das war für uns alles in allem kein schlechtes Jahr!"

Natürlich ließen sich zu derartigen Geständnissen immer nur solche Redner hinreißen, die das "nicht so schlechte Jahr" aufs eigene Konto verbuchen konnten – wobei Vorgänger-Kritik selten so fein ironisch verübt wurde, wie von der letztjährigen Debütantin:

"Liebe Mitbürger… "

...war die Begrüßung...

"Wie wäre es, wenn wir uns heute Abend das Ziel setzen, im kommenden Jahr überall noch ein wenig mehr als bisher zu vollbringen ..."

…perfid – aber schön! Was das Themen-Repertoire betrifft, ist die Gattung "Neujahrsansprache" in etwa so vielfältig und originell bestückt wie ein Durchschnitts-bürgerliches Silvester-Büffet: Da gibt es Hausmannskost mit sentimentaler Soße, milden Kritik-Senf, viel Selbstgemachtes, Überkandiertes, Abgekochtes, Pfeffer fehlt - und vorne weg, gern eine trübe "hat doch alles ganz gut geklappt" – Suppe - mit wechselnder Einlage:

Kohl:
"Es geht deutlich aufwärts..."

Schröder:
"Wir ha´m im vergangenen Jahr wichtige Reformen durchgesetz…t"

Merkel:
"...auch ist der Erfolg von Reformen nie sofort zu spüren..."

Manch einer mochte die nicht...

Schmidt:
"Sie erwarten von mir an diesem Abend keine erbaulichen Sprüche..."

Ein Renner dagegen - seit je – ein kräftiger Alle-für-einen-einer-für-alle-Eintopf...

Merkel:
"Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger…"

Kohl:
"Ich möchte in dieser Stunde an uns alle appellieren..."

Merkel:
"...und uns einfach ermuntern herauszufinden, was in uns steck…t"

Kohl:
"....nur wenn wir füreinander einstehen…"

Merkel:
"…können wir gemeinsam so viel erreichen."

Dann wird traditionell das Brot für die Welt verteilt:

Lübke:
"Es gibt kaum etwas Verantwortungsloseres als die Behauptung, Entwicklungshilfe sei vergeudetes Geld..."

Kohl:
"Unsere Hilfe, sie ist moralische Verpflichtung – ich danke allen, die gezeigt haben..."

Schröder:
"Was weit weg geschieht, ist uns doch nah!"

Merkel:
"Öffnen wir auch hierfür unsere Herzen..."
Und natürlich wird auch des unglücklichen Nachbarn gedacht:

Merkel:
"Das Problem Nr.1…"

Schröder:
"...das ist ohne Zweifel der Abbau der Arbeitslosigkeit…"

Kohl:
"... aber der anhaltende Wirtschaftliche Aufschwung und die zunehmende Beschäftigung zeigen, dass wir gemeinsam auf dem richtigen Weg sind."

Wie kommt es dann, dass...

Merkel:
"...das nach wie vor drängendste Problem unseres Landes…"

...na, raten Sie!

Merkel:
"…die Arbeitslosigkeit!..."

... auch heute Abend noch das nach wie vor drängendste Problem unseres Landes ist?
Vor allen Dingen, bei dem Personal:

Merkel:
"Deutschland ist das Land der Ideen…"
Schröder:
"...lassen Sie mich deshalb wiederholen, dass wir auf die Kreativität aller angewiesen sind..."

Wobei natürlich klar ist:

Brandt:
"Mit Ideen allein ist das nicht getan..."

Merkel:
"…von unsern Ideen leben können wir nur, wenn wir sie auch in die Tat umsetzen!"

Und so weiter, und so fort! Wer dabei den Eindruck gewonnen hat, dass die verschiedenen Ansprachen ein auffälliges Maß an Übereinstimmung kennzeichnet, sei daran erinnert, dass einst ein Vortrag, der unvergessliche Silvester-Toast Helmut Kohls aus dem Jahre 1986, von offenbar so überragender Qualität gewesen sein muss, dass man ihn gleich mehrmals versendete – ein schöner Erfolg!

"Hurra! Hurra! Hurrah!"

Seit 1970 ist in der Bundesrepublik die Jahreswechsel-Rede Kanzlersache, davor war diese rhetorische Königsdisziplin den Bundespräsidenten vorbehalten. Dass damit ein gewisses Gefälle in der Stilebene einherging, ist ein Verdacht – aber eins ist evident: die ganz großen Themen, mit rezitatorischem Furor zelebriert, sind seltener geworden. Es ist wohl eine präsidiale Gabe, drängende Probleme internationaler Politik mit solch lyrischem Timbre vorzutragen, wie es etwa Theodor Heuss 1958 bezüglich der Friedensproblematik gelang:

"Heil´ger Grund auf den sich gründet/ was in Lieb´du Leid verbündet/ Herz mit Herz/ Hand mit Hand/ schling um uns dein Friedensband – Land der Liebe, Vaterland."

Das sollte mal Hymne werden – wurde nichts – aber aus diesen olympischen Höhen staatspoetischer Wortkunst hatte sich das rhetorische Niveau zwischenzeitlich auf das tantige Motivations-Tri-Tra-Trullalla einer offenbar pädagogisch ambitionierten Märchenstunden-Kanzlerin eingependelt, die ihre persuasiven Finessen wohl einer Einführungsfibel für Nordic Walker entliehen hatte:

"Fangen wir einfach an – jeder Weg beginnt mit einem ersten Schritt, sie werden sehen, wie viel Freude es macht, wenn man Schritt für Schritt vorangeht – das kann jeder von uns- zuhause, in der Familie, mit Kindern, in der Schule, am Arbeitsplatz, mit Kranken ..."

Und jetzt?

Merkel:
"Vor einem Jahr habe ich in meiner ersten Neujahrsansprache gesagt: überraschen wir uns damit, was möglich ist! Das Jahr 2006 hat gezeigt, dass das keine bloße Redewendung sein muss!"

Und der Jahreswechsel 2007 hat wieder gezeigt, was man mit Redewendungen so alles anstellen kann. Zum Schluss ein Zitat von Willi Brandt:

"Es bleibt viel zu tun, um Texte mit Leben zu erfüllen, denn es kommt darauf an, für die Menschen bessere, natürlichere ..."

…Reden zu schreiben? Das hat er nicht gesagt, frohes Neues!