Es geht auch ohne Romantiker

21.02.2013
Angeblich typisch deutsche Tugenden oder mythisch-germanische Verbindungen – die Philosophin Juliane Spitta zerpflückt die teils romantisierenden, teils demagogischen Gemeinschaftsideale in der deutschen Geschichte, die zum Teil bis heute nachwirken.
Jede Gemeinschaft braucht irgendeine Gemeinsamkeit, sonst ist sie keine. Freilich sollte man sogleich fragen, ob Gemeinsamkeit unbedingt einen außerpolitischen Sinngehalt braucht, um identitätsstiftend zu sein. Oder ob man sie auch ganz einfach als pragmatisches "Projekt" bestimmen könnte. Besonders in Deutschland, der zersplitterten und "verspäteten" Nation, beschwor man, statt eines gesellschaftspolitischen Programms wie in anderen Ländern, gern gemeinsame, gleichsam organische Ursprünge.

Manchmal waren es mythisch-germanische, gelegentlich auch christlich-jüdische, und dann auch wieder nur angebliche typisch deutsche Tugenden wie Fleiß, Verlässlichkeit und Pünktlichkeit. Mit Recht zerpflückt die Berliner Philosophin Juliane Spitta die teils romantisierenden, teils demagogischen Gemeinschaftsideale in der deutschen Geschichte, die zum Teil bis heute nachwirken: Ihr Buch "Gemeinschaft jenseits von Identität" ist eine überfällige, gegenwartskritische Ideengeschichte und zugleich eine schlüssige, furiose Polemik – ein leider selten gewordener Ansatz.

Den mythischen, ideologischen oder einfach nur ersehnten kollektiven Identitäten setzt Spitta ein radikaldemokratisches Ideal entgegen. Grundgedanke der Demokratie ist die Vielfalt der Individuen, andernfalls bräuchte es keine gestaltende Teilnahme am Gemeinwesen. Das aber heißt, dass die Individuen das, was sie als ihre verpflichtenden Gemeinsamkeiten anerkennen sollen, immerfort neu verhandeln müssen, ohne Hoffnung auf ein Ende – unvermeidlich in einer ergebnisoffenen geschichtlichen Entwicklung. Das Einzige, was sie alle eint, ist ein Konsens über die Rahmenbedingungen. Jürgen Habermas nannte diese Meta-Identität "Verfassungspatriotismus". Sie umfasst nur die unabdingbaren Voraussetzungen, unter denen dieses Dauergespräch über Gemeinsamkeiten überhaupt stattfinden kann.

Spittas – utopisch klingende - Vorstellung einer unaufhörlichen gemeinsamen Gestaltung beruft sich auf eine eindrucksvolle Phalanx zeitgenössischer Denker, von Hannah Arendt über Chantal Mouffe und Jean Luc Nancy bis zu Michael Hardt und Toni Negri. Sie alle schlagen in dieselbe Kerbe:

"Veränderungen im Bereich des Politischen können mitgestaltet und durchgesetzt werden, so dass das neoliberal-thatcheristische Diktum ‚There is no alternative‘ an der Wirklichkeit blamiert wird. Da diese Welt nicht durch eine vorpolitische oder natürlich-transzendente Ebene strukturiert ist, sondern von Menschen und menschengemachten Verhältnissen gestaltet wird, sind Transformationsprozesse allgegenwärtig."

Spitta weiß, dass sie damit nicht nur gegen eine globale Tendenz zum essentialistischen Denken – also angeblich natürliche Gruppenidentitäten - anrennt, sondern auch gegen tiefsitzende Gemeinplätze und emotionale Moden wie jenen allgegenwärtigen Schmarren der ‚Selbstfindung’ beziehungsweise ‚Selbstverwirklichung‘. Begriffe, die diesen vorgeblichen Kern immer schon als existent voraussetzen, politisch oder individuell: "Ob Gemeinschaft oder Gemeinsames, es gilt sie zu erfinden, nicht sie zu befreien", schließt die Autorin, und sieht "Gemeinschaftlichkeit als Kunstwerk". Selten ist das Ideal einer inhaltlichen Leitkultur gnadenloser demontiert worden.

Besprochen von Eike Gebhardt

Juliane Spitta: "Gemeinschaft jenseits von Identität?"
transcript-Verlag, Bielefeld 2012
353 Seiten, 33,80 Euro