Theatermacherin Helgard Haug
Theatermacherin Helgard Haug: Es geht um die Lust am Experiment. © Mara von Kummer
Theater zwischen Sachlichkeit und Sinnlichkeit
35:11 Minuten
Die Theatergruppe “Rimini Protokoll” holt “Experten des Alltags” auf die Bühne, egal ob Mieter, Manager oder Menschen mit dem Tourettesyndrom. Helgard Haug ist Mitgründerin der Gruppe, die ihren eigenen Weg des dokumentarischen Theaters geht.
Hinter dem Rimini-Protokoll stecken drei Personen, neben Helgard Haug bilden Stefan Kaegi und Daniel Wetzel seit über 20 Jahren das Autoren- und Regieteam. Der Name ist bewusst gewählt und beschreibt die Spannung zwischen Sinnlichkeit und Sachlichkeit, die wesentlich für das Projekt ist, sagt Helgard Haug.
„Protokoll klingt sehr sachlich und das soll auch so sein, denn das ist auch ein Teil unserer Arbeit. Die andere Assoziation könnte sein: Sonnencreme und Sommerurlaub. Und das ist die andere Bande, über die wir spielen, das Sinnliche und Persönliche.“
Das Verschwinden und das Suchen
Auf ihre spezielle Art gelingt Helgard Haug und ihren Mitstreitern eine Theaterarbeit, die das Verschwinden des malaysischen Passagierflugzeug MH 270, das mutmaßlich in den Indischen Ozean gestürzt ist, mit dem Verschwinden der Identität ihres demenzkranken Vaters assoziativ verbindet: „Halte ich daran fest, dass die verschwundenen Menschen noch irgendwo auf einer Insel überleben?“ Halte man daran fest, dass ein Dementer als Person weiterexistierte? „Oder schließe ich damit ab?“
In beiden Fällen dienen Haug Protokolle, Tagebucheintragungen und Funksprüche, beide zunächst unterschiedlich scheinenden Fälle des Verschwindens von Menschen auszuleuchten und einander gegenüberzustellen.
Chinchilla-Arschloch oder die Inszenierung des Unkontrollierbaren
In einer weiteren Produktion sind Männer mit dem Tourettesyndrom auf der Bühne. Sie spielen trotz und mit ihren unkontrollierbaren „Ticks“: „Uns ging es darum, herauszufinden, ob so etwas überhaupt geht, ob das Theater das aushält, dass geschrien wird oder dass passiert, was nicht steuerbar ist. Und Theater lebt ja davon, alles zu kontrollieren.“
Das Stück „Chinchilla-Arschloch, waswas“ zeige, dass es geht: Beleidigendes und Schockierendes, das nicht zu Bändigende kann auf der Bühne gezeigt werden, ohne es voyeuristisch auszustellen.
„Das Publikum wird mit einbezogen und es kann auf Tourette reagieren. Glücklicherweise ist es so, dass sich auch Leute eingeladen fühlen, die selbst Tourette haben. Das sind besonders interessante Abende, weil auch in den Zuschauerrängen ‚getickt’ wird, diese Ticks sich gegenseitig kommentieren. Und das Publikum zum Resonanzraum wird.“
Wildern in allen Wissensrevieren
In Hessen ist Helgard Haug in einer Familie groß geworden, in der es ein großes Interesse an Literatur, Theater und der Frage gab, wie andere Leute denken. „Die Tür war offen in Richtung Theater, wenngleich ich auch nicht dorthin gedrängt wurde.“
Über den Umweg der Meeresbiologie und einer Auszeit in Großbritannien bringt ein Bericht über angewandte Theaterwissenschaften sie zurück nach Hessen, wo sie ihr Abitur nachholt und am Gießener Institut für angewandte Theaterwissenschaft studiert. Das Interesse an Naturwissenschaft ist geblieben:
„Der Vorteil an meinem Beruf ist, dass ich in unterschiedlichen Wissensbereichen wildern kann. Ich bin aber auch froh, wenn ich dann gedanklich wieder weiterziehen kann, weil ich beim Theater bin.“
Von Anfang an ist Rimini-Protokoll einer kollektiven Theaterarbeit verpflichtet, die weder große Führungsfiguren braucht noch vorhandene Theatertexte eins zu eins nachspielen will.
(AB)