Es geht um mehr als Wahlsiege

Von Günther Lachmann |
Seit Jahren ist die Wahlbeteiligung rückläufig, und die Parteien schrumpfen. Die SPD, in der einst über 1,2 Millionen Bürger organisiert waren, zählt heute weniger als 500.000 Mitglieder. Außerparlamentarische Bewegungen dagegen haben Zulauf. Die Demokratie steckt in einer Krise, meint Günther Lachmann.
Die Demokratie, so könnte man meinen, steht in Saft und Kraft. Eine Wahlumfrage jagt die nächste, die Politiker reisen von Wahlveranstaltung zu Wahlveranstaltung. Im Saarland wurde vorzeitig gewählt, das bevölkerungsreichste Bundesland Nordrhein-Westfalen und die Nordlichter in Schleswig-Holstein sind demnächst dran.

In Nordrhein-Westfalen geht es ums politische Überleben der FDP, in Schleswig-Holstein könnte ein Regierungswechsel anstehen; und alle Wahlen zusammen gelten mehr oder weniger als Probeabstimmungen für die Bundestagswahl im kommenden Jahr.

Wahlzeiten sind immer Hochzeiten der Demokratie. Aber ist diese Betriebsamkeit zugleich Ausweis der Funktionstüchtigkeit der repräsentativen bundesdeutschen Demokratie? Wohl kaum. Denn all die Wahlanalysen, die etwa einen Sieg von Rot-Grün an Rhein und Ruhr vorhersagen und den Piraten eine glorreiche Zukunft prophezeien, sind bestenfalls ein Zerrbild, weil sie entscheidende Fakten einfach ausblenden.

Ihnen fehlt das noch immer wachsende Lager der Nichtwähler. Im Saarland wählten diesmal nur noch 61,6 Prozent der Wahlberechtigen den neuen Landtag. Das sind sechs Prozentpunkte weniger als noch 2009. Konkret heißt das, gerade mal etwas mehr als 40 Prozent der Wahlberechtigten stehen im Saarland hinter den beiden Volksparteien SPD und CDU.

Die Mehrheit der Wahlberechtigten will offenbar etwas anderes. Dieser Trend verstetigt sich seit vielen Jahren. Von 1998 bis heute sank etwa die Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen kontinuierlich von 82,2 Prozent auf zuletzt 70,8 Prozent.

Doch nicht nur an der Wahlurne, auch in den Mitgliederkarteien ist die Erosion der repräsentativen Demokratie ablesbar. Während also das Lager der Nichtwähler beständig wächst, verlieren zugleich die Volksparteien Hunderttausende Mitglieder. Im Frühjahr 2011 zählt die SPD erstmals seit 1906 weniger als 500.000 Beitragszahler.

Besonders anschaulich wird die Größe des Verlustes im Vergleich zu den frühen siebziger Jahren, als die Partei 1,2 Millionen Mitglieder stark war. Auch die CDU schrumpft deutlich, wenn auch nicht ganz so dramatisch wie die SPD. Im Juli 2011 rutscht auch sie von einst 700.000 erstmals unter die Zahl von 500.000 Mitgliedern.

Schon vor vier Jahren warnte eine Studie des Münchener Instituts Polis/Sinus vor einem gravierenden Vertrauensverlust der Deutschen in die Demokratie. Jeder dritte Bundesbürger glaube nicht mehr daran, dass die Demokratie Probleme löse, berichtete das Institut. In Ostdeutschland seien es sogar 53 Prozent. Rund 40 Prozent zweifelten generell an der Funktionstüchtigkeit der Demokratie.

Ein Großteil derer, die sich von den Parteien verabschieden und letztlich vielleicht sogar den Wahlen fernbleiben, weil sie sich von keiner der dort antretenden Organisationen mehr vertreten fühlen, wandert ab in die außerparlamentarische Opposition. Überall im Land bilden sich Protestbewegungen. Sie nennen sich "Arbeitskreis direkte Demokratie", "Demokratie jetzt!" oder "Aktion Bürgerwille".

Die dort mitmachen, unterstützen das Camp der Occupy-Bewegung im Frankfurter Bankenviertel ebenso wie die Aktionen gegen "Stuttgart 21" oder die Anti-Atombewegung. Sie kämpfen in Bad Gandersheim gegen den Bau neuer Stromleitungen, in Berlin gegen den neuen Hauptstadtflughafen. Sie kippen in Hamburg eine Bildungsreform und verschärfen den Raucherschutz in Bayern.

Alle handeln sie nach dem Motto: Nehmt euer Schicksal selbst in die Hand, denn von denjenigen, die ihr gewählt habt, könnt ihr nichts mehr erwarten.

All diese Menschen empfinden eine tiefe Trauer, weil sie sich nicht ernst genommen, übergangen und am Ende ausgeschlossen fühlen. Unsere Demokratie ist offenbar nicht mehr in der Lage, die Mehrheit der Bürger für sich zu begeistern. Sie steckt in einer tiefen Krise.

Günther Lachmann, Jahrgang 1961, ist Journalist und Buchautor. Er verantwortet die politische Berichterstattung auf WELT ONLINE. Zuvor war er viele Jahre politischer Korrespondent der "Welt am Sonntag" und der Tageszeitung "Die Welt". Im Piper-Verlag erschienen von ihm die Bücher "Tödliche Toleranz – Die Muslime und unsere offene Gesellschaft" sowie "Von Not nach Elend – Eine Reise durch deutsche Landschaften und Geisterstädte von morgen".

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Günther Lachmann© Marion Hunger
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