"Es geht wieder ans Eingemachte bei der Berlinale"

Katja Nicodemus im Gespräch mit Susanne Führer |
Das Berliner Festival wird seinem gesellschaftskritischen Anspruch auch in diesem Jahr gerecht, urteilt Filmkritikerin Katja Nicodemus über das Programm. Wong Kar-Wais stilistisch hoch ambitioniertes Eröffnungsepos "The Grandmaster" über einen Kung-Fu-Guru war ihr aber einfach "zu schön".
Susanne Führer: Heute Abend geht es los: Die Berlinale beginnt. Zehn Tage lang gibt es dann Film, Kunst, Stars und Glamour, zehn Tage Wettbewerb um den Goldenen Bären. Den Vorsitz der internationalen Jury übernimmt in diesem Jahr der chinesische Regisseur Wong Kar-Wai, und der hat auch den Eröffnungsfilm zum Festival mitgebracht, "The Grandmaster", er wird heute Abend die 63. Berliner Filmfestspiele eröffnen. Und in unserem Berlinale-Studio ist jetzt Katja Nicodemus, die Filmkritikerin der Wochenzeitung "Die Zeit". Hallo, Frau Nicodemus!

Katja Nicodemus: Hallo!

Führer: Ja, fangen wir mal so mittendrin an: Ist denn dieser Film, dieser Eröffnungsfilm, "The Grandmaster", ein schöner Eröffnungsfilm?

Nicodemus: Also schön ist er in jedem Fall. So ein Eröffnungsfilm, der muss ja sozusagen die eierlegende Wollmilchsau sein, also der muss unterhalten, Prominenz auf den roten Teppich bringen, und das Premierenpublikum aus Promis, aus Sponsoren und internationalen Filmgästen unterhalten und zufrieden stellen. Und all das - ja, erfüllt "The Grandmaster" von Wong Kar-Wai, und die Stars des Honkong-Kinos laufen heute Abend über den roten Teppich, also Tony Leung Chiu Wai und Zhang Ziyi, das sind ja zwei Superstars, auch in Europa und in Amerika bekannt. Außerdem ist dieser Martial-Arts- oder Kampfkunstfilm sozusagen ein Abgesandter der boomenden honkong-chinesischen Filmindustrie, und Sie haben es schon erwähnt, letztlich dann eben auch eine Hommage an den Jury-Präsidenten Wong Kar-Wai. Also da legt jetzt die Wollmilchsau einige Eier gleichzeitig, würde ich sagen.

Führer: Und das mit einem Martial-Arts-Film, also ein Kampfkunstfilm. Aber nun ist ja Wong Kar-Wai ein Regisseur, der Filme gedreht hat wie "In the Mood for Love" – also ich nehme mal an, das wird jetzt kein klassischer Kampfkunstfilm sein, oder? Was ist das Besondere an "The Grandmaster"?

Nicodemus: Na, es geht ja um die Geschichte eines Großmeisters dieser Kampfkunst, der wirklich gelebt hat, Yip Man heißt der, der später auch Bruce Lee zu seinen Schülern gezählt hat, und um seine Variante des Kung Fu namens Wing Chun – das habe ich auch erst heute in diesem Film erfahren –, und die hat er dann in die Welt getragen durch seine Schüler.

Und Wong Kar-Wai, der folgt Yip Man durch die Wirren der japanischen Besatzung bis in die Nachkriegszeit – es gibt auch eine tragisch endende Liebesgeschichte, typisch für Wong Kar-Wai –, und man muss sich das so vorstellen, dass Wong Kar-Wai den für ihn typischen Stil aus Zeitlupen, aus Verwischungen, aus Doppelbelichtungen, dass er diesen geradezu malerischen, elegischen Stil nun in das Genre, auf das Genre des Kung-Fu-Films überträgt.

Und das ist teilweise sehr schön, wirklich schön. Etwa zu Beginn, wenn man eben von Yip Man und seinen Genossen in die verschiedenen Varianten, Techniken und Geheimnisse dieser Kampfkunst eingeführt wird. Mir erschien das aber irgendwann auch zu schön, wenn sich nämlich ab einem bestimmten Punkt so dieser Stil einfach verselbstständigt und sich eher über die Kampfszenen legt, als dass darüber etwas gesagt wird. Also man verliert eben durch die vielen Schnitte, Großaufnahmen, durch die Detailaufnahmen, durch die Musik und jedes Geräusch, Vergrößern der Tonspur auch so ein bisschen das Gefühl für die Zeit und für den Raum der Kampfszenen, und das Prinzip dieses elegisch zerdehnten Moments, das ist jetzt für melancholische Liebesszenen sehr schön, aber bei den Martial-Arts- oder Kung-Fu-Szenen, wo es ja um Physis, Technik, Reaktion geht, da liegt Wong Kar-Wai einfach manchmal ein bisschen daneben, war mein Eindruck.

Führer: Interessant finde ich ja, dass der Film eine Koproduktion ist von Hongkong und China. Da habe ich mich gefragt, was bedeutet das denn politisch. Der Film läuft ja in China schon sehr erfolgreich in den Kinos. Wissen Sie etwas darüber, ob es Zensurmaßnahmen gegeben hat?

Nicodemus: Also der Film ist wirklich ein Riesenhit in Hongkong und in China, und als hongkong-chinesischen Koproduktion und als ein Film, der in China in den Kinos so groß anläuft, wurde "The Grandmaster" natürlich der Zensur vorgelegt in China. Es gibt aber bei dieser Produktion eigentlich keine politisch heiklen Punkte, muss man sagen. Im Gegenteil, der Film zeigt ja die japanische Besatzung Ende der 30er-Jahre, und seine Helden und Heldinnen, die wenden sich eindeutig und ganz klar gegen die Kollaboration mit den Japanern.

Zudem geht es ja immer wieder um diese verschiedenen Kung-Fu-Traditionen in Nordchina und in Südchina, die es dann hier zu einer gesamtchinesischen Kung-Fu-Martial-Arts-Idee zu einen gilt. Also insofern ist der Film eher so eine Art Kung-Fu-Nationalepos ohne, finde ich, tiefere politische Implikationen. Und man muss vielleicht noch erzählen, dass die europäische Fassung, mit der ja heute Abend die Berlinale eröffnet wird, die ist 15 Minuten kürzer als die hongkong-chinesische, also vielleicht, weil man hier dem hiesigen Filmgeschmack nicht zutraut, dass wir ganz so episch orientiert sind.

Führer: Auf jeden Fall keine politische Zensur, nehme ich mal schwer an.

Nicodemus: Nein, wurde eher für uns geschnippelt, sozusagen.

Führer: Jetzt haben wir – ja, das meinte ich eben, bei uns keine politische Zensur –, jetzt haben wir lange über diesen einen großen Namen gesprochen, Wong Kar-Wai, Eröffnungsfilm und Jury-Präsident. Welche bekannten Regisseure sind denn außerdem noch auf der Berlinale vertreten?

Nicodemus: Also was die Amerikaner betrifft, da sind, glaube ich, die bekanntesten Namen im Wettbewerb, Gus von Sant, der mit "Promised Land" einen Film über diese umstrittene Energieabbautechnik des Fracking gedreht hat, Steven Soderbergh ist mit "Side Effects" vertreten im Wettbewerb, das ist ein Psychothriller über die Nebenwirkungen von Medikamenten – also beide ziemlich politisch, gesellschaftspolitisch orientiert. Und ansonsten trifft man hier so auf die Stars des internationalen Autorenkinos. Der Österreicher Ulrich Seidel zum Beispiel, der zeigt hier seinen Film "Paradies Hoffnung", das ist der dritte und letzte Teil einer Trilogie, deren erste Teile eben in Cannes und in Venedig liefen, und der stets auch mit Laien arbeitende Franzose Bruno Dumont – da bin ich besonders drauf gespannt –, der hat "Camille Claudel" gedreht, einen Film, in dem Juliette Binoche zusammen mit Laien die französische Bildhauerin dann spielt, also die Laien sind eben Insassen einer Psychiatrie, die sich selbst spielen. Also man kann sagen, der Fächer des Kinos ist, was so die Autorennamen betrifft, ziemlich weit geöffnet.

Führer: Die Filmkritikerin Katja Nicodemus im Deutschlandradio Kultur, wir sprechen über die Berlinale, die heute beginnt. Frau Nicodemus, wie würden Sie denn das Profil der diesjährigen Berlinale beschreiben? Also das filmische Profil der Berlinale überhaupt?

Nicodemus: Ich würde sagen, die Berlinale ist eher so ein Talentcamp, oder ich würde ganz platt von Talentscouting und Talentpflege sprechen, übrigens auch quer durch die Sektionen. Also Gus von Sant zum Beispiel und Wong Kar-Wai sind ja beide in Nebensektionen der Berlinale, in Forum und Panorama, entdeckt worden, jetzt kommen sie in diesen Jahr zurück im Wettbewerb. Und im vergangenen Jahr, da entdeckte ja die Berlinale zum Beispiel den portugiesischen Regisseur Miguel Gomes und seinen Film "Tabu". Der hat seitdem eine wirkliche Weltkarriere gemacht, lief, glaube ich, auf 40 Festivals. Und, ja, man bleibt auch im weitesten Sinne diesem gesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen Anspruch treu. Wie das jetzt im Einzelnen aussieht und sich erfüllt, kann man wahrscheinlich dann erst in zehn Tagen sagen.

Führer: Dieter Kosslick, also der Chef der Berlinale sozusagen, der hat jetzt in seinem Vorwort zum Berlinale-Katalog geschrieben, Dreh- und Angelpunkt der Filme sei die Wirklichkeit. Was ist denn damit gemeint?

Nicodemus: Ja, also hoffen wir erst mal, dass jeder Film eine Art von Wirklichkeit erschafft, im Zweifelsfall auf der Leinwand erst. Aber wenn man jetzt Kosslicks Formulierungen so auf das Programm konkret bezieht, dann kann man, glaube ich, sagen, dass die Krise, die wirtschaftliche Krise, auf der Leinwand immer weiter auch dass Leben und das Privatleben, die Familie, infiziert hat. Und diesen Prozess hat die Berlinale in den letzten Jahren durchaus konsequent abgebildet. Um jetzt in diesem Jahr mal ein Beispiel zu nennen, zum Beispiel zeigt der Bosnier Danis Tanovic im Wettbewerb einen Film über eine Roma-Familie, die nicht krankenversichert ist, also die Frau ist schwanger, sie wird aber, weil sie kein Geld hat, eben in keinem Krankenhaus zugelassen ist. Das ist rein inhaltlich sozusagen so ein Symptomfilm. Und allein in der Sektion Forum, muss man sich vorstellen, laufen drei griechische Filme, die den Einfluss der Krise auf den Einzelnen zeigen. Also in all diesen drei Filmen erlebt man wirklich ein Land in einem permanenten Zustand des Desasters, in denen es eigentlich keine Normalität mehr gibt. Also man kann schon sagen, da geht es jetzt in diesem Jahr wieder ans Eingemachte bei der Berlinale.

Führer: Und wie sieht es mit den deutschen Filmen aus?

Nicodemus: Na, da geht es auch ans Eingemachte. Das finde ich sehr interessant, aber auf eine ganz andere Art, denn der Berliner Regisseur Thomas Arslan ist ja zum ersten Mal im Wettbewerb vertreten, und zwar mit einem historischen Film, seinem Western "Gold", und erzählt wird mit Nina Hoss in der Hauptrolle von bitterarmen deutschen Auswanderern, die sich so um 1890 durch die Wildnis von Nordkanada 1500 Kilometer durchschlagen zu den Goldvorkommen von Klondike, wo sie ihr Glück vermuten. Und das ist natürlich eine ganz spannende, eben auch politische Idee, Deutsche in dieser Situation zu zeigen, die Idee des Auswanderers einfach mal umzudrehen. Und die zweite deutsche Produktion im Wettbewerb ist der Film "Layla Fourie" von der in Berlin lebenden Regisseurin Pia Marais, und das ist ganz spannend, weil Pia Marais ist die Tochter eines Südafrikaners und eine Schwedin, und sie lebt seit 20 Jahren in Berlin. Und ihr Film blickt eben auf die Gewalt und die Paranoia in Südafrika, wo sie aufgewachsen ist, am Beispiel einer Frau, die als Expertin für Lügendetektortests arbeitet. Und dieser Film ist wirklich auch ein Beispiel dafür, wie sehr sich jetzt die deutsche Filmbranche in den letzten Jahren internationalisiert hat, also dass so was möglich ist, als eine mehrheitlich deutsche Produktion, die eigentlich in Köln initiiert und begleitet wurde. Das ist eigentlich auch ein sehr schönes Symptom fürs deutsche Kino, finde ich.

Führer: Wir haben in Europa ja die drei großen Festivals, nämlich Cannes, Venedig und eben Berlin. Was meinen Sie, was ist das Besondere an der Berlinale?

Nicodemus: Man kann erst mal ganz schnöde sagen, in Venedig und Cannes ist es warm, bei uns ist es kalt, die haben das Meer, wir haben Schnee und Eis, auch in diesem Jahr.

Führer: Ja, wir haben aber auch Februar.

Nicodemus: Ja, wenn man dem Wetterbericht glaubt, wird es ja wieder genauso kalt. Aber vor allem eben hat Berlin, Sie haben es am Anfang ja schon erwähnt, sein Publikum. Auf den anderen beiden Festivals, da sitzt man ja mit der Branche im Kino, muss man sagen. Das ist immer so ein bisschen muffig, und hier sitzt man dann letztlich, wenn man es auch ein bisschen drauf ankommen lässt, mit Lieschen Müller, die am Morgen für ihre Karte eine Stunde angestanden hat, im Kino, und das ist eben ein enormer Stimmungsunterschied.

Und Cannes mag schon der elitäre Tempel der Filmkunst sein, wo man zur Eröffnung nur im Smoking reinkommt, Berlin hingegen ist eben auch durch seine Publikumsgespräche und diese enorme Publikumspräsenz eher so ein demokratisches Parlament des Kinos. Also heute Abend bei der Eröffnung, da schert es niemanden, ob man zum Anzug braune Schuhe trägt – in Cannes muss der Typ mit den braunen Schuhen draußen bleiben. Und das ist vielleicht nur ein kleines Detail, sagt aber einiges über den Geist, oder wie man jetzt neudeutsch sagt, den Spirit dieses Festivals, finde ich.

Führer: Aber Anzug muss schon sein, selbst in Berlin.

Nicodemus: Ja, Anzug muss schon sein, aber da sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Ich habe da schon die unglaublichsten Kreationen gesehen.

Führer: Na, dann wünsche ich Ihnen heute einen interessanten Abend! Das war die Filmkritikerin Katja Nicodemus.

Nicodemus: Danke schön!

Führer: Heute Abend beginnt die Berlinale. Danke Ihnen fürs Gespräch, Frau Nicodemus, tschüss!

Nicodemus: Gerne!


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