Es geschah in Berlin
Der 15. Januar 1990, Berlin, später Nachmittag. Die Bürgerrechtler vom Neuen Forum haben zu einer Aktionskundgebung aufgerufen - Tausende Menschen sind dem Aufruf gefolgt und versammeln sich vor der Zentrale der Staatsicherheit in Lichtenberg. Als sich das Tor der Zentrale von innen öffnet, stürmen einige Hundert Demonstranten auf das Gelände, besetzen Teile des Gebäudes. Einige Räume werden verwüstet, Akten verschwinden. Bis heute bleiben Fragen offen, etwa: Wer öffnete die Tore von innen? Welche Rolle spielten Stasimitarbeiter an jenem Tag? Und wer ist für die Verwüstungen verantwortlich? Thilo Schmidt hat sich für uns auf Spurensuche begeben, erinnert an den 15. Januar 1990 und die dazugehörige Vorgeschichte.
Januar 1990. Die Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit in der Berliner Normannenstraße ist mittlerweile umbenannt in: "Amt für nationale Sicherheit". Sie ist nach wie vor arbeitsfähig, obwohl die Bezirks- und Kreisdienststellen des Geheimdienstes bereits Anfang Dezember von sogenannten Bürgerkomitees besetzt und versiegelt wurden, um die fortschreitende Vernichtung von Akten zu stoppen.
Die gesamte Auflösung des Apparates wird von Ministerpräsident Modrow aber nur halbherzig betrieben – und Bürgerrechtler fordern eine sofortige Auflösung der Staatssicherheit – ohne Nachfolgebehörden. Um den Druck auf die Regierung zu erhöhen, ruft das Neue Forum zu einer Protestdemonstration in die Normannenstraße auf. Doch mancher in der Opposition hat Bedenken gegen dieses Vorhaben.
Klaus Laabs: "Ich hatte in meiner Straße, in meiner Umgebung diese Aufrufe dazu, das waren so 'ne kleinen Zettel, die hab ich runter gerissen, wo ich sie sah, weil mich das nervte ..."
Hinzu kommt: Die Demo-Aufrufe, die Klaus Laabs in seinem Quartier im Prenzlauer Berg abreißt, stammen seiner Ansicht nach nicht vom Neuen Forum. Wer noch hatte ein Auge auf diese Demonstration? Und wer noch ein Interesse daran, dass möglichst viele demonstrieren gehen?
Klaus Laabs: " ... nein, also da bin ich mir ziemlich sicher, dass das nicht Neues Forum war, das war irgend ... bestimmt stand da irgendwas drauf "Initiativkreis so und so" ... ich weiß gar nicht mal, ob überhaupt jemand drunterstand, also die Art der Zettel war mir schon so suspekt ... also hätte die Vereinigte Linke, oder wer auch immer, der mir irgendwo noch ein bisschen nah war, ja? Dann hätt ich da vielleicht mitgemacht. Aber so an der Art des Aufrufs hab ich gemerkt, nein: Unsere Revolution ist vorbei, jetzt machen Andere anderes."
Am Zentralen Runden Tisch wird die Arbeitsgruppe "Sicherheit" mit der Ausarbeitung der Stasi-Auflösung betraut. Dort mit am Tisch: Martin Gutzeit, Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei in der DDR.
Martin Gutzeit: "Nun setzt noch ein anderer Handlungsstrang ein: Das ist der der Bezirksbürgerkomitees, die sich eigentlich am Zwölften in Leipzig treffen wollten, und dann aber durch verwirrende Handlungen von Mitgliedern aus Leipzig dazu geführt hat, dass sie sich in Berlin trafen. Wo sie dann beschlossen, am 14. sich wiederzutreffen, um über den Beschluss zur Auflösung zu reden. Das ist am 14. auch passiert, und man hat dann eine Erklärung verfasst, und hat dann beschlossen, einerseits an den runden Tisch mit der Erklärung zu gehen, und zweitens dann mit der Übertragung der – Gänsefüsschen – Besetzung, wie sie in den Bezirken passierte, das heißt mit der spezifischen Art von Sicherheitspartnerschaft, auch in der Zentrale zu verfahren."
Gutzeit, heute Berliner Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, hat mit seinen Mitarbeitern und seinem Kollegen aus Sachsen über die Bezirksbürgerkomitees geforscht – und kommt zu dem Schluss, dass die "Besetzungen" der lokalen Stasi-Stellen durch Bürgerkomitees von der SED-Führung inszeniert waren. Denn jene Bürgerkomitees, bestehend aus Bürgervertretern und Staatsanwälten, handelten Anfang Dezember oftmals auf Initiative der Staatsanwaltschaften – und nicht auf Initiative der Bürger oder gar der Bürgerrechtler.
Die Bürgerkomitees aus den Bezirken fühlten sich – neben der AG Sicherheit des runden Tisches – ebenfalls zuständig für die Auflösung des Geheimdienstes. Wolfgang Loukidis hatte im Schweriner Bürgerkomitee mitgewirkt und die dortige Stasi-Dienststelle versiegelt.
Wolfgang Loukidis: "Ich denke mal schon, dass nicht alle also hundert Prozent Bürgerkomitee waren, sondern garantiert gab's auch Leute drunter, die Inoffizielle Mitarbeiter, oder wie auch immer, mit der Stasi zu tun hatten. Da gibt's auf keinen Fall eine hundertprozentige Sicherheit, dass alle koscher waren."
Berlin, 14. Januar 1990, spät nachmittags
Die Bürgerkomitees aus den Bezirken erarbeiten eine Resolution, die in die Sitzung des Runden Tisches am folgenden Tag eingebracht werden soll. Wolfgang Loukidis erstreitet, dass die Resolution um eine entscheidende Feststellung ergänzt werden soll: Dass nämlich die Staatssicherheit stets im Auftrag der noch immer agierenden SED handelte – und nicht eigenmächtig. Die SED nämlich versuchte in dieser Zeit zunehmend, Druck und Kritik von sich selbst fernzuhalten und auf die Stasi zu lenken. Loukidis ruft Karl-Heinz Ducke an, den Moderator des Runden Tisches.
Wolfgang Loukidis: "Ich hab ihn angerufen, und hab gesagt: Gibt's 'ne Möglichkeit, das schon eher einzubringen, und er hat gesagt: Gut, okay, kommen Sie dreiviertel Neun, dann nach Niederschönhausen. Dort war der Tagungsort des Runden Tisches. Das Schloss Niederschönhausen. Und dann werde ich versuchen, dass das eher drankommt."
15. Januar, 9 Uhr, Berlin-Niederschönhausen
Loukidis wartet dort auf seine Kollegen der Bürgerkomitees, diese sind im Stadtbezirk Weißensee in einem Stasi-Hotel untergebracht.
" ... und hab auf die anderen vom Bürgerkomitee gewartet, dass die die Resolution bringen. Die kamen nicht. Es wurde viertel zehn, halb zehn, ich glaube kurz nach halb zehn kamen die dann. Und da war dann nichts mehr möglich, es war schlichtweg zu spät. Aber: Es war dadurch, wie ich dann später erfahren habe, passiert, dass die in einen Dynamo- oder Stasi-Bus gesetzt wurden, und dass sie durch Berlin gefahren wurden. Und deshalb sind sie dann eben nicht um dreiviertel neun oder neun dagewesen, sondern eben erst 'ne Dreiviertelstunde später. Das war der erste Punkt an diesem Tag, der merkwürdig war, oder keine Zufälligkeit darstellen konnte ..."
15. Januar, morgens
Ministerpräsident Modrow ist der Forderung der Oppositionsgruppen nachgekommen und erscheint erstmals am Runden Tisch. Thema sind auch die Aktenvernichtungen in den Stasi-Bezirksdienststellen.
Wolfgang Loukidis: "Und dann war es ja so, dass Modrow kam, und die Beratungen anfingen, und Modrow dann gleich zu Anfang der Beratungen sagte: Ja, wenn Akten vernichtet worden sind, dann nur mit Zustimmung der Bürgerkomitees. Und das hat mich natürlich auf die Palme gebracht, und Herr Schult räumte seinen Stuhl für mich. Also ich hätte dann, wenn die Runde rumgegangen wäre, an der Stelle reden können."
Reinhard Schult, der Organisator der für diesen Tag angekündigten Demonstration zur Stasi-Zentrale, überlässt Wolfgang Loukidis seinen Platz am Runden Tisch.
Wolfgang Loukidis: "Und da kam zuerst der Cimanowski, kam da, ja? Und fragte mich dann so leise, was mach ich denn hier auf dem Stuhl? Und ich sag: Na ja, ich will hier was sagen, und so. 'Na, was willste denn sagen?' Nun, ich will Modrow widersprechen. Wir haben keine Zustimmung zur Aktenvernichtung gegeben. 'Na, das geht nicht!' Und ... dann verschwand er. So. Und jetzt dauerte das noch eine Weile, bis ich an der Reihe gewesen wäre, und daraufhin kam dann Herr Rogge, das ist der Vertreter vom Bürgerkomitee in Rostock gewesen, und sagte: 'Also das Bürgerkomitee hat beschlossen, dass er sich an meiner Stelle hier hinsetzen soll'. Und ich natürlich treugläubig gesagt: Na gut, wenn das so beschlossen worden ist, okay, fügste dich dem Beschluss, hab ihm den Platz geräumt. Und jetzt kam er an die Reihe, und sagte dann eben halt: Ja, er könne das bestätigen, dass wenn Akten vernichtet worden sind, dann mit Zustimmung der Bürgerkomitees. Da bin ich natürlich von den Socken gefallen. Ja, ich war wie vorn Kopp geschlagen, weil ich ja nun gesagt hab, das war gerade andersrum. Nein, ich bin dann natürlich hoch in diesen Aufenthaltsraum und hab dann zu den Leuten gesagt: Kommt, macht Euren Kindergarten alleine. Und bin dann weggefahren."
Wolfgang Loukidis macht sich gegen Mittag wieder auf den Weg nach Schwerin.
"Nein, es war schon frustrierend, dass also sich Leute von den Bürgerkomitees für so was hergeben. Ja? Was ich überhaupt nicht verstanden hab. Das sind für mich auch Stasi-Methoden."
15. Januar, 12 Uhr. Berlin-Lichtenberg, Normannenstraße
Bei der Staatssicherheit ist für die meisten Mitarbeiter Dienstschluss. Reinhard Schult, der die für den Nachmittag geplante Demonstration organisiert:
"Die Stasi wusste ja, und die Mitarbeiter der Stasi, die sind ab dem Tag, 12 Uhr, entlassen worden, und nach Hause geschickt worden. Und die höheren Offiziere bildeten Einsatzgruppen, um die Archive zu schützen."
15. Januar, 13.45, Normannenstraße
Reinhard Schult ahnt nicht, dass sich bereits jetzt hochrangige Vertreter der Staatssicherheit, ein Oberstaatsanwalt und Vertreter der Bürgerkomitees im Amt treffen, um still und heimlich das Ende des Geheimdienstes zu besiegeln. Darunter auch jener Herr Rogge aus Rostock, der Wolfgang Loukidis am Vormittag vom Runden Tisch weggelockt hatte.
Martin Gutzeit: " ... und parallel gehen die Bürgerkomitees dort vor, und ich würde auch nicht allen Vertretern, die dabei saßen, nachsagen, dass sie Teil des Spiels sind, einer Inszenierung. Es sind aber welche da, die diese ganze Übernahme durch Staatsanwälte und mit Polizei dort in anderthalb Stunden über die Bühne ziehen. Das heißt also: Man hat geplant, es vor der Demo fertigzubringen, und man hat es fertiggebracht."
Eine Vorlage der AG Sicherheit des Runden Tisches zur Auflösung der Staatssicherheit wird am 15. Januar nicht mehr behandelt.
Martin Gutzeit: " ... dass es nicht behandelt wurde, hat damit zu tun, dass dann Meldungen kamen, wegen Gefahren aufgrund der Demonstration, die um 17 Uhr dort begann, und da wurde dann gesagt, es ist Gefahr von Gewalt und so weiter, deswegen wurde die Sitzung des Zentralen Runden Tisches abgebrochen, und einige Vertreter, auch ich, sind dann in die Normannenstraße gefahren. Das heißt also, es konnte dann an dem Tag gar nicht mehr behandelt werden. Was da in dieser Zeit von 13 Uhr 15 in diesen anderthalb Stunden passierte, davon wussten wir ja gar nichts! Ich denke, der Zentrale Runde Tisch hatte eine andere Legitimation als diese Bürgerkomitees, die sich dann da zum Haupthandelnden erhoben haben."
16 Uhr, Berlin-Mitte, VEB Energiekombinat
André Ohmen an seinem Arbeitsplatz. Der damals 29-jährige Aktive beim Neuen Forum will dem Aufruf folgen, Steine und Mörtel zur Demonstration mitzubringen, um die Toreinfahrten zur Stasi-Zentrale symbolisch zu vermauern.
André Ohmen: "Ich hatte so ein Gartengrundstück, und da waren halt Steine übrig, und da hab ich mir überlegt, wie kannst du das machen, und diese Demonstration fand ja dann auf den Nachmittag statt, und da hab ich dann die Steine in so 'nem, ja, ich sag mal Rentnerwagen transportiert, und 'ne Maurerkelle, und dieser Wagen stand dann in meinem Büro neben meinem Tisch, und dann praktisch nach, was weiß ich, siebzehn Uhr, bin ich dann mit meinem Wagen los, und meiner Mauerkelle, und andere Kollegen sind mir auch gefolgt, und dann sind wir halt in die Normannenstraße gefahren."
Normannenstraße, 17 Uhr
"Mit Fantasie und ohne Gewalt", steht auf dem Aufruf des neuen Forums. "Bringt Farbe und Spraydosen mit", und "Wir schließen die Tore der Stasi". Zehntausende sind gekommen. Barbara Timm, damals beim Neuen Forum und heute Referentin im Stasi-Museum, stand ganz vorne am Tor.
"Ich will mal sagen, es war Januar, also es war dann schon wirklich dunkel um siebzehn Uhr, natürlich hat man so die Masse, sag ich mal, nicht überblicken können. Der Zulauf wurde schon enorm."
Normannenstraße, 17 Uhr 30
Aus einem Dossier des DDR-Innenministeriums: "Die Eskalation der Lage war im Weiteren dadurch gekennzeichnet, das circa 300 Bauarbeiter damit begannen, den Eingang Normannenstraße zuzumauern".
Ein unbekannt gebliebener Demonstrant, der seine Erlebnisse handschriftlich festgehalten hat, schreibt hingegen:
"Wie viele dort mauerten, kann ich nicht sagen. Es waren aber keine 300, wie es in der Berliner Zeitung stand, es dürften nicht einmal 20 gewesen sein. Die Anzahl der Steine war vielleicht 300."
André Ohmen: "... und diese Mauer selber, die ist aber nicht sehr hoch geworden. Also ich würde mal sagen, es waren vielleicht vier oder fünf Steinreihen, es war halt mehr 'ne symbolische Geschichte, und dann gabs Sprechchöre, und dann auch so Sachen, die dann später durch die Medien gingen, ja, also 'Stasi raus' und solche Sachen, aber es gab eigentlich keinen Versuch jetzt eigentlich, dieses Tor zu stürmen."
Reinhard Schult: "Und da haben wir auch diese Lautsprecheranlage und diese Rednerplattform dagehabt, und als die Reden anfingen, nach zehn Minuten bis viertel Stunde, ging das Tor von innen auf. Also überraschend, ohne Not, wir hatten ja Ordner davor zu stehen, mit 'ner Schärpe, 'keine Gewalt', und das Gedränge war an dem Tor auch nicht so groß. Und dass es eingedrückt worden ist, kann man hundertprozentig ausschließen."
Warum ging das Tor auf? Bis heute ist das nicht klar. Hat es ein Mitglied der Bürgerkomitees öffnen lassen, die seit dem Nachmittag auf dem Gelände waren? Hat es ein Stasi-Mitarbeiter eigenmächtig geöffnet?
Reinhard Schult: "Das Tor ging auf, und dann splitterten schon im dritten vierten Stock die Scheiben und sind schon Sessel rausgeworfen worden. Also nach meinem Empfinden hat die Zeit nicht gereicht, dass die Demonstranten da bis in die dritte, vierte Etage hochgekommen sind, um die Verwüstungen da ... und die Scheiben einzuschlagen. Und dann haben die Demonstranten auch gebrüllt: Aufhören! Aufhören! Und: Keine Gewalt! Und da entstand insgesamt jetzt auch 'ne Unsicherheit, weil wir wollten ja auf gar keinen Fall, dass es irgendwie zu 'ner Eskalation kommt."
Reporter: "Ich habe hier zwei Leute, die sich einfach demonstrativ gemeldet haben, um ihre Meinung zu sagen, ich würde den Kai mal bitten, Kai Schirmer ist ja Mitglied des Forums, und Kai wird seine ganz private Meinung zu dieser Veranstaltung sagen, Kai, ja."
Kai: "Also ich bin sehr erschüttert über das, was hier passiert, denn als Teilnehmer der Demonstrationen am 7. und 8. Oktober im vergangenen Jahr bin ich sozusagen selbst Betroffener dieser Vorgänge damals gewesen, und ich kann mit Sicherheit sagen, dass diese Leute, die heute hier randalieren, und sich benehmen wie Vandalen, nicht dieselben sind, die damals jene Bewegung initiiert haben und die damals dafür auf die Straße gegangen sind."
Ein Ordner des Neuen Forums , um den Hals eine Schärpe mit der Aufschrift "Keine Gewalt", steht hilflos in der Menge.
Doch wer waren die Vandalen? Wer hat die Feuerlöscher in den Büros entleert, die Türen eingetreten und die Möbel aus den Fenstern geworfen? Waren die Akte inszeniert, um die Oppositionsbewegung zu diskreditieren, als gewalttätig und anarchistisch?
Stasi-Akten übrigens hat an diesem Tag kein Demonstrant gesehen. Die Staatssicherheit lenkt die auf das Gelände strömenden Demonstranten in Haus 18.
Barbara Timm: "Sie haben uns definitiv zu dem aller unwichtigsten Gebäude geleitet, kann man sagen, der Versorgungstrakt war einfach für die Versorgung der eigenen Mitarbeiter gedacht, also es befand sich ein Friseur, eine Buchhandlung, ein Reisebüro, 'ne Kantine, also es gab keine wichtigen Unterlagen. Dort konnten sich die Leute austoben, konnten sozusagen die Türen eintreten, und es ist außer materieller Schaden kein anderer Schaden entstanden. Man hat uns also wirklich vom Archiv abgehalten, denn das war ja im Prinzip genau in der anderen Richtung zu finden.
Wir haben auch einige alkoholisierte Demonstranten, die sich da unten in dem Schnapslager bedient haben, aber mit unseren Ordnern haben wir so nach anderthalb bis zwei Stunden die Leute wieder rausgekriegt aus dem Wirtschaftstrakt, ohne Gewalt anzuwenden. Also haben eingeredet, also macht keinen Scheiß, und jetzt gehen wir wieder raus, und jetzt haben wir genug gesehen, und auch die Betrunkenen haben dann auch mit gut Zureden wieder das Gebäude verlassen."
Die Demonstranten haben das Archiv nicht betreten – an diesem Tag allerdings verschwinden Akten. Aus dem internen Bericht des DDR-Innenministeriums:
"In den Bereich der Spionageabwehr wurde eingebrochen. Es ist nicht auszuschließen, dass Akten entwendet wurden. Es liegen Hinweise vor, dass nicht nur DDR-Bürger im Objekt waren".
Haben Agenten des Bundesnachrichtendienstes im Schutz der Demonstration sensible Unterlagen gestohlen? Barbara Timm fällt auf, dass im ansonsten dunklen Haus 2 – dem Sitz der Spionageabwehr – plötzlich Lichter brannten. Der unbekannte Demonstrationsteilnehmer:
"Zwei Fenster waren einen Spalt breit geöffnet. Dahinter war schemenhaft eine Person zu sehen"."
Barbara Timm: " "Dort ist ja wirklich gezielt in verschiedene Räumlichkeiten eingebrochen worden, gezielt ist nach bestimmten Karteien gesucht worden, und die sind auch gefunden worden, natürlich, und es fehlen richtig dann so Bündel ... also westliche Geheimdienste haben sich dort richtig gezielt bedient."
16. Januar, 19 Uhr 30, Deutscher Fernsehfunk
"Guten Abend meine Damen und Herren zur Aktuellen Kamera. Millionenschäden nach Besetzung der Stasi-Zentrale."
Dem Neuen Forum, den Organisatoren der Demonstration, wurden schwere Vorwürfe angelastet. Sie seien für schwere Schäden in angeblicher Millionenhöhe verantwortlich.
Barbara Timm: "Aber letztendlich, ja, die Staatssicherheit war vor Ort. Wer letztendlich da für welche Zerstörungen gesorgt hat, kann man heute nicht mehr nachvollziehen."
Bis heute wird über den 15. Januar 1990 spekuliert. Wer profitierte wovon? Wie verhält es sich mit Ursache und Wirkung?
Klaus Laabs: "Ach ich weiß nicht. Wenn ich jetzt sagen sollte, wer das da in der Stasi-Zentrale war, für mich war es dann schließlich auch ein ziemlich unpolitischer Mob. Also ich, ha, darf das Wort vielleicht gar nicht wiederholen und laut sagen, aber ich glaube nicht, dass da wirklich politisch gute Absichten hinter standen. Also ich würd' mich nicht wundern, wenn das von Geheimdiensten organisiert war. Und das hat den Gedanken bei mir verstärkt auch, dass das im Januar 1990, das war schon längst alles in den Händen, wo sowas hingehört. Von Amts wegen ..."
15. Januar 1990: Fragen über Fragen
"War dies alles Zufall?", resümiert der unbekannte Demonstrant in seinem Erlebnisbericht. Fest steht einzig, dass am 15. Januar 1990 das endgültige Ende der DDR-Staatssicherheit eingeläutet wird.
Martin Gutzeit: ": "Das im Einzelnen, ob das spontan ist, oder nicht spontan ist, und so weiter und so fort, ist im Nachhinein nicht zu rekonstruieren ...""
Programmhinweis:
In der Sendung "Im Gespräch" im Deutschlandradio Kultur erinnern am Samstag, 16. Januar ab 9.05 Roland Jahn, ehemaliger DDR-Bürgerrechtler und Journalist, und David Gill, ehemaliger Koordinator des Bürgerkomitees zur Auflösung des Staatssicherheitsdienstes, an die Erstürmung der Stasi-Zentrale. Hörer können sich beteiligen unter der kostenfreien Telefonnummer 0800 - 2254 2254 oder per E-Mail an gespraech@dradio.de.
Die gesamte Auflösung des Apparates wird von Ministerpräsident Modrow aber nur halbherzig betrieben – und Bürgerrechtler fordern eine sofortige Auflösung der Staatssicherheit – ohne Nachfolgebehörden. Um den Druck auf die Regierung zu erhöhen, ruft das Neue Forum zu einer Protestdemonstration in die Normannenstraße auf. Doch mancher in der Opposition hat Bedenken gegen dieses Vorhaben.
Klaus Laabs: "Ich hatte in meiner Straße, in meiner Umgebung diese Aufrufe dazu, das waren so 'ne kleinen Zettel, die hab ich runter gerissen, wo ich sie sah, weil mich das nervte ..."
Hinzu kommt: Die Demo-Aufrufe, die Klaus Laabs in seinem Quartier im Prenzlauer Berg abreißt, stammen seiner Ansicht nach nicht vom Neuen Forum. Wer noch hatte ein Auge auf diese Demonstration? Und wer noch ein Interesse daran, dass möglichst viele demonstrieren gehen?
Klaus Laabs: " ... nein, also da bin ich mir ziemlich sicher, dass das nicht Neues Forum war, das war irgend ... bestimmt stand da irgendwas drauf "Initiativkreis so und so" ... ich weiß gar nicht mal, ob überhaupt jemand drunterstand, also die Art der Zettel war mir schon so suspekt ... also hätte die Vereinigte Linke, oder wer auch immer, der mir irgendwo noch ein bisschen nah war, ja? Dann hätt ich da vielleicht mitgemacht. Aber so an der Art des Aufrufs hab ich gemerkt, nein: Unsere Revolution ist vorbei, jetzt machen Andere anderes."
Am Zentralen Runden Tisch wird die Arbeitsgruppe "Sicherheit" mit der Ausarbeitung der Stasi-Auflösung betraut. Dort mit am Tisch: Martin Gutzeit, Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei in der DDR.
Martin Gutzeit: "Nun setzt noch ein anderer Handlungsstrang ein: Das ist der der Bezirksbürgerkomitees, die sich eigentlich am Zwölften in Leipzig treffen wollten, und dann aber durch verwirrende Handlungen von Mitgliedern aus Leipzig dazu geführt hat, dass sie sich in Berlin trafen. Wo sie dann beschlossen, am 14. sich wiederzutreffen, um über den Beschluss zur Auflösung zu reden. Das ist am 14. auch passiert, und man hat dann eine Erklärung verfasst, und hat dann beschlossen, einerseits an den runden Tisch mit der Erklärung zu gehen, und zweitens dann mit der Übertragung der – Gänsefüsschen – Besetzung, wie sie in den Bezirken passierte, das heißt mit der spezifischen Art von Sicherheitspartnerschaft, auch in der Zentrale zu verfahren."
Gutzeit, heute Berliner Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, hat mit seinen Mitarbeitern und seinem Kollegen aus Sachsen über die Bezirksbürgerkomitees geforscht – und kommt zu dem Schluss, dass die "Besetzungen" der lokalen Stasi-Stellen durch Bürgerkomitees von der SED-Führung inszeniert waren. Denn jene Bürgerkomitees, bestehend aus Bürgervertretern und Staatsanwälten, handelten Anfang Dezember oftmals auf Initiative der Staatsanwaltschaften – und nicht auf Initiative der Bürger oder gar der Bürgerrechtler.
Die Bürgerkomitees aus den Bezirken fühlten sich – neben der AG Sicherheit des runden Tisches – ebenfalls zuständig für die Auflösung des Geheimdienstes. Wolfgang Loukidis hatte im Schweriner Bürgerkomitee mitgewirkt und die dortige Stasi-Dienststelle versiegelt.
Wolfgang Loukidis: "Ich denke mal schon, dass nicht alle also hundert Prozent Bürgerkomitee waren, sondern garantiert gab's auch Leute drunter, die Inoffizielle Mitarbeiter, oder wie auch immer, mit der Stasi zu tun hatten. Da gibt's auf keinen Fall eine hundertprozentige Sicherheit, dass alle koscher waren."
Berlin, 14. Januar 1990, spät nachmittags
Die Bürgerkomitees aus den Bezirken erarbeiten eine Resolution, die in die Sitzung des Runden Tisches am folgenden Tag eingebracht werden soll. Wolfgang Loukidis erstreitet, dass die Resolution um eine entscheidende Feststellung ergänzt werden soll: Dass nämlich die Staatssicherheit stets im Auftrag der noch immer agierenden SED handelte – und nicht eigenmächtig. Die SED nämlich versuchte in dieser Zeit zunehmend, Druck und Kritik von sich selbst fernzuhalten und auf die Stasi zu lenken. Loukidis ruft Karl-Heinz Ducke an, den Moderator des Runden Tisches.
Wolfgang Loukidis: "Ich hab ihn angerufen, und hab gesagt: Gibt's 'ne Möglichkeit, das schon eher einzubringen, und er hat gesagt: Gut, okay, kommen Sie dreiviertel Neun, dann nach Niederschönhausen. Dort war der Tagungsort des Runden Tisches. Das Schloss Niederschönhausen. Und dann werde ich versuchen, dass das eher drankommt."
15. Januar, 9 Uhr, Berlin-Niederschönhausen
Loukidis wartet dort auf seine Kollegen der Bürgerkomitees, diese sind im Stadtbezirk Weißensee in einem Stasi-Hotel untergebracht.
" ... und hab auf die anderen vom Bürgerkomitee gewartet, dass die die Resolution bringen. Die kamen nicht. Es wurde viertel zehn, halb zehn, ich glaube kurz nach halb zehn kamen die dann. Und da war dann nichts mehr möglich, es war schlichtweg zu spät. Aber: Es war dadurch, wie ich dann später erfahren habe, passiert, dass die in einen Dynamo- oder Stasi-Bus gesetzt wurden, und dass sie durch Berlin gefahren wurden. Und deshalb sind sie dann eben nicht um dreiviertel neun oder neun dagewesen, sondern eben erst 'ne Dreiviertelstunde später. Das war der erste Punkt an diesem Tag, der merkwürdig war, oder keine Zufälligkeit darstellen konnte ..."
15. Januar, morgens
Ministerpräsident Modrow ist der Forderung der Oppositionsgruppen nachgekommen und erscheint erstmals am Runden Tisch. Thema sind auch die Aktenvernichtungen in den Stasi-Bezirksdienststellen.
Wolfgang Loukidis: "Und dann war es ja so, dass Modrow kam, und die Beratungen anfingen, und Modrow dann gleich zu Anfang der Beratungen sagte: Ja, wenn Akten vernichtet worden sind, dann nur mit Zustimmung der Bürgerkomitees. Und das hat mich natürlich auf die Palme gebracht, und Herr Schult räumte seinen Stuhl für mich. Also ich hätte dann, wenn die Runde rumgegangen wäre, an der Stelle reden können."
Reinhard Schult, der Organisator der für diesen Tag angekündigten Demonstration zur Stasi-Zentrale, überlässt Wolfgang Loukidis seinen Platz am Runden Tisch.
Wolfgang Loukidis: "Und da kam zuerst der Cimanowski, kam da, ja? Und fragte mich dann so leise, was mach ich denn hier auf dem Stuhl? Und ich sag: Na ja, ich will hier was sagen, und so. 'Na, was willste denn sagen?' Nun, ich will Modrow widersprechen. Wir haben keine Zustimmung zur Aktenvernichtung gegeben. 'Na, das geht nicht!' Und ... dann verschwand er. So. Und jetzt dauerte das noch eine Weile, bis ich an der Reihe gewesen wäre, und daraufhin kam dann Herr Rogge, das ist der Vertreter vom Bürgerkomitee in Rostock gewesen, und sagte: 'Also das Bürgerkomitee hat beschlossen, dass er sich an meiner Stelle hier hinsetzen soll'. Und ich natürlich treugläubig gesagt: Na gut, wenn das so beschlossen worden ist, okay, fügste dich dem Beschluss, hab ihm den Platz geräumt. Und jetzt kam er an die Reihe, und sagte dann eben halt: Ja, er könne das bestätigen, dass wenn Akten vernichtet worden sind, dann mit Zustimmung der Bürgerkomitees. Da bin ich natürlich von den Socken gefallen. Ja, ich war wie vorn Kopp geschlagen, weil ich ja nun gesagt hab, das war gerade andersrum. Nein, ich bin dann natürlich hoch in diesen Aufenthaltsraum und hab dann zu den Leuten gesagt: Kommt, macht Euren Kindergarten alleine. Und bin dann weggefahren."
Wolfgang Loukidis macht sich gegen Mittag wieder auf den Weg nach Schwerin.
"Nein, es war schon frustrierend, dass also sich Leute von den Bürgerkomitees für so was hergeben. Ja? Was ich überhaupt nicht verstanden hab. Das sind für mich auch Stasi-Methoden."
15. Januar, 12 Uhr. Berlin-Lichtenberg, Normannenstraße
Bei der Staatssicherheit ist für die meisten Mitarbeiter Dienstschluss. Reinhard Schult, der die für den Nachmittag geplante Demonstration organisiert:
"Die Stasi wusste ja, und die Mitarbeiter der Stasi, die sind ab dem Tag, 12 Uhr, entlassen worden, und nach Hause geschickt worden. Und die höheren Offiziere bildeten Einsatzgruppen, um die Archive zu schützen."
15. Januar, 13.45, Normannenstraße
Reinhard Schult ahnt nicht, dass sich bereits jetzt hochrangige Vertreter der Staatssicherheit, ein Oberstaatsanwalt und Vertreter der Bürgerkomitees im Amt treffen, um still und heimlich das Ende des Geheimdienstes zu besiegeln. Darunter auch jener Herr Rogge aus Rostock, der Wolfgang Loukidis am Vormittag vom Runden Tisch weggelockt hatte.
Martin Gutzeit: " ... und parallel gehen die Bürgerkomitees dort vor, und ich würde auch nicht allen Vertretern, die dabei saßen, nachsagen, dass sie Teil des Spiels sind, einer Inszenierung. Es sind aber welche da, die diese ganze Übernahme durch Staatsanwälte und mit Polizei dort in anderthalb Stunden über die Bühne ziehen. Das heißt also: Man hat geplant, es vor der Demo fertigzubringen, und man hat es fertiggebracht."
Eine Vorlage der AG Sicherheit des Runden Tisches zur Auflösung der Staatssicherheit wird am 15. Januar nicht mehr behandelt.
Martin Gutzeit: " ... dass es nicht behandelt wurde, hat damit zu tun, dass dann Meldungen kamen, wegen Gefahren aufgrund der Demonstration, die um 17 Uhr dort begann, und da wurde dann gesagt, es ist Gefahr von Gewalt und so weiter, deswegen wurde die Sitzung des Zentralen Runden Tisches abgebrochen, und einige Vertreter, auch ich, sind dann in die Normannenstraße gefahren. Das heißt also, es konnte dann an dem Tag gar nicht mehr behandelt werden. Was da in dieser Zeit von 13 Uhr 15 in diesen anderthalb Stunden passierte, davon wussten wir ja gar nichts! Ich denke, der Zentrale Runde Tisch hatte eine andere Legitimation als diese Bürgerkomitees, die sich dann da zum Haupthandelnden erhoben haben."
16 Uhr, Berlin-Mitte, VEB Energiekombinat
André Ohmen an seinem Arbeitsplatz. Der damals 29-jährige Aktive beim Neuen Forum will dem Aufruf folgen, Steine und Mörtel zur Demonstration mitzubringen, um die Toreinfahrten zur Stasi-Zentrale symbolisch zu vermauern.
André Ohmen: "Ich hatte so ein Gartengrundstück, und da waren halt Steine übrig, und da hab ich mir überlegt, wie kannst du das machen, und diese Demonstration fand ja dann auf den Nachmittag statt, und da hab ich dann die Steine in so 'nem, ja, ich sag mal Rentnerwagen transportiert, und 'ne Maurerkelle, und dieser Wagen stand dann in meinem Büro neben meinem Tisch, und dann praktisch nach, was weiß ich, siebzehn Uhr, bin ich dann mit meinem Wagen los, und meiner Mauerkelle, und andere Kollegen sind mir auch gefolgt, und dann sind wir halt in die Normannenstraße gefahren."
Normannenstraße, 17 Uhr
"Mit Fantasie und ohne Gewalt", steht auf dem Aufruf des neuen Forums. "Bringt Farbe und Spraydosen mit", und "Wir schließen die Tore der Stasi". Zehntausende sind gekommen. Barbara Timm, damals beim Neuen Forum und heute Referentin im Stasi-Museum, stand ganz vorne am Tor.
"Ich will mal sagen, es war Januar, also es war dann schon wirklich dunkel um siebzehn Uhr, natürlich hat man so die Masse, sag ich mal, nicht überblicken können. Der Zulauf wurde schon enorm."
Normannenstraße, 17 Uhr 30
Aus einem Dossier des DDR-Innenministeriums: "Die Eskalation der Lage war im Weiteren dadurch gekennzeichnet, das circa 300 Bauarbeiter damit begannen, den Eingang Normannenstraße zuzumauern".
Ein unbekannt gebliebener Demonstrant, der seine Erlebnisse handschriftlich festgehalten hat, schreibt hingegen:
"Wie viele dort mauerten, kann ich nicht sagen. Es waren aber keine 300, wie es in der Berliner Zeitung stand, es dürften nicht einmal 20 gewesen sein. Die Anzahl der Steine war vielleicht 300."
André Ohmen: "... und diese Mauer selber, die ist aber nicht sehr hoch geworden. Also ich würde mal sagen, es waren vielleicht vier oder fünf Steinreihen, es war halt mehr 'ne symbolische Geschichte, und dann gabs Sprechchöre, und dann auch so Sachen, die dann später durch die Medien gingen, ja, also 'Stasi raus' und solche Sachen, aber es gab eigentlich keinen Versuch jetzt eigentlich, dieses Tor zu stürmen."
Reinhard Schult: "Und da haben wir auch diese Lautsprecheranlage und diese Rednerplattform dagehabt, und als die Reden anfingen, nach zehn Minuten bis viertel Stunde, ging das Tor von innen auf. Also überraschend, ohne Not, wir hatten ja Ordner davor zu stehen, mit 'ner Schärpe, 'keine Gewalt', und das Gedränge war an dem Tor auch nicht so groß. Und dass es eingedrückt worden ist, kann man hundertprozentig ausschließen."
Warum ging das Tor auf? Bis heute ist das nicht klar. Hat es ein Mitglied der Bürgerkomitees öffnen lassen, die seit dem Nachmittag auf dem Gelände waren? Hat es ein Stasi-Mitarbeiter eigenmächtig geöffnet?
Reinhard Schult: "Das Tor ging auf, und dann splitterten schon im dritten vierten Stock die Scheiben und sind schon Sessel rausgeworfen worden. Also nach meinem Empfinden hat die Zeit nicht gereicht, dass die Demonstranten da bis in die dritte, vierte Etage hochgekommen sind, um die Verwüstungen da ... und die Scheiben einzuschlagen. Und dann haben die Demonstranten auch gebrüllt: Aufhören! Aufhören! Und: Keine Gewalt! Und da entstand insgesamt jetzt auch 'ne Unsicherheit, weil wir wollten ja auf gar keinen Fall, dass es irgendwie zu 'ner Eskalation kommt."
Reporter: "Ich habe hier zwei Leute, die sich einfach demonstrativ gemeldet haben, um ihre Meinung zu sagen, ich würde den Kai mal bitten, Kai Schirmer ist ja Mitglied des Forums, und Kai wird seine ganz private Meinung zu dieser Veranstaltung sagen, Kai, ja."
Kai: "Also ich bin sehr erschüttert über das, was hier passiert, denn als Teilnehmer der Demonstrationen am 7. und 8. Oktober im vergangenen Jahr bin ich sozusagen selbst Betroffener dieser Vorgänge damals gewesen, und ich kann mit Sicherheit sagen, dass diese Leute, die heute hier randalieren, und sich benehmen wie Vandalen, nicht dieselben sind, die damals jene Bewegung initiiert haben und die damals dafür auf die Straße gegangen sind."
Ein Ordner des Neuen Forums , um den Hals eine Schärpe mit der Aufschrift "Keine Gewalt", steht hilflos in der Menge.
Doch wer waren die Vandalen? Wer hat die Feuerlöscher in den Büros entleert, die Türen eingetreten und die Möbel aus den Fenstern geworfen? Waren die Akte inszeniert, um die Oppositionsbewegung zu diskreditieren, als gewalttätig und anarchistisch?
Stasi-Akten übrigens hat an diesem Tag kein Demonstrant gesehen. Die Staatssicherheit lenkt die auf das Gelände strömenden Demonstranten in Haus 18.
Barbara Timm: "Sie haben uns definitiv zu dem aller unwichtigsten Gebäude geleitet, kann man sagen, der Versorgungstrakt war einfach für die Versorgung der eigenen Mitarbeiter gedacht, also es befand sich ein Friseur, eine Buchhandlung, ein Reisebüro, 'ne Kantine, also es gab keine wichtigen Unterlagen. Dort konnten sich die Leute austoben, konnten sozusagen die Türen eintreten, und es ist außer materieller Schaden kein anderer Schaden entstanden. Man hat uns also wirklich vom Archiv abgehalten, denn das war ja im Prinzip genau in der anderen Richtung zu finden.
Wir haben auch einige alkoholisierte Demonstranten, die sich da unten in dem Schnapslager bedient haben, aber mit unseren Ordnern haben wir so nach anderthalb bis zwei Stunden die Leute wieder rausgekriegt aus dem Wirtschaftstrakt, ohne Gewalt anzuwenden. Also haben eingeredet, also macht keinen Scheiß, und jetzt gehen wir wieder raus, und jetzt haben wir genug gesehen, und auch die Betrunkenen haben dann auch mit gut Zureden wieder das Gebäude verlassen."
Die Demonstranten haben das Archiv nicht betreten – an diesem Tag allerdings verschwinden Akten. Aus dem internen Bericht des DDR-Innenministeriums:
"In den Bereich der Spionageabwehr wurde eingebrochen. Es ist nicht auszuschließen, dass Akten entwendet wurden. Es liegen Hinweise vor, dass nicht nur DDR-Bürger im Objekt waren".
Haben Agenten des Bundesnachrichtendienstes im Schutz der Demonstration sensible Unterlagen gestohlen? Barbara Timm fällt auf, dass im ansonsten dunklen Haus 2 – dem Sitz der Spionageabwehr – plötzlich Lichter brannten. Der unbekannte Demonstrationsteilnehmer:
"Zwei Fenster waren einen Spalt breit geöffnet. Dahinter war schemenhaft eine Person zu sehen"."
Barbara Timm: " "Dort ist ja wirklich gezielt in verschiedene Räumlichkeiten eingebrochen worden, gezielt ist nach bestimmten Karteien gesucht worden, und die sind auch gefunden worden, natürlich, und es fehlen richtig dann so Bündel ... also westliche Geheimdienste haben sich dort richtig gezielt bedient."
16. Januar, 19 Uhr 30, Deutscher Fernsehfunk
"Guten Abend meine Damen und Herren zur Aktuellen Kamera. Millionenschäden nach Besetzung der Stasi-Zentrale."
Dem Neuen Forum, den Organisatoren der Demonstration, wurden schwere Vorwürfe angelastet. Sie seien für schwere Schäden in angeblicher Millionenhöhe verantwortlich.
Barbara Timm: "Aber letztendlich, ja, die Staatssicherheit war vor Ort. Wer letztendlich da für welche Zerstörungen gesorgt hat, kann man heute nicht mehr nachvollziehen."
Bis heute wird über den 15. Januar 1990 spekuliert. Wer profitierte wovon? Wie verhält es sich mit Ursache und Wirkung?
Klaus Laabs: "Ach ich weiß nicht. Wenn ich jetzt sagen sollte, wer das da in der Stasi-Zentrale war, für mich war es dann schließlich auch ein ziemlich unpolitischer Mob. Also ich, ha, darf das Wort vielleicht gar nicht wiederholen und laut sagen, aber ich glaube nicht, dass da wirklich politisch gute Absichten hinter standen. Also ich würd' mich nicht wundern, wenn das von Geheimdiensten organisiert war. Und das hat den Gedanken bei mir verstärkt auch, dass das im Januar 1990, das war schon längst alles in den Händen, wo sowas hingehört. Von Amts wegen ..."
15. Januar 1990: Fragen über Fragen
"War dies alles Zufall?", resümiert der unbekannte Demonstrant in seinem Erlebnisbericht. Fest steht einzig, dass am 15. Januar 1990 das endgültige Ende der DDR-Staatssicherheit eingeläutet wird.
Martin Gutzeit: ": "Das im Einzelnen, ob das spontan ist, oder nicht spontan ist, und so weiter und so fort, ist im Nachhinein nicht zu rekonstruieren ...""
Programmhinweis:
In der Sendung "Im Gespräch" im Deutschlandradio Kultur erinnern am Samstag, 16. Januar ab 9.05 Roland Jahn, ehemaliger DDR-Bürgerrechtler und Journalist, und David Gill, ehemaliger Koordinator des Bürgerkomitees zur Auflösung des Staatssicherheitsdienstes, an die Erstürmung der Stasi-Zentrale. Hörer können sich beteiligen unter der kostenfreien Telefonnummer 0800 - 2254 2254 oder per E-Mail an gespraech@dradio.de.