"Es gibt einen bedeutenden Aufschwung des Anarchismus"
Die Anhänger des Anarchismus, die sich derzeit in der Schweiz treffen, haben einen schlechten Ruf: Sie gelten als gewaltbereite Chaoten. Dabei hätten heutige soziale Bewegungen viel von dieser politischen Strömung übernommen, meint der Schriftsteller Gabriel Kuhn.
Dieter Kassel: Vor 140 Jahren fand in Saint-Imier, im Schweizer Jura, ein Treffen von Anarchisten statt, auf dem die erste antiautoritäre Internationale gegründet wurde. Und seit gestern findet an diesem historischen Ort wieder ein internationales Anarchistentreffen statt, mehrere Tausend Teilnehmer sind da. Das ist relativ relevant, denn dieser Ort hat ganze 5000 Einwohner normalerweise, und dementsprechend laut ist es da auch.
Das werden wir gleich hören, denn wir sprechen jetzt mit Gabriel Kuhn. Er ist Autor und Übersetzer, kommt eigentlich aus Tirol, lebt seit einer Weile in Stockholm, ist selber Anarchist, hat über verschiedene anarchistische Bücher geschrieben und ist natürlich in Saint-Imier dabei. Schönen guten Tag, Herr Kuhn!
Gabriel Kuhn: Guten Tag!
Kassel: 140 Jahre ist jetzt noch gar keine so unglaublich runde Zahl, also kann es ja das Jubiläum an sich nicht sein. Warum ausgerechnet jetzt wieder so ein großes Anarchistentreffen? Ist die Zeit reif für ein Wiedererstarken des Anarchismus?
Kuhn: Ja, es ist, glaube ich, tatsächlich so, dass jetzt dieses 140-jährige Jubiläum unter anderem deshalb zur Organisation dieses großen Treffens verwendet worden ist, weil es in den letzten, ich würde sagen, zehn, 15 Jahren doch einen bedeutenden Aufschwung des Anarchismus wieder gegeben hat, der wohl auch die Leute dazu motiviert hat, dieses Treffen zu veranstalten, was ja doch sehr viel an Arbeit bedarf. Es sind, wie gesagt, sehr viele Leute hier, aus allen möglichen Erdteilen, also ja, da steckt schon einiges an Einsatz dahinter.
Kassel: Dieses, wenn ich es mal so nennen darf, Wiedererstarken des Anarchismus, woran merkt man das konkret in Österreich oder Deutschland?
Kuhn: Na ja, also am konkretesten wohl würden wir es daran merken, dass die Zahl der anarchistischen Veranstaltungen, anarchistischen Festivals, anarchistischen Camps, anarchistischen Projekten, aber vor allen Dingen auch anarchistischen Publikationen einfach extrem gewachsen ist. Also wir sprechen da zumindest von einer Verdopplung oder mehr seit den 1990er-Jahren, also das ist der augenscheinlichste Eindruck.
Kassel: Hat denn Anarchismus irgendeinen konkreten politischen Einfluss heutzutage?
Kuhn: Ja, das ist eine gute Frage, also was man darunter konkret versteht. Also die sich explizit als anarchistische Bewegung bezeichnenden Projekte sind natürlich gesamtgesellschaftlich nach wie vor marginal. Was allerdings eine andere Frage ist, wie sehr bestimmte Ideen und Praktiken, die in diesen Kreisen vertreten werden, dann gesamtgesellschaftlich ausstrahlen, sodass man eben da Einflüsse ausmachen kann, wenn man weiß, wo die herkommen, die andere Menschen nicht unbedingt als anarchistisch wahrnehmen würden. Und dafür, glaube ich, gibt es tatsächlich eine Reihe von Beispielen.
Also wenn man sich die Organisationsstrukturen vieler sozialer Bewegungen heute anschaut, die sich eben nicht als anarchistisch bezeichnen, also solche Sachen wie Basisdemokratie oder eine gewisse Skepsis politischer Repräsentanten gegenüber oder dieser Impetus, dass wenn es ein Problem gibt, so geht man das lieber selber an und man verlässt sich nicht auf irgendwelche Parteien oder andere Organisationen, das für einen zu machen. Das ist schon sehr weit verbreitet und hat seinen Ursprung im Anarchismus.
Kassel: Sind so gesehen auch zumindest teilweise die sogenannten Wutbürger Anarchisten?
Kuhn: Hm, das ist eine gute Frage. Also erstens Mal ist das natürlich ein sehr schwieriger Begriff, dieser Begriff der Wutbürger, und es fallen sehr viele verschiedene Leute darunter. Es gibt allerdings wohl ... allein diese Geste des Protestes, dass sich Menschen gegen Autorität und auch wieder, also so das Verlangen, selbst was zu ändern, die Veränderung in die eigene Hand zu nehmen, das sind Elemente, die man als anarchistische Elemente, wenn man so will, die man auch dort spüren kann.
Kassel: Mir fällt da auch ein völlig unpolitisches Beispiel ein: Wenn man in irgendeine moderne Internetfirma geht, wo es im Grunde genommen keine Hierarchien mehr gibt, oder zumindest wird das gerne behauptet, und der Chef wird geduzt und flitzt auf dem gleichen Bürostuhl durchs Großraumbüro wie der Praktikant - ist das im weitesten Sinne auch ein anarchistisches Erbe?
Kuhn: Zum Teil ist es so… Die meisten Anarchisten wären auf dieses Erbe nicht wahnsinnig stolz, weil da bestimmte Eigenschaften, die durchaus auch in anarchistischen Kreisen gefördert worden sind, dann, wenn man es jetzt einfach so zusammenfassen will, kapitalistisch verwertet werden. Aber dieses Phänomen gibt es absolut. Also so bestimmte Sachen, die viele Firmen, erfolgreiche Firmen heute für sich entdeckt haben, Prinzipien wie Eigenverantwortung, Kreativität, Improvisationsfähigkeit, gleichzeitig aber doch auch Fähigkeit zu Kooperation, vor allen Dingen, wie Sie das angesprochen haben, auf dieser sogenannten horizontalen Ebene, also die Grenzen zwischen den Chefs und den Angestellten verschwimmen irgendwie so, zumindest oberflächlich - das sind durchaus auch Einflüsse, die aus antiautoritären anarchistischen Kreisen kommen. Wie gesagt, es sind nicht die Einflüsse, die diese Leute unbedingt wünschen, aber es kann als Beispiel gelten.
Kassel: Aber sind denn Anarchisten zwangsläufig Antikapitalisten? Ich meine, Kommunisten sind es ja umgekehrt durchaus auch nicht, denn vor 140 Jahren wurde ja da, wo Sie gerade sind, diese antiautoritäre Internationale unter anderem auch als Alternative zur kommunistischen Internationalen gegründet. Also es sind keine Kommunisten, sind es unbedingt Antikapitalisten?
Kuhn: Ja, also wobei das damals schon auf der Basis dessen geschehen ist, dass man die sozialistischen Werte geteilt hat. Woran sich das wirklich gespalten hat, ganz einfach gesagt, war die Antiautorität. Also Anarchisten haben ja damals die Vorstellung schon nicht geteilt, dass es eine Partei braucht, die die Revolution vorantreibt und durchführt, man hat sich gegen Vorstellungen einer Diktatur des Proletariats gewandt, man hat sich aber nicht von den sozialistischen und antikapitalistischen Grundsätzen abgewandt. Also die Ursprünge des Anarchismus, vor allen Dingen auch dieser Bewegung, die sich hier trifft, sind klar antikapitalistisch.
Jetzt hat es im Laufe dieser 140-jährigen Geschichte des Anarchismus alle möglichen Strömungen gegeben, es gibt auch den sogenannten Anarchokapitalismus oder wie auch immer… Ich aber zum Beispiel, also in meinen Büchern, behandle ich den Anarchokapitalismus nicht, weil das meines Erachtens nach eine Strömung ist, die sich irgendwie da an den Rändern der Bewegung entwickelt hat und zum Teil eigentlich mit dem überhaupt nichts zu tun, aber sicher diesen Begriff irgendwie aufgegriffen hat, aber wirklich so weit von den Ursprüngen und auch von zum Beispiel einem Treffen wie hier in Saint-Imier, dass das eigentlich ein anderes Phänomen ist.
Kassel: Was nicht unbedingt heißt, dass Sie sich nicht mit Themen beschäftigen, die der Laie vielleicht als nicht sehr naheliegend empfinden würde. Ich weiß, dass sie auf diesem Treffen auch reden, Sie ganz persönlich, über Anarchismus und Sport. Fiele mir erst mal gar nichts zu ein. Was werden Sie den Leuten da erzählen?
Kuhn: Ja, also erstens Mal mache ich gern solche Veranstaltungen, weil sie also auch in anarchistischen Kreisen nicht unbedingt das sind, was erwartet wird. Also während man sehr viel drüber redet, wie in einer anarchistischen Gesellschaft die Ökonomie organisiert werden soll oder politische Entscheidungsfindung oder auch kulturelle Aspekte, spricht man sehr wenig über Sport, was aber gleichzeitig einen sehr großen Teil des menschlichen Lebens und der Gesellschaft ausmacht. Also einfach das zu thematisieren, ist wichtig, und das, was mir aber dann vor allen Dingen auch noch wichtig ist, ist, dass ich schon der Meinung bin, dass man im Ausüben des Sportes also auch bestimmte Werte vorantreiben kann, die für eine anarchistische Gesellschaft durchaus wichtig sind.
Also es gibt im Sport … das hat etwas Gemeinschaftstiftendes, es ist ein ausgezeichnetes Kommunikationsmittel, also Fußball als universale Sprache, das ist ein bisschen ein Klischee, stimmt aber durchaus. Also man kann sein, wo man will, und kann Fußball spielen, selbst wenn man die Sprache der Menschen, mit denen man da zusammen ist, nicht versteht, aber das geht wunderbar. Es hat einen sozialen Lernprozess, also vor allen Dingen in Mannschaftssportarten. Natürlich muss man da Kooperation und Respekt lernen, aber auch nicht nur für die eigenen Mitspieler, sondern auch die Gegner. Also so Prinzipien wie Fairness sind doch sehr stark eigentlich ursprünglich im Sport, zumindest im Amateursport verankert, die entsprechen ja eigentlich allen anarchistischen Werten. Insofern, finde ich, kann man da auch sehr konkrete praktische und auch lustigerweise viel für den Anarchismus lernen.
Kassel: Wir reden heute Nachmittag hier im Deutschlandradio Kultur mit dem österreichischen Autor, Übersetzer und vor allem auch Anarchisten Gabriel Kuhn. Er ist auf dem Anarchistentreffen in Saint-Imier in der Schweiz, und Herr Kuhn, nicht alle Menschen denken bei Anarchisten sofort an friedliche Dinge wie zum Beispiel Sport, manche denken auch eher an gewaltbereite Chaoten oder gar an den schwarzen Block. Sind das eigentlich Anarchisten?
Kuhn: Na ja, das kommt drauf an. Also dieser Begriff des Chaotentums ist ganz was eigenes, den lasse ich jetzt mal auf der Seite. Das mit dem schwarzen Block ... Also in den schwarzen Blöcken findet man Menschen, die wohl alle möglichen unterschiedlichen politischen Hintergründe haben. Da gibt es sicherlich auch Leute, die sich als Anarchisten bezeichnen, genauso wie es eine Reihe von Anarchisten gibt, die sich sehr kritisch solchen Taktiken gegenüber äußern. Also die anarchistische Bewegung ist dort sehr vielfältig.
Ich glaube, das, was … da leidet sozusagen der Anarchismus unter einem Phänomen, das halt ein Phänomen ist, das für die Medien oft allgemein charakteristisch ist. Wenn es irgendwo einen schwarzen Block gibt und irgendwas zerschlagen wird, dann wird halt drüber berichtet, und dann ist halt auch heute noch sehr schnell diese Assoziation zwischen Anarchismus und Chaotentum und so weiter da, der auch ein alter ist. Da kann man sich auch Zeitungsberichte vom Ende des 19. Jahrhunderts anschauen, da schaut es auch nicht anders aus.
Aber so diese alltägliche Arbeit, die der absolut größte Teil von Anarchisten machen, also keine Ahnung, das Gestalten einer Infrastruktur, von Bibliotheken, das Organisieren eines Festivals, eines Treffens hier, das Kochen für alle und so weiter, das taucht halt medial nicht auf. Dadurch ist das mediale Bild des Anarchismus natürlich sehr schief.
Kassel: Dann muss ich Sie natürlich, wo wir jetzt gerade so ein bisschen uns in der Klischeefalle bewegen, fragen, bei so einem Treffen wie in Saint-Imier, ist es denn da so, wie ich mir das vorstelle, dass jetzt so im 14:19 Uhr die Ersten gerade mal aufstehen und überall stehen schmutzige Kaffeetassen rum?
Kuhn: Nein, das ist nicht so. Seit neun in der Früh wird da heftig diskutiert überall. Es kann jetzt sein, dass manche Leute hier erst spät aufstehen, aber ich glaube, wenn Sie in irgendein Dorf gehen mit 3000 Leuten, gibt es auch ein paar, die erst um zwei am Nachmittag aufstehen. Also da, glaube ich, ist das nicht so anders. Aber nein, nein, also das ist alles - ich bin, glaube ich, um acht in der Früh mit der Bahn hier runtergefahren ins Dorf.
Kassel: Dann danke ich Ihnen sehr, dass Sie auch Zeit für uns hatten. Gabriel Kuhn war das. Er ist in Schweden lebender österreichischer Autor und Übersetzer und einer der Teilnehmer beim Anarchistentreffen 2012 in Saint-Imier in der Schweiz. Danke Ihnen sehr für das Gespräch und wünsche Ihnen noch anregende Tage!
Kuhn: Ja, vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Gabriel Kuhn: Guten Tag!
Kassel: 140 Jahre ist jetzt noch gar keine so unglaublich runde Zahl, also kann es ja das Jubiläum an sich nicht sein. Warum ausgerechnet jetzt wieder so ein großes Anarchistentreffen? Ist die Zeit reif für ein Wiedererstarken des Anarchismus?
Kuhn: Ja, es ist, glaube ich, tatsächlich so, dass jetzt dieses 140-jährige Jubiläum unter anderem deshalb zur Organisation dieses großen Treffens verwendet worden ist, weil es in den letzten, ich würde sagen, zehn, 15 Jahren doch einen bedeutenden Aufschwung des Anarchismus wieder gegeben hat, der wohl auch die Leute dazu motiviert hat, dieses Treffen zu veranstalten, was ja doch sehr viel an Arbeit bedarf. Es sind, wie gesagt, sehr viele Leute hier, aus allen möglichen Erdteilen, also ja, da steckt schon einiges an Einsatz dahinter.
Kassel: Dieses, wenn ich es mal so nennen darf, Wiedererstarken des Anarchismus, woran merkt man das konkret in Österreich oder Deutschland?
Kuhn: Na ja, also am konkretesten wohl würden wir es daran merken, dass die Zahl der anarchistischen Veranstaltungen, anarchistischen Festivals, anarchistischen Camps, anarchistischen Projekten, aber vor allen Dingen auch anarchistischen Publikationen einfach extrem gewachsen ist. Also wir sprechen da zumindest von einer Verdopplung oder mehr seit den 1990er-Jahren, also das ist der augenscheinlichste Eindruck.
Kassel: Hat denn Anarchismus irgendeinen konkreten politischen Einfluss heutzutage?
Kuhn: Ja, das ist eine gute Frage, also was man darunter konkret versteht. Also die sich explizit als anarchistische Bewegung bezeichnenden Projekte sind natürlich gesamtgesellschaftlich nach wie vor marginal. Was allerdings eine andere Frage ist, wie sehr bestimmte Ideen und Praktiken, die in diesen Kreisen vertreten werden, dann gesamtgesellschaftlich ausstrahlen, sodass man eben da Einflüsse ausmachen kann, wenn man weiß, wo die herkommen, die andere Menschen nicht unbedingt als anarchistisch wahrnehmen würden. Und dafür, glaube ich, gibt es tatsächlich eine Reihe von Beispielen.
Also wenn man sich die Organisationsstrukturen vieler sozialer Bewegungen heute anschaut, die sich eben nicht als anarchistisch bezeichnen, also solche Sachen wie Basisdemokratie oder eine gewisse Skepsis politischer Repräsentanten gegenüber oder dieser Impetus, dass wenn es ein Problem gibt, so geht man das lieber selber an und man verlässt sich nicht auf irgendwelche Parteien oder andere Organisationen, das für einen zu machen. Das ist schon sehr weit verbreitet und hat seinen Ursprung im Anarchismus.
Kassel: Sind so gesehen auch zumindest teilweise die sogenannten Wutbürger Anarchisten?
Kuhn: Hm, das ist eine gute Frage. Also erstens Mal ist das natürlich ein sehr schwieriger Begriff, dieser Begriff der Wutbürger, und es fallen sehr viele verschiedene Leute darunter. Es gibt allerdings wohl ... allein diese Geste des Protestes, dass sich Menschen gegen Autorität und auch wieder, also so das Verlangen, selbst was zu ändern, die Veränderung in die eigene Hand zu nehmen, das sind Elemente, die man als anarchistische Elemente, wenn man so will, die man auch dort spüren kann.
Kassel: Mir fällt da auch ein völlig unpolitisches Beispiel ein: Wenn man in irgendeine moderne Internetfirma geht, wo es im Grunde genommen keine Hierarchien mehr gibt, oder zumindest wird das gerne behauptet, und der Chef wird geduzt und flitzt auf dem gleichen Bürostuhl durchs Großraumbüro wie der Praktikant - ist das im weitesten Sinne auch ein anarchistisches Erbe?
Kuhn: Zum Teil ist es so… Die meisten Anarchisten wären auf dieses Erbe nicht wahnsinnig stolz, weil da bestimmte Eigenschaften, die durchaus auch in anarchistischen Kreisen gefördert worden sind, dann, wenn man es jetzt einfach so zusammenfassen will, kapitalistisch verwertet werden. Aber dieses Phänomen gibt es absolut. Also so bestimmte Sachen, die viele Firmen, erfolgreiche Firmen heute für sich entdeckt haben, Prinzipien wie Eigenverantwortung, Kreativität, Improvisationsfähigkeit, gleichzeitig aber doch auch Fähigkeit zu Kooperation, vor allen Dingen, wie Sie das angesprochen haben, auf dieser sogenannten horizontalen Ebene, also die Grenzen zwischen den Chefs und den Angestellten verschwimmen irgendwie so, zumindest oberflächlich - das sind durchaus auch Einflüsse, die aus antiautoritären anarchistischen Kreisen kommen. Wie gesagt, es sind nicht die Einflüsse, die diese Leute unbedingt wünschen, aber es kann als Beispiel gelten.
Kassel: Aber sind denn Anarchisten zwangsläufig Antikapitalisten? Ich meine, Kommunisten sind es ja umgekehrt durchaus auch nicht, denn vor 140 Jahren wurde ja da, wo Sie gerade sind, diese antiautoritäre Internationale unter anderem auch als Alternative zur kommunistischen Internationalen gegründet. Also es sind keine Kommunisten, sind es unbedingt Antikapitalisten?
Kuhn: Ja, also wobei das damals schon auf der Basis dessen geschehen ist, dass man die sozialistischen Werte geteilt hat. Woran sich das wirklich gespalten hat, ganz einfach gesagt, war die Antiautorität. Also Anarchisten haben ja damals die Vorstellung schon nicht geteilt, dass es eine Partei braucht, die die Revolution vorantreibt und durchführt, man hat sich gegen Vorstellungen einer Diktatur des Proletariats gewandt, man hat sich aber nicht von den sozialistischen und antikapitalistischen Grundsätzen abgewandt. Also die Ursprünge des Anarchismus, vor allen Dingen auch dieser Bewegung, die sich hier trifft, sind klar antikapitalistisch.
Jetzt hat es im Laufe dieser 140-jährigen Geschichte des Anarchismus alle möglichen Strömungen gegeben, es gibt auch den sogenannten Anarchokapitalismus oder wie auch immer… Ich aber zum Beispiel, also in meinen Büchern, behandle ich den Anarchokapitalismus nicht, weil das meines Erachtens nach eine Strömung ist, die sich irgendwie da an den Rändern der Bewegung entwickelt hat und zum Teil eigentlich mit dem überhaupt nichts zu tun, aber sicher diesen Begriff irgendwie aufgegriffen hat, aber wirklich so weit von den Ursprüngen und auch von zum Beispiel einem Treffen wie hier in Saint-Imier, dass das eigentlich ein anderes Phänomen ist.
Kassel: Was nicht unbedingt heißt, dass Sie sich nicht mit Themen beschäftigen, die der Laie vielleicht als nicht sehr naheliegend empfinden würde. Ich weiß, dass sie auf diesem Treffen auch reden, Sie ganz persönlich, über Anarchismus und Sport. Fiele mir erst mal gar nichts zu ein. Was werden Sie den Leuten da erzählen?
Kuhn: Ja, also erstens Mal mache ich gern solche Veranstaltungen, weil sie also auch in anarchistischen Kreisen nicht unbedingt das sind, was erwartet wird. Also während man sehr viel drüber redet, wie in einer anarchistischen Gesellschaft die Ökonomie organisiert werden soll oder politische Entscheidungsfindung oder auch kulturelle Aspekte, spricht man sehr wenig über Sport, was aber gleichzeitig einen sehr großen Teil des menschlichen Lebens und der Gesellschaft ausmacht. Also einfach das zu thematisieren, ist wichtig, und das, was mir aber dann vor allen Dingen auch noch wichtig ist, ist, dass ich schon der Meinung bin, dass man im Ausüben des Sportes also auch bestimmte Werte vorantreiben kann, die für eine anarchistische Gesellschaft durchaus wichtig sind.
Also es gibt im Sport … das hat etwas Gemeinschaftstiftendes, es ist ein ausgezeichnetes Kommunikationsmittel, also Fußball als universale Sprache, das ist ein bisschen ein Klischee, stimmt aber durchaus. Also man kann sein, wo man will, und kann Fußball spielen, selbst wenn man die Sprache der Menschen, mit denen man da zusammen ist, nicht versteht, aber das geht wunderbar. Es hat einen sozialen Lernprozess, also vor allen Dingen in Mannschaftssportarten. Natürlich muss man da Kooperation und Respekt lernen, aber auch nicht nur für die eigenen Mitspieler, sondern auch die Gegner. Also so Prinzipien wie Fairness sind doch sehr stark eigentlich ursprünglich im Sport, zumindest im Amateursport verankert, die entsprechen ja eigentlich allen anarchistischen Werten. Insofern, finde ich, kann man da auch sehr konkrete praktische und auch lustigerweise viel für den Anarchismus lernen.
Kassel: Wir reden heute Nachmittag hier im Deutschlandradio Kultur mit dem österreichischen Autor, Übersetzer und vor allem auch Anarchisten Gabriel Kuhn. Er ist auf dem Anarchistentreffen in Saint-Imier in der Schweiz, und Herr Kuhn, nicht alle Menschen denken bei Anarchisten sofort an friedliche Dinge wie zum Beispiel Sport, manche denken auch eher an gewaltbereite Chaoten oder gar an den schwarzen Block. Sind das eigentlich Anarchisten?
Kuhn: Na ja, das kommt drauf an. Also dieser Begriff des Chaotentums ist ganz was eigenes, den lasse ich jetzt mal auf der Seite. Das mit dem schwarzen Block ... Also in den schwarzen Blöcken findet man Menschen, die wohl alle möglichen unterschiedlichen politischen Hintergründe haben. Da gibt es sicherlich auch Leute, die sich als Anarchisten bezeichnen, genauso wie es eine Reihe von Anarchisten gibt, die sich sehr kritisch solchen Taktiken gegenüber äußern. Also die anarchistische Bewegung ist dort sehr vielfältig.
Ich glaube, das, was … da leidet sozusagen der Anarchismus unter einem Phänomen, das halt ein Phänomen ist, das für die Medien oft allgemein charakteristisch ist. Wenn es irgendwo einen schwarzen Block gibt und irgendwas zerschlagen wird, dann wird halt drüber berichtet, und dann ist halt auch heute noch sehr schnell diese Assoziation zwischen Anarchismus und Chaotentum und so weiter da, der auch ein alter ist. Da kann man sich auch Zeitungsberichte vom Ende des 19. Jahrhunderts anschauen, da schaut es auch nicht anders aus.
Aber so diese alltägliche Arbeit, die der absolut größte Teil von Anarchisten machen, also keine Ahnung, das Gestalten einer Infrastruktur, von Bibliotheken, das Organisieren eines Festivals, eines Treffens hier, das Kochen für alle und so weiter, das taucht halt medial nicht auf. Dadurch ist das mediale Bild des Anarchismus natürlich sehr schief.
Kassel: Dann muss ich Sie natürlich, wo wir jetzt gerade so ein bisschen uns in der Klischeefalle bewegen, fragen, bei so einem Treffen wie in Saint-Imier, ist es denn da so, wie ich mir das vorstelle, dass jetzt so im 14:19 Uhr die Ersten gerade mal aufstehen und überall stehen schmutzige Kaffeetassen rum?
Kuhn: Nein, das ist nicht so. Seit neun in der Früh wird da heftig diskutiert überall. Es kann jetzt sein, dass manche Leute hier erst spät aufstehen, aber ich glaube, wenn Sie in irgendein Dorf gehen mit 3000 Leuten, gibt es auch ein paar, die erst um zwei am Nachmittag aufstehen. Also da, glaube ich, ist das nicht so anders. Aber nein, nein, also das ist alles - ich bin, glaube ich, um acht in der Früh mit der Bahn hier runtergefahren ins Dorf.
Kassel: Dann danke ich Ihnen sehr, dass Sie auch Zeit für uns hatten. Gabriel Kuhn war das. Er ist in Schweden lebender österreichischer Autor und Übersetzer und einer der Teilnehmer beim Anarchistentreffen 2012 in Saint-Imier in der Schweiz. Danke Ihnen sehr für das Gespräch und wünsche Ihnen noch anregende Tage!
Kuhn: Ja, vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Die Liebe als revolutionärer Faktor
Weltanarchistentreffen in der Schweiz (DLF)