"Es gibt heute noch Kinder, die mit Autoritäten kämpfen müssen"

Christine Nöstlinger im Gespräch mit Jürgen König |
Die Schriftstellerin Christine Nöstlinger gilt als eine Altmeisterin der Kinderliteratur. Im Gespräch mit unserem Sender erklärte sie, was die Kinder in ihrem neuen Buch "Pudding-Pauli rührt um" von den Kindern aus den Siebziger- und Achtzigerjahren unterscheidet.
Jürgen König: Es gibt ein neues Buch von Christine Nöstlinger, "Pudding-Pauli rührt um" heißt es, und Frau Nöstlinger begrüße ich jetzt in einem Studio des ORF in Wien. Frau Nöstlinger, ich freue mich sehr, dass Sie für uns Zeit haben, guten Tag!

Christine Nöstlinger: Schönen guten Tag, ich freue mich auch.

König: Es gibt keine genauen Zahlen, ich habe in einem "Zeit"-Artikel gelesen, Sie sollen über 100 Bücher geschrieben haben. Wissen Sie, das wievielte Buch dieses ist, "Pudding-Pauli rührt um"?

Nöstlinger: Nein, das weiß ich nicht. Es werden so 150 ungefähr sein. Aber das klingt viel mehr, als es wirklich ist.

König: Na, 150 Bücher sind 150 Bücher.

Nöstlinger: Ja, aber das sind viele für Leseanfänger dabei, diese "Franz"-Bücher und die "Mini"-Bücher, und da hat ein Buch, wenn man es auf DIN-A4-Seiten normal drucken würde, hat der Text nicht mehr als vier Seiten.

König: Bescheidenheit ist eine Zier. Frau Nöstlinger, Ihre ersten Kinderbücher schrieben Sie ganz im Zeichen der damals noch recht neuen Erkenntnis, dass Kinder ernst zu nehmende, freie Menschen sind, nehmen wir nur das berühmte Buch "Wir pfeifen auf den Gurkenkönig". In sehr vielen Ihrer Bücher mussten sich die Kinder mit autoritären Erwachsenen auseinandersetzen.

Ihr neuer Roman "Pudding-Pauli", er kann viel besser kochen als seine alleinerziehende Mutter, die auch ständig auf der Arbeit ist, und also bekocht sich Pudding-Pauli selbst, sich und seine Freunde nach der Schule. In den Hort will er nicht mehr gehen, deshalb kocht er wunderbare Gerichte. Nebenbei klärt er den Diebstahl eines Goldherzens auf. Was unterscheidet Pudding-Pauli und seine Welt von den Kindern, die Sie in den, sagen wir, Siebziger-, Achtzigererjahren beschrieben haben?

Nöstlinger: Kinder sind ja bitte nicht gleich. Es gibt heute noch Kinder, die mit Autoritäten kämpfen müssen oder gegen Autoritäten gar nicht kämpfen können, weil die Autoritäten zu stark sind. Und es gibt in gewissen Schichten Kinder, die dieser elterlichen Autorität nicht mehr ausgesetzt sind.

König: Lassen Sie uns mal kurz zurückschauen. Wie sah damals, sagen wir in den Siebzigerjahren, Ihre Idealvorstellung vom Umgang der Eltern mit ihren Kindern aus? Welche Veränderungen in der Gesellschaft haben Sie sich davon damals erhofft? Sie lachen, warum?

Nöstlinger: Weil ich mir sehr viel erhoffte, was nicht eingetreten ist.

König: Zum Beispiel?

Nöstlinger: Na ja, eine Gesellschaftsveränderung zum Guten hin, das Gute war also ziemlich weit links angesiedelt. Von Autorität, von Erwachsenen wollten wir überhaupt nichts wissen. Wir waren natürlich trotzdem für unsere Kinder Autoritäten, und ohne sozusagen Autorität, die Vorbild ist, an dem Sie Kinder orientieren können, geht es ja nicht, wenn man ein sehr junger Mensch ist. Da braucht man jemanden, an dem man sich orientieren kann. Das haben wir damals nicht so ganz kapiert. Ich habe es dann an meiner jüngeren Tochter kapiert, wie die einmal wütend vor mir stand, mir irgendwas entgegengeschleudert hat - ich glaube, ihre Schultasche - und geschrien hat: Ich möchte endlich einen, der mir sagt, was ich tun soll! Da habe ich mir dann schon gedacht, hoppla, irgendwas läuft da schief.

König: Und heute werden Bücher wie "Das Lob der Disziplin" von Bernhard Bueb oder "Warum unsere Kinder Tyrannen werden" von Michael Winterhoff in Deutschland zu Bestsellern. Wie denken Sie über diese Entwicklung?

Nöstlinger: Also ich kenne nur Ersteres, aber das ist ja völlig lächerlich. Das ist eine schlechte Entwicklung, aber ich glaube auch nicht, dass er der Mainstream in der Behandlung von Kindern ist.

König: Ich weiß ja, dass Sie das Wort Erziehung nicht mögen, Sie haben immer lieber von Begleitung der Kinder gesprochen. Wie würden Sie heute Ihre Haltung zu dieser Erziehung oder Begleitung definieren, im Vergleich zu früher?

Nöstlinger: Also ich glaube, ich habe eigentlich meine Ansichten in den letzten 20, 25 Jahren nicht viel geändert. Ich bin immer noch für Begleitung, und erziehen, es liegt mir nicht. Ich konnte nie einen Menschen, egal ob er Kind war oder Erwachsener, zum Beispiel strafen.

König: Aber dieses Wort Ihrer Tochter, die da sagte, ich will endlich jemanden haben, der mir sagt, was ich machen soll oder was zu tun ist, das hat Ihnen damals schon zu denken gegeben?

Nöstlinger: Na ja, ich bin auch gerne bereit, wenn es angenommen wird, jedem Menschen zu sagen, was ich meine, dass er tun sollte, wenn er in Schwierigkeiten gerät. Aber ich sprach ja jetzt von Strafen. Ich kann niemanden bestrafen, das kann ich nicht. Ich finde, dazu hat kein Mensch ein Recht.

König: Kommen wir mal auf den schriftstellerischen Alltag. In den 70er-Jahren haben Kinder völlig anders gesprochen als heutzutage. Wie folgen Sie dieser Entwicklung, wie finden Sie immer wieder diesen neuen Ton, auf den die Kinder, jeweils dann ja immer wieder auch ansprechen, anspringen?

Nöstlinger: Wenn man Jugendsprache zum Beispiel schreiben wollte, die ändert sich so schnell, dass gewisse Ausdrücke, die Jugendliche im Jahr, sagen wir 2007 benutzen, 2009, wenn das Buch dann endlich erscheint, längst der Schnee von gestern sind. Ich will mich auch an Jugendliche nicht so hundertprozentig anbiedern und ihnen nach dem Maul reden. Ich mag Sprache, und vor allem witzige Sprache. Und es gibt in der Jugendsprache schon sehr viele Ausdrücke, die mir unheimlich gut gefallen.

König: Ihre Bücher spielen immer in Familien mit allen Problemen, die dazu gehörten, sehr viele Fantasiefiguren treten hinzu, Traumfiguren, die dann den Gang der Handlung verändern können. Heute sind es vor allem solche Kinder- und Jugendbücher, die sehr beliebt sind, also Fantasy-Romane, zum Beispiel um Harry Potter oder jetzt die Vampir-Reihe der Stephenie Meyer, deren jüngster Band "Bis(s) zum Ende" nachgerade am Wochenende erschienen ist. Was halten Sie von diesen Büchern?

Nöstlinger: Sie müssen Jugendliche und Kinder anscheinend faszinieren, sonst würden sie ja nicht so heftig gelesen werden. Mir liegt das nicht. Ich habe zwar, hoffe ich, eine ganze Menge Fantasie und eben auch Fantasiegestalten erfunden, die sind aber immer sehr verknüpft mit dem richtigen, wirklichen Leben und dienen immer, um etwas in diesem Leben zu zeigen oder zu demonstrieren. Fantasy mag ich nicht so. Was weiß ich, vor 30 Jahren, wie alle Erwachsenen vom "Herrn der Ringe" geschwärmt haben, ich bin an dem Buch verzweifelt und habe es nie fertig gelesen. Es ist nicht meins.

König: Also Sie sehen darin jetzt auch keine Herausforderung für sich, sich thematisch oder auch stilistisch zu verändern, neue künstlerische Wege zu gehen?

Nöstlinger: Nein, um Himmels Willen. Ich schreibe ja nicht in dem Sinn so trivial, dass ich das schreibe, was unbedingt meine Leser gern hätten. Ich freue mich zwar sehr, wenn die gern lesen, was ich schreibe, aber nach ihnen richte ich mich nicht.

König: Frau Nöstlinger, Sie haben jetzt so viele Bücher geschrieben, sind seit Jahrzehnten in ganz, ganz vielen Kinderzimmern, wenn ich so sagen darf, ein ständiger Gast. Haben Sie für sich das Gefühl, irgendwie Großes bewirkt zu haben in der geistigen Erziehung Österreichs, Deutschlands, der ganzen Welt?

Nöstlinger: Das kann ich nicht beurteilen.

König: Ich fragte ja auch, ob Sie für sich so das Gefühl haben?

Nöstlinger: Ob das groß ist, wage ich zu bezweifeln, aber es freut mich also schon sehr, wenn mir Mütter erklären, dass sie Kinder haben, die vorher nicht gelesen haben, aber anhand meiner Bücher zu Lesern wurden. Oder wenn ich von Lehrern also an Hauptschulen höre, dass die Kinder eigentlich nur dazu zu bewegen sind, irgendein witziges Buch von mir zu lesen, da bin ich schon irgendwie stolz drauf. Aber Großes ist das natürlich nicht. Sagen wir, das sind flankierende Maßnahmen zur Bewusstseinsänderung.

König: Wann schreiben Sie?

Nöstlinger: Früher habe ich eigentlich immer geschrieben. Da habe ich sogar mehrere Dinge auf einmal geschrieben, da war ich ein richtiger Workaholic. Da hatte ich in meiner Wohnung drei Schreibtische und auf jedem lag ein anderes Projekt. Also auf einem zum Beispiel ein Kinderbuch, am zweiten mein täglicher Artikel für die Zeitung und am dritten ein Drehbuch für einen Film. Wahrscheinlich bin ich auf eine 80-, 90-Stunden-Woche gekommen.

König: Und heute begnügen Sie sich mit einer 70-Stunden-Woche?

Nöstlinger: Nein, nein, nein, ich arbeite viel weniger. Und ich gestatte mir auch Tage, wo ich gar nicht arbeite. Manchmal schleiche ich um meinen Computer herum, als ob er mein Feind wäre. Und inzwischen habe ich schon beschlossen, wenn ich nicht will, dann will ich nicht.

König: Auf dem Umschlag Ihres neues Buches "Pudding-Pauli rührt um" findet sich der schöne Klecks, der beschriftete Klecks, "Der erste Fall". Das lässt darauf schließen, dass es mindestens einen zweiten Fall geben wird?

Nöstlinger: Ja, das hofft der Verlag, das hoffe ich auch. Nur das ist gar nicht so einfach, Krimigeschichten für Kinder zu plotten, sodass das nicht so eine unmögliche Geschichte wird und auch nicht, dass das immer nur ein Diebstahlsgeschichte ist, dass das irgendeinen Witz hat oder so. Also da bin ich noch sehr am Nachdenken, was man Kindern da bieten kann als zweiter Fall.

König: Wie kann ich mir das konkret vorstellen, dieses Nachdenken? Sie haben uns ein bisschen eben in Ihre Handwerkskammer blicken lassen, eine Kindergeschichte zu plotten. Wie plotten Sie eine Kindergeschichte?

Nöstlinger: Zu erst einmal brauche ich den Anfang. Und dann spinne ich halt so weiter, da sitze ich auch nicht einfach da und denke vor mich hin, das kann man ja beim Autofahren und beim Gulaschkochen, dass man nachdenkt. Und 30 Mal komme ich zu dem Ergebnis, Schmarrn, das wird nichts, und Gottlob, beim 31. oder 32. Ansatz dann geht es halt dann doch weiter.

Und dann stelle ich mir schon vage vor, wie das ausgehen könnte, aber nur vage, weil ich weiß, dass sich beim Schreiben noch jede Geschichte verändert hat. Man stattet dann die handelnden Personen mit gewissen Eigenschaften aus, an die man vorher nicht gedacht hat, und plötzlich kommt man dahinter, dass diese Menschen ja gar nicht tun würden, was man für sie geplant hat. Und dann muss man umändern.

König: Dann ist wieder ein Topf Gulasch fällig.

Nöstlinger: Na ja, ein Topf Gulasch ist einmal in der Woche fällig.

König: Gibt es noch ganz neue Helden, über die Sie nachdenken, die in Ihrem Kopf herumspuken oder die Sie aus dem Computer heraus anlinsen oder die im Gulaschtopf so mit vor sich hin köcheln?

Nöstlinger: Also im Moment bin ich zufrieden, dass ich ein Buch fertig habe. In so einem Autorenkopf spuken meistens fünf, sechs so Geschichten herum, oft jahrelang, oft jahrzehntelang, und man beginnt oft, dann irgendwas zu schreiben, und merkt dann, dies wird nichts. Zum Beispiel, man merkt, es würde zu traurig werden. Dann legt man es wieder weg, und oft taucht Jahre später dann derselbe Geschichtenanfang wieder auf. Es gibt schon so Dinge, die einen durch Jahrzehnte begleiten.

König: Dann wünsche ich, dass das auch in den nächsten Jahren weiterhin so sein möge. Vielen Dank! Die Schriftstellerin Christine Nöstlinger im Gespräch. Ihr neues Buch "Pudding-Pauli rührt um" ist jetzt im Ueberreuter-Verlag erschienen. Frau Nöstlinger, mögen Sie und möge Pudding-Pauli noch ein langes, gutes Leben führen. Vielen Dank!

Nöstlinger: Es war mir ein Vergnügen.