"Es gibt kein Nullrisiko"

Von Konrad Lindner |
Als vor der Küste in Japan am 11. März 2011 die Erde bebte, zitterten sogar im Observatorium der Universität Leipzig die Messgeräte. Die Stärke des Bebens entfachte auch die Diskussion über die Standsicherheit von deutschen Kernkraftwerken neu.
Als vor der Küste in Japan am 11. März 2011 die Erde bebte, wurde das Brechen der Erdkruste in den geophysikalischen Observatorien rund um den Globus wahrgenommen. Auch im Observatorium der Universität Leipzig zitterten die Messgeräte. Die Messstation auf dem Collm, ein Berg zwischen Dresden und Leipzig, wird von Siegfried Wendt geleitet. Selbst den erfahrenen Geophysiker überraschte die Stärke des Bebens.

"Das war so groß, dass unserem Uraltgerät, dem Wiechertschen Horizontalseismografen wieder die Nadeln abgeworfen worden sind. Und an den ersten beiden Tagen hat meine Kollegin insgesamt 640 Nachbeben registriert und ausgewertet. Das ist ungefähr anderthalbmal so viel, wie wir weltweit sonst in einem Monat registrieren."

Das Beben versetzte die gesamte Erde in Bewegung. Florian Dombois und Oliver Brodwolf von der Hochschule der Künste in Bern übertrugen die seismischen Daten in den hörbaren Bereich und machten sie in einer Toninstallation in Youtube zugänglich.

Durch die Naturkatastrophe im Gefolge des Tsunami an Japans Küste wurde die Diskussion über die Standsicherheit von Kernkraftwerken auch hierzulande neu entfacht. Frank Scherbaum vom Institut für Geo- und Umweltwissenschaften der Universität Potsdam beschäftigt sich seit Jahren mit der Analyse der Erdbebengefährdung und mit der Standsicherheit von Kernkraftwerken.

"Was im Moment passiert, ist glaube ich, das bewusst werden, dass es keine hundertprozentige Sicherheit geben kann. Und dass hundertprozentige Sicherheit, wie sie uns einerseits vorgegaukelt wird, wir uns andererseits aber auch gerne selbst vorgaukeln, eine Illusion ist. Und dies ist auch der Fall in Zusammenhang mit der Sicherheit bei Hochrisikotechnologie. Ich will das gar nicht auf Kernkraft beschränken. Wir haben ja auch eine ganze Reihe von anderen Hochrisikotechnologien, um die wir uns Sorgen machen müssen, aber wir sollten nicht in Panik verfallen. Sondern wir sollten uns bewusst überlegen, welche Risiken wollen wir eingehen und was ist uns das wert. Es gibt kein Nullrisiko."

In Mitteleuropa ist ein Beben in der Stärke des Japanbebens ausgeschlossen, denn Mitteleuropa liegt nicht am Pazifikrand und in einer kritischen Zone, in der gewaltige Erdschollen in die Tiefe abtauchen und gegen das festere Gestein des unteren Erdmantels gepresst werden.

Aber auch das Beben in Lissabon von 1755 war keine Kleinigkeit, sondern ein Naturereignis, dass die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts erschütterte. Derartige Beben hält der Geophysiker Frank Scherbaum auch im Europa des 21. Jahrhunderts für möglich.

"Das Japan-Beben hat uns gezeigt, eben dass sehr, sehr seltene Ereignisse eintreten können und es gibt auch in unseren Breiten seltene Ereignisse, mit denen wir nicht rechnen. Manchmal ist das nicht ein unbedingt negativ besetztes Ereignis. Denken Sie zum Beispiel an das Lottospiel. Auch dort haben wir sehr, sehr geringe Chancen, dass dieser Zufall – eins zu 14 Millionen etwa –, dass Sie sechs aus 49 Richtigen haben, eintrifft. Aber er ist eben nicht eben unmöglich."

Petra Buchholz öffnet die Tür zum Messbunker des Geophysikalischen Observatoriums. Sie betreut den über 100-jährigen Seismografen, der seine Kurven auf Papier ritzt, das durch Ruß geschwärzt wird.

"Wir haben hier auf dem Gelände noch ein Uraltgerät, einen sogenannten Wiechert-Horizontalseismografen stehen. Der steht unter Denkmalschutz. Der stand anfangs in Leipzig und zwar ab 1902 und ist 1935 dann nach Collm gekommen, weil in Leipzig selbst die Bodenunruhe einfach zu groß wurde, durch Industrie und Verkehr, also durch menschliche Einflüsse. Hier fand man doch Bedingungen vor, wo vernünftig registriert werden konnte ohne störende Einflüsse von außen. Und er steht bis heute noch da. Und er arbeitet noch. Wie gesagt, solange es geht, halten wir das alles noch so weiter im Laufenden. Denn – wie gesagt – ein arbeitendes Denkmal ist ja eigentlich doch eine Seltenheit."

Der Seismograf in Leipzig registrierte gleich in seinem ersten Jahr am 22. August 1902 mit großen Ausschlägen das Kaschgar-Beben in Nordwestchina. Das historische Gerät sieht aus wie ein großer Eisenkopf. Unten am Boden befindet sich der Drehpunkt. Das riesige Pendel ist empfindlicher als die Prinzessin auf der Erbse. Was die Erde in Erregung und das heißt in Schwingungen versetzt, lässt auch den Seismografen erzittern. Die historischen Geräte zeigen ebenso wie die modernen Seismometer an, dass die Erdkruste in Bewegung ist, selbst wenn sich keine Beben ereignen. Frank Scherbaum vergleicht die Erde in seinen Vorträgen mit einem gewaltigen Musikinstrument, das ständig schwingt und klingt.

"Die Erde ist kontinuierlich in Bewegung. Das spielt sich zwar auf Zeitskalen ab, die wir nicht unbedingt wahrnehmen. Die Erde bildet auf Zeitskalen von Millionen von Jahren Gebirge. Auf Zeitskalen von Sekunden vibriert sie die ganze Zeit. Durch Wind. Durch Verkehr. Die Erde ist nicht still, sondern die Erde ist kontinuierlich in Bewegung."

Mit dem Berliner Komponisten Wolfgang Loos schuf Frank Scherbaum 1999 eine Seismosonic Symphony, die sich auf seismische Daten von Vulkanen und Erdbeben stützt, die in den hörbaren Bereich übertragen wurden. Beim Hören ist zu ahnen, dass gewaltige Kräfte wirken, wenn die Erdkruste bricht.

Das Japan-Beben vom März 2011 war so stark, dass vom Wiechertschen Horizontalseismografen die Nadeln abflogen. Bei der Analyse der Erdbebengefährdung für technische Bauwerke stützen sich die Geophysiker auf die seismischen Messdaten, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts vorliegen. Aber auch auf historische Zeitzeugenberichte über Erdbeben wird zurückgegriffen. Berechnet Siegfried Wendt für Staudämme in Sachsen die Standsicherheit, geht er mehr als 1000 Jahre zurück.

"Die Überlieferung des ältesten Bebens stammt aus dem Jahr 823. Das ist ein Beben in Nordsachsen. Davon wissen wir allerdings natürlich nur eine Beschreibung in der Chronik. Dass da was zerstört worden ist, was die Leute gespürt haben. Damals gab es noch keine instrumentellen Registrierungen. Deswegen haben wir nur das, was als geschriebenes Wort da ist. Aber diese alten Beben sind ganz wesentlich für die Berechnung der Gefährdung einer Region."

Aus der Perspektive der Erdgeschichte gesehen, sind zwölf Jahrhunderte immer noch ein sehr kurzer Zeitraum. In der Abschätzung der Erdbebengefährdung hat sich während der letzten beiden Jahrzehnte ein Lernprozess vollzogen. Frank Scherbaum bringt ein Beispiel aus seiner akademischen Entwicklung:

"Ich kann mich erinnern, als ich anfing, mich mit dieser Thematik Erdbebengefährdung bei meinem Doktorvater Professor Schneider zu beschäftigen, da wusste man noch nichts von paläoseismologisch nachgewiesenen Erdbeben in Mitteleuropa. Wenn damals jemand erklärt hätte, es gibt hier die Möglichkeit von Erdbeben, bei denen es einen Versatz von einem halben Meter an der Oberfläche geben kann, hätten wir ihn alle für verrückt erklärt. Mittlerweile wissen wir, dass das möglich ist. Aber dass diese Ereignisse eben extrem selten sind. Die treten im Mittel alle Tausende von Jahren auf. 2000, 5000 Jahre."

Bei einer Bodenbewegung von einem halben Meter geht selbst der beste Reaktor zu Bruch. Aber nach dem traditionellen, dem sogenannten deterministischen Verfahren der Gefährdungsanalyse wird ein bisher nicht bekanntes Starkbeben auch dann nicht berücksichtigt, wenn es im Zeitraum von Jahrtausenden möglich wäre. Wird über dieses Wissen der Geophysiker bei der Gefahrenabschätzung für Kernkraftwerke in Zukunft weiter hinweg gesehen, käme es unweigerlich zu Fehleinschätzungen.

"Das Problem aus meiner Sicht ist, dass wir nicht tatsächlich wirklich wissen, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Standorte tatsächlich gefährdet sind. Dazu müsste man berechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Bodenbewegungen, gegen die unsere Kernkraftwerke ausgelegt sind, überschritten werden kann. Und dazu gehört mehr, als nur die Erdbeben zu zählen. Mehr als nur die Seismizität zu betrachten. Das sind Verfahren, die sind mittlerweile auch in anderen Ländern gang und gäbe, sind eingeführt, sind allerdings etwas komplizierter als das, was wir eben in der deterministischen Gefährdungsanalyse im Moment als Stand der Kunst haben, nicht Stand der Kunst, aber Stand der Technik."

Bei der Beurteilung der Erdbebengefährdung für Kernkraftwerke ist es in Deutschland noch nicht die gesetzliche Norm, das Unwahrscheinliche, aber Mögliche zu berücksichtigen. Bislang wird nach der alten Methode gerechnet. Anders geht es jedoch zu, wenn der Geophysiker Siegfried Wendt in Sachsen die Standsicherheit einer Staumauer berechnet. Er stützt sich keineswegs allein auf die deterministische Methode.

"Zur Sicherheit machen wir es dann so, dass wir zu der größten bekannten Intensität noch eine Einheit dazu schlagen. Wir haben also zwölfhundert Jahre zwar geschriebene Geschichte, das ist aber an sich geologisch gesehen ein sehr kurzer Zeitraum. So dass man, wenn man auf der sicheren Seite sein will, immer noch was dazu schlagen muss, deswegen die eine Einheit mehr. Die entspricht, wenn man es in Energie umrechnet, immerhin dem Faktor zehn. Wir sind schon auf der sicheren Seite dabei."

Hinkt die Wissenschaft bei der Berechnung der Standsicherheit von Kernkraftwerken in Deutschland hinter anderen Ländern hinterher? Frank Scherbaum von der Universität Potsdam:

"Nicht generell hinter her. Es ist sogar so, dass eine Reihe von deutschen Kollegen, zum Beispiel der Herr Kollege Grünthal und auch ich in internationalen Verfahren eingebunden sind seit vielen Jahren, dass wir durch unsere Forschungen auch zu diesem Thema beitragen, auch zu der Weiterentwicklung der Methodik der probabilistischen Gefährdungsanalyse. Allerdings basieren die Genehmigungsverfahren in Deutschland auf diesen aus meiner Sicht veralteten Methoden und sollten aus meiner Sicht schleunigst auf den neuesten Stand gebracht werden."

In Ländern wie der Schweiz, der USA, aber auch in Südafrika ist man mittlerweile zu Betrachtungsweisen der Erdbebensicherheit von Kernkraftwerken übergegangen, die das Unwahrscheinliche, aber Mögliche berücksichtigen. Hier wird nicht nur nach der alten deterministischen Methode gerechnet.

"Das wäre aus meiner Sicht etwas, was in Deutschland nottut. Und das, was im Moment versucht wird, ist ein Spagat zwischen einer deterministischen Betrachtungsweise - wie das früher der Fall war und Stand der Wissenschaft und Technik - und einem zaghaften Schritt in die Richtung probabilistischer Gefährdungsanalyse, der aus meiner Sicht etwas zögerlich ist."

Noch ist die Erschütterung durch das Japan-Beben nicht verklungen. Und noch ist es sehr gut möglich, die Gefährdungsanalyse von Kernkraftwerken und anderen Risikoanlagen so zu verbessern, wie es Frank Scherbaum und seine Kollegen in der Geophysik vorschlagen.
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