"Es gibt mehr als nur die Uhrzeit"

Karlheinz A. Geißler im Gespräch mit Frank Meyer · 23.12.2011
Wir dürften das Umrechnen von Zeit in Geld nicht noch über die Arbeitszeit hinaus ausdehnen, meint der Professor für Wirtschaftspädagogik Karlheinz A. Geißler. Wenn wir uns zu sehr an der Uhr orientieren, würden wir uns zu sehr mechanisieren: Die Zeit sei "unsere treueste Freundin bis zum Tod".
Frank Meyer: "Wer behauptet, er hätte keine Zeit, der lügt oder er ist tot." So steigt der Zeitforscher Karlheinz Geißler ein in sein neues Buch, und angesichts der drohenden Weihnachtshektik wollen wir mit ihm reden über Zeitverdichtung, über Hektik und das Enthetzen. Seien Sie willkommen, Herr Geißler!

Karlheinz A. Geißler: Hallo, grüß Gott aus München!

Meyer: Das ist doch ein Standardsatz von uns modernen Menschen: Ich habe keine Zeit. Wie kommen Sie eigentlich dazu, zu sagen, das ist gelogen?

Geißler: Zeit ist eine Formulierung fürs Leben! Zeit ist Leben, wir sind die Zeit und wir haben nicht die Zeit, sondern wir sind die Zeit. Die wird uns sozusagen bei Geburt geschenkt, die Zeit, und sie ist unsere treueste Freundin bis zum Tod, dann verlässt sie uns wieder.

Meyer: Aber dieser Satz, ich habe keine Zeit, der bezieht sich doch auf die Wirklichkeitswahrnehmung von ganz vielen Menschen, eben auf die heutige Wahrnehmung von sehr verdichteter, immer schneller ablaufender Zeit, was mit der Verdichtung von Arbeit zu tun hat, mit dem immer schnelleren Takt von Nachrichten in den Medien zum Beispiel - das denken sich diese abgehetzten Menschen doch nicht aus?

Geißler: Nein. Aber es ist eine sozusagen stellvertretende Formulierung für den Sachverhalt: Für dich oder für das, was ich jetzt gerade tue, habe ich keine Zeit. Ich brauche die Zeit für was anderes. Und das heißt, wir entqualifizieren die Zeit, indem wir die Zeit zum Schuldigen erklären und nicht die Situation, in der wir stecken und in die wir uns gebracht haben.

Meyer: Aber haben wir da tatsächlich individuell die Wahl? Können wir in jedem Moment sagen: Gut, dann schiebe ich etwas auf, nehme mir die Zeit für das, was ich jetzt habe, die eben - ich komme noch mal zurück auf diese Erfahrung: Es haben sich doch Arbeitsabläufe ungeheuer verdichtet, man muss heute tatsächlich oft sehr viele Dinge gleichzeitig tun und hat doch nicht die Wahl als Arbeitnehmer zum Beispiel, zu sagen, ich mache das jetzt mal langsamer.

Geißler: Nein, die hat man nicht. Das ist auch nicht der Hintergrund. Der Hintergrund ist der, dass uns immer mehr dazwischen kommt und dass wir immer mehr glauben, zu tun haben zu müssen. Diese Verdichtung der Zeit, die sich in der Moderne herausstellt - die Formulierung ich habe keine Zeit ist eine typisch moderne Formulierung, vor 500 Jahren hat das kein Mensch gesagt, weil es sozusagen die Uhrzeit als Organisationsform voraussetzt. Und wenn man die Uhr nicht hat, und die Zeit an der Natur und an der Situation organisiert, dann sagt man das nicht, und dann kommt man nie auf die Idee, das zu sagen.

Meyer: Wir haben ja nicht nur das Phänomen, dass sich die Zeit in unserem Alltag verdichtet, auch in unseren Lebensplanungen sehen wir das ja. Wenn wir mal schauen auf die Studienreformen der letzten Jahre: Das Studium soll heute viel schneller laufen als vor 20 Jahren, die Leute sollen schneller in den Beruf, dann sollen sie aber schon Auslandserfahrungen mitbringen, Praktika, alles mögliche andere, wofür man natürlich auch Zeit braucht, um das zu erwerben. Da gibt es auch so eine Verdichtung von Lebenszeit in der längeren Perspektive. Bringt auch das nicht mit sich diese subjektive Wahrnehmung von weniger Zeit zum Leben haben?

Geißler: Die hat ja nicht nur eine subjektive Reflex sozusagen, sondern auch eine objektive Realität, die darin besteht, dass wir Zeit in Geld verrechnen. Und wenn wir Zeit in Geld verrechnen und eine Wirtschaft leben, die sozusagen immer mehr Geld oder Güter, die man dafür kaufen kann, haben möchte, muss man wachsen. Und das Wachsen geht nur über Beschleunigung.

Das geht nur über schneller werden, und deshalb verdichtet sich immer alles mehr. Also zwei Elemente sind es, die uns in die Situation bringen, zu sagen: Ich habe jetzt keine Zeit. Das ist das eine, die Verrechnung von Zeit ist Geld, die eben nur mit der Uhr als entqualifizierter Zeit möglich ist, und das andere ist die Verdichtung im Sinne der Beschleunigung, um wachsen zu können, um diese Wirtschaft als Wachstumswirtschaft zu organisieren. Und beides tun wir, und beides setzt uns immer mehr unter Zeitdruck. Natürlich, weil wir quasi dafür auch belohnt werden, das muss man sehen, die Hetze ist ja ein Reflex dessen, dass wir belohnt werden dadurch, dass wir immer mehr Geldwohlstand und auch Erlebniswohlstand haben.

Meyer: Sie plädieren ja für einen Zeitwohlstand. Was heißt das dann im Unterschied zum Geldwohlstand zum Beispiel?

Geißler: Der Zeitwohlstand basiert auf der Tatsache, dass es keine maßlosen Zeiten gibt, dass der Mensch sozusagen mit einer Zeit geboren wird, nämlich der, die ihm der Körper sagt, dass er zum Beispiel jeden Tag schlafen muss, dass er zum Beispiel müde wird, dass er aber auch aktive Phasen hat, und so weiter und so fort. Und diese Zeit, die dem Menschen sozusagen in seiner Natur gegeben ist, diese Zeit setzt Maße. Man kann nicht 24 Stunden durcharbeiten. Diese Maße hat das Geld nicht, das Geld ist maßlos, und wenn ich alle Zeit in Geld verrechne, werde ich auch maßlos mit meiner Zeit. Und das schädigt sozusagen die Gesundheit, und es schädigt natürlich auch die sozialen Kontakte und die Gesellschaft. Und Zeitwohlstand heißt der Umgang mit einer maßvollen Zeit, und nicht mit einer Zeit, die nur in Geld verrechnet wird.

Das heißt, die Zeit, in der wir Zeit in Geld verrechnen, muss begrenzt bleiben und darf sich nicht auf 24 Stunden ausdehnen und in alle Bereiche ausdehnen, zum Beispiel sehen wir jetzt die Probleme unter anderem bei der Beschleunigung - da verrechnen wir ja auch Zeit ins Geld - beim Studium, wo zum Beispiel dieses Bachelor-Studium viele auch problematischen folgen hatte. Und diese Folgen sind eben auch der Tatsache geschuldet, dass man Studienzeiten, Lernzeiten, Bildungszeiten nicht in Geld verrechnen kann.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen über Zeitbeschleunigung und Enthetzung mit den Zeitforscher Karlheinz Geißler. Als Sie gerade sagten, wir müssen schauen, dass wir dieses Umrechnen von Zeit in Geld nicht noch ausdehnen über die Arbeitszeit hinaus, musste ich an diesen Begriff Quality Time denken, den man in den letzten Jahren ja immer wieder hört. Das ist doch so eine Ausdehnung des ökonomistischen Blickes auf Lebenszeit, auch in die Freizeit, wenn man sagt: ich verbringe jetzt aber Quality Time mit meinen Kindern, oder?

Geißler: Es kommt ja aus Amerika, diese Idee, sozusagen den ganzen Tag zu organisieren, aber dahinter steckt natürlich die Idee: Es gibt mehr als nur die Uhrzeit. Es gibt auch qualitative Zeiten, und diese qualitativen Zeiten sind notwendig, aber die kann man natürlich nicht so organisieren, wieder nach der Uhrzeit. Die Einteilung des Tages nach Quality Time und quantitativer Zeit setzt ja die Uhrzeit voraus, und das ist eher das Problem, dass die Uhrzeit sozusagen über allem steht. Eigentlich ist es die Körperzeit, mit der wir in diese Welt hineinkommen und die uns begleitet, und nicht die Uhrzeit. Die Uhrzeit ist etwas Fremdes, sie ist tote, mechanische Zeit, und wenn wir uns an der Uhr orientieren, mechanisieren wir uns, und mechanisieren wir unser ganzes Leben. Das heißt, wir leben dann eine tote Zeit und keine lebendige.

Meyer: Um aus dieser irren Zeitverdichtung wieder rauszukommen, da sprechen Sie von einem notwendigen Enthetzen, nicht von Entschleunigung, das hört man ja auch öfter, Sie sprechen von Enthetzen. Was ist da eigentlich der Unterschied?

Geißler: Ich denke, man muss nicht diese Welt entschleunigen, das heißt, alles langsamer machen oder weniger schnell machen, sondern man muss nur das, was sinnvoll und was zu schnell ist, langsamer machen.

Meyer: Gibt es denn eigentlich Erkenntnisse der Zeitforschung, die besagen, wir haben eine Grenze erreicht, es gibt eben Bereiche des menschlichen Daseins, wo wir mit all dieser Zeitverdichtung quasi an eine Schallmauer gestoßen sind, wenn wir da weiter vorstoßen, dann machen wir die menschliche Natur kaputt?

Geißler: Na ja, da gibt es ja ganz viele neue Berufe, die genau diesem Sachverhalt geschuldet sind, das heißt, die ganzen Zuneigungsberufe, die Beraterberufe und so weiter und so fort zeigen ja, dass wir Hilfe brauchen bei der Organisation unseres Alltags, ganz, ganz stark. Das zeigt natürlich auch die ganze Wellness-Industrie, dass wir da große Probleme haben, weil wir zu schnell geworden sind, zu hektisch und zu verdichtet geworden sind. Deshalb steigt zum Beispiel die Wellness-Industrie.

Und die ist genau die Kompensation dessen, dass wir Probleme haben. Und die Gesundheitskosten steigen, und je höher die Kosten sind - dieses System rechnet natürlich immer mit Zeit ist Geld -, umso kritischer wird das, denn wenn die Kosten den Nutzen übersteigen, das heißt, die Geldverluste die Gewinne übersteigen, dann wird es nicht mehr gemacht.

Meyer: Das heißt, in der Logik des Systems könnte auch wieder eine Verlangsamung eintreten?

Geißler: Ja, die tritt ja in gewissen Bereichen, zum Beispiel in unseren Innenstädten zur Zeit ein. Also wenn Sie nach London gehen in die Innenstadt, da kostet es so viel, mit dem Auto hineinzufahren und einen Parkplatz zu suchen und einen zu bekommen, dass Sie das relativ schnell aufgeben werden. Also das heißt, der Kapitalismus ist ja deshalb so stabil, weil er die Probleme, die er verursacht in zeitlicher Hinsicht, zum Geschäft machen kann, und das läuft permanent ab.

Meyer: Also die Logik des Kapitalismus könnte das Leben auch wieder verlangsamen, wenn sich das besser rechnen sollte. Über Beschleunigung und Zeitwohlstand haben wir mit dem Zeitforscher Karlheinz Geißler gesprochen. Sein neues Buch heißt "Alles hat seine Zeit - nur ich habe keine". Es ist im oekom verlag erschienen. Herr Geißler, besten Dank nach München!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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