"Es gibt nicht mehr als drei oder vier wirklich gute Filme pro Jahr"
Der Jury-Präsident der diesjährigen Berlinale, der Filmemacher Werner Herzog, hatte bei der Aufgabe, Filme bewerten und prämieren zu müssen, zunächst kein gutes Gefühl. "Ich hatte prinzipiell ein bisschen einen Widerstand gegen Jury-Arbeit", sagte Herzog.
Frank Meyer: Die Filme mit Klaus Kinski, das sind bei uns die bekanntesten von Werner Herzog. "Fitzcarraldo" oder "Cobra Verde" oder "Nosferatu – Phantom der Nacht". "Mein liebster Feind", Herzogs Dokumentarfilm über die unglaublichen Exzesse seiner Zusammenarbeit mit Kinski, der ist vor elf Jahren mit einigem Aufsehen bei uns in den Kinos gelaufen, aber sonst hat man kaum mehr etwas gehört von Werner Herzog, obwohl er vor allem in den USA einen Film nach dem anderen gedreht hat.
In knapp zwei Wochen aber wird ein neuer Werner Herzog in unsere Kinos kommen, der Spielfilm "Bad Lieutenant", und in den nächsten zehn Tagen ist der Filmemacher der Präsident der Wettbewerbsjury bei der Berlinale. Ich habe vor der Sendung mit Werner Herzog gesprochen – im Berlinale Palast der Filmfestspiele – und ihn gefragt: Dieser Seitenwechsel, vom Filmemacher zum Filmbeurteiler, als Jury-Chef, halten Sie das immer noch für eine gute Idee, jetzt am ersten richtigen Arbeitstag der Jury?
Werner Herzog: Zunächst einmal, es ist nicht der erste Arbeitstag, sondern schon der dritte. Wir haben ja schon einen Tag vor Eröffnung angefangen, Filme zu sehen, weil die Jury, ich glaube zwei Tage vor Festivalende schon ein Verdikt haben muss, also eine Abstimmung und klare Verhältnisse haben muss, so dass man also Preisträger wieder zurückrufen kann, die schon abgereist sind. Gestern Abend war ja die Eröffnung mit einem Wettbewerbsfilm auch. Das war auch ganz normale Jury-Arbeit für uns, aber es ist natürlich auch keine Arbeit, sondern eine große Freude auch.
Meyer: Sie mussten lange bekniet werden, hat man jetzt in den Zeitungen gelesen, vom Berlinale-Chef Dieter Kosslick, damit Sie dieses Amt, diese Aufgabe als Jury-Vorsitzender übernehmen. Was hat Sie denn dazu bewogen, jetzt in diesem Jahr 2010 das tatsächlich zu tun?
Herzog: Ach, sehen Sie, der Dieter Kosslick ist ein Mann mit großer Überredungsgabe, das hat nicht so sehr lange gedauert, aber ich hatte prinzipiell ein bisschen einen Widerstand gegen Jury-Arbeit, Filme, die Preise bekommen. Ich meine, ich war zwar auch in Festivals und habe mich Wettbewerben ausgesetzt, hatte aber immer das teilweise unbehagliche Gefühl, dass Wettbewerbe dieser Art auf eine Landwirtschaftsausstellung gehören, wo man Preisrinder auszeichnet. Aber es kann natürlich sehr gut und richtig sein, für Filme zum Beispiel letztes Jahr war ja ein Film aus Peru mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet worden, und das hat, glaube ich, der jungen Regisseurin und dem Land außerordentlich gut getan. Das belebt auf einmal die Filmszenen in einer ganzen Region, von der wir bisher nicht gehört haben.
Meyer: Verstehe ich Sie jetzt richtig, dass für Ihre eigene Arbeit die Teilnahme an Festivals eigentlich wenig gebracht hat?
Herzog: Ich glaube, es bringt niemandem wirklich etwas, man darf das nicht zu sehr hoch bewerten. Schauen Sie, das strukturelle Problem von Festivals ist ja, dass es, glaube ich, 3- oder 4000 Festivals zurzeit auf der Welt gibt, es gibt aber nicht mehr als drei oder vier wirklich gute Filme pro Jahr.
Meyer: Es war auch über Sie zu lesen, dass Sie gar kein so ausgiebiger Filmgucker sind, dass Sie pro Jahr nur wenige Filme anschauen, im letzten Jahr sollen es nur zwei gewesen sein. Wie kommt das?
Herzog: Ach, das war immer schon. Zwei, drei, vier Filme, vielleicht mal fünf in einem Jahr. Ich sehe nicht so sehr viele Filme, ich mache die Filme. Ich inszeniere ja auch Opern und war noch nie Zuschauer in einer Oper. Das heißt, es stimmt nicht ganz, ich war bei Proben auch dabei oder ein oder zwei Operninszenierungen habe ich jetzt inzwischen in meinem Leben insgesamt gesehen, aber ich bin nicht gut als Zuseher und Zuhörer in der Oper.
Meyer: Und ist Ihnen das auch wichtig, um sich Ihren Eigensinn auch zu bewahren, vielleicht auch ein bisschen zu beschützen, dass etwas anderes von Arbeiten anderer Kollegen nicht auf sie einwirken?
Herzog: Nein, nein, gar nicht. Ich bin immer so froh, wenn ich einen wirklich guten Film sehe, der von irgendwoher kommt und als Überraschung mir in den Schoß fällt. Ich weiß es nicht so genau, warum ich relativ wenige Filme sehe, aber schauen Sie, letztes Jahr habe ich drei Filme gemacht, zwei Spielfilme, einer ist allerdings relativ kurz, und ich habe eine Filmschule eröffnet und ich habe an der Übersetzung von einem Buch gearbeitet, "Eroberung des Nutzlosen" ins Englische.
Meyer: Noch mal kurz zurück zur Berlinale: In gewissem Sinne schließt sich ja auch ein Kreis für Sie, erst mal ein vorläufiger Kreis, weil Sie 1968 ja hier einen Silbernen Bären bekommen haben …
Herzog: Vor 42 Jahren.
Meyer: Vor 42 Jahren.
Herzog: Das muss man sich mal vorstellen. Ich habe gestern Filmaufnahmen gesehen von damals, und ich sehe da aus wie ein Gymnasiast.
Meyer: Sie waren ja auch ein ganz junger Mann, Sie waren Mitte 20.
Herzog: Ja, gerade mal 24, 25 oder was.
Meyer: Aber können Sie sich erinnern, was das damals für Sie bedeutet hat? Sie kamen ja auch von keiner Filmhochschule, Sie waren Autodidakt, kann man sagen, und dann auf einmal …
Herzog: Eigener Produzent auch.
Meyer: … eigener Produzent, und dann wird Ihr Film hier mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet. Was hat Ihnen das damals bedeutet?
Herzog: Das hat sicherlich weitergeholfen, weil das viel Wichtigere war damals, dass ich einen Bundesfilmpreis bekommen habe, und das ist ja nicht nur ein Händedruck vom Innenminister, wie das damals gemacht wurde, sondern das war ja auch mit Geld verbunden, das man in einen nächsten Film stecken musste. Und das war die großartige Sache, dass ich also fast ansatzlos weitergearbeitet habe. Ich habe dann sofort zwei weitere Spielfilme damit gemacht.
Meyer: Deutschlandradio Kultur, Werner Herzog ist bei uns. Wir sprechen über die Arbeit bei der Berlinale in diesem Jahr, mit dem diesjährigen Jury-Vorsitzenden der Berlinale. Wenn man sich Ihre Filme anschaut, Herr Herzog, dann hat man oft das Gefühl, das sind so Experimente an der Grenze dessen, was Menschen eigentlich aushalten können, was sie auch an Leiden ertragen können, auch Sie selbst eingeschlossen, wenn man an den Film "Fitzcarraldo" denkt, wo ein echtes Schiff über einen echten Berg gezogen wurde, oder ein neuerer Film, "Grizzly Man", wo es um einen Mann geht, der selbst aus Liebe zum Tier zu einer Art Tier werden will, zum Bär werden will und am Ende von Bären gefressen wird. Diese Art von Extremismus, den Ihre Filme haben, diese Dringlichkeit, wünschen Sie sich die auf oder erhoffen Sie sich die von den Filmen, die Sie jetzt sehen werden im Wettbewerb der Berlinale?
Herzog: Nein, um Gottes Willen, ich erwarte ja nicht Klone von mir, das wäre ja das Schlimmste von allem. Nein, ich bin vollkommen offen. Sehen Sie, die Jury weiß von mir als sozusagen Grundprinzip, jeder Film, den wir sehen, bekommt von Haus aus einen Vertrauensvorschuss und einen kleinen Vorschuss an Sympathie.
Meyer: Sie haben vorhin schon die Schule erwähnt, die Sie gegründet haben in den USA, eine Schule …
Herzog: Die Schurken-Filmschule.
Meyer: Die Schurken-Schule, eine interessante … genau. Wenn man sich die Webside anguckt, da begrüßt einen ein Text und da liest man dann: Diese Schule ist nichts für die Hasenherzigen, die ist für solche Typen da, die zu Fuß gereist sind, die als Rausschmeißer in Sexclubs gearbeitet haben oder als Aufseher in Irrenhäusern. Und unter diesem Text sieht man dann ein Bild, auch von einem Mann, dem man nachgesagt hat, ein Irrer gewesen zu sein, Klaus Kinski. Also Sie erwarten offenbar von Ihren Schülern, die Sie da in Ihre Schule holen, so etwas wie, ja, wie einen außerordentlichen Erfahrungshunger und vielleicht auch eine Prise Wahnsinn?
Herzog: Nicht Wahnsinn, Erfahrungshunger und möglichst auch einen schon gelebten Erfahrungshorizont, weil nur das einen ja mit Substanz füllt, die man dann weitergeben kann. Und ich glaube auch, dass – Sie haben jetzt übersehen – wichtig ist, dass ich auch zum Beispiel eine Leseliste gebe – die war bei der ersten Runde, die ich gemacht habe, nicht verpflichtend, das werde ich in Zukunft so machen. Und das beinhaltet Dichtkunst aus der Antike, aus der römischen Antike: Vergil über den "Landbau", die "Georgica", aber dabei sind auch zum Beispiel Lektüre empfohlen von einer Kurzgeschichte von Hemingway, der übrigens auch ja so sehr viel Lebenserfahrungen als Kriegsberichterstatter hatte und mit vielen anderen Dingen.
Meyer: Dieses Vergil-Beispiel, ein Text aus einer ganz anderen Zeit, aus einem anderen Genre, aus der Dichtkunst, wollen Sie Ihre Schüler dazu ermutigen, auch außerhalb des eigentlichen Filmgewerbes und Ihrer unmittelbaren Erfahrung sich Quellen, sich Zugänge zu suchen, um auch mehr Eigensinn in den Film hineinzubringen?
Herzog: Ist nicht so eine Frage von Eigensinn, sondern einfach von kulturellem Niveau. Das klingt jetzt vielleicht überheblich, aber mein tägliches Mantra war: Lest, lest, lest, lest, lest! Keiner liest ja mehr. Lest! Wer nicht liest, wer nicht richtig liest, wird niemals ein guter Filmregisseur.
Meyer: Das heißt, Lesen ist wichtiger als Filme anschauen für Sie als Filmregisseur?
Herzog: Nein, das ist natürlich auch wichtig, und das hat man ja gesehen bei den Franzosen in der Nouvelle Vague, also Truffaut und Rohmer und Godard und wie sie immer hießen. Die haben täglich zwei oder drei Filme in der Kinemathek angeschaut in Paris. Und nur dadurch auf einmal sind die zu Regisseuren geworden – das ist natürlich auch ein Zugang. Aber damals diese Leute haben ja alle gelesen, nur heute tun sie es nicht mehr.
Meyer: Werner Herzog, Ihre Arbeit jetzt hier als Jury-Präsident in Berlin wird von manchen Filmjournalisten auch so als Hoffnungszeichen bewertet, dass Sie vielleicht einen Fuß wieder nach Deutschland zurücksetzen. Sie sind ja seit 15 Jahren leben Sie woanders, in Los Angeles vor allem. Kann man das so interpretieren, dass Sie langsam wieder zurückschauen auf vielleicht Berlin, als Filmstadt, was sie ja wieder geworden ist, wiederentdecken wollen?
Herzog: Ich habe Deutschland nie wirklich verlassen, und vor allem habe ich ja auch meine Kultur nicht verlassen, und zwar mehr die bayrische als die deutsche, preußische Kultur, gehöre ja nicht zu denen wie zum Beispiel Roland Emmerich oder Wolfgang Petersen. Die wollten, die wollten unbedingt Filme – das war ihr Jugendtraum, Kindheitstraum schon – innerhalb der großen Hollywood-Produktion machen. Und die sind auch vollkommen in diese Definition hineingestiegen, und die machen das richtig gut dort auch, sind sehr erfolgreich, machen das richtig gut. Aber sie haben beide natürlich ihre Kultur hinter sich gelassen. Das habe ich nicht getan. Das heißt, ich habe zwar das Land verlassen und ich habe in der Antarktis gedreht und in Thailand und in Afrika und in den USA und wo auch immer, auch in Deutschland ja im Übrigen, aber ich habe nie meine Kultur verlassen.
Meyer: Aber auf der anderen Seite, Sie haben auch in einem Interview gesagt, sie hätten in den letzten zwölf Jahren 15 Filme gedreht, von denen kaum einer in Deutschland zu sehen war, obwohl die Filme in den USA und in den anderen Ländern auch mit großem Erfolg gelaufen sind, einen Dokumentarfilm, der für einen Oscar nominiert war, zum Beispiel. Das muss Sie doch auch schmerzen?
Herzog: Nein, das kommt, wie es kommt. Ich habe da volles Zutrauen, dass die Filme letztlich gesehen werden. Manchmal dauert das. In Deutschland hatte ich das Gefühl, ich habe die Arena ja nie verlassen, nur die Augen der Zuschauer waren auf irgendein bestimmtes Tor gerichtet, und ich war am anderen Feldende, am Tor, aber ich war immer in der Arena. Die Filme werden irgendwann über kurz oder lang alle laufen.
Meyer: Und ein Film wird ja in knapp 14 Tagen hier bei uns anlaufen, "Bad Lieutenant".
Herzog: Ja, da freue ich mich besonders.
Meyer: Warum?
Herzog: Weil er so irrsinnig lustig ist.
Meyer: Was man bei dem Thema – ein Polizist mit Drogenproblemen – nicht erwarten würde.
Herzog: Ja, das ist ein so ganz schwarzer Humor, und da wird im Kino mehr gelacht als bei einem Eddie-Murphy-Film. Und das ist herrlich, ja.
Meyer: Werner Herzog, Filmemacher und Präsident, Vorsitzender der Berlinale-Jury in diesem Jahr. Vielen Dank für das Gespräch!
Herzog: Danke auch!
In knapp zwei Wochen aber wird ein neuer Werner Herzog in unsere Kinos kommen, der Spielfilm "Bad Lieutenant", und in den nächsten zehn Tagen ist der Filmemacher der Präsident der Wettbewerbsjury bei der Berlinale. Ich habe vor der Sendung mit Werner Herzog gesprochen – im Berlinale Palast der Filmfestspiele – und ihn gefragt: Dieser Seitenwechsel, vom Filmemacher zum Filmbeurteiler, als Jury-Chef, halten Sie das immer noch für eine gute Idee, jetzt am ersten richtigen Arbeitstag der Jury?
Werner Herzog: Zunächst einmal, es ist nicht der erste Arbeitstag, sondern schon der dritte. Wir haben ja schon einen Tag vor Eröffnung angefangen, Filme zu sehen, weil die Jury, ich glaube zwei Tage vor Festivalende schon ein Verdikt haben muss, also eine Abstimmung und klare Verhältnisse haben muss, so dass man also Preisträger wieder zurückrufen kann, die schon abgereist sind. Gestern Abend war ja die Eröffnung mit einem Wettbewerbsfilm auch. Das war auch ganz normale Jury-Arbeit für uns, aber es ist natürlich auch keine Arbeit, sondern eine große Freude auch.
Meyer: Sie mussten lange bekniet werden, hat man jetzt in den Zeitungen gelesen, vom Berlinale-Chef Dieter Kosslick, damit Sie dieses Amt, diese Aufgabe als Jury-Vorsitzender übernehmen. Was hat Sie denn dazu bewogen, jetzt in diesem Jahr 2010 das tatsächlich zu tun?
Herzog: Ach, sehen Sie, der Dieter Kosslick ist ein Mann mit großer Überredungsgabe, das hat nicht so sehr lange gedauert, aber ich hatte prinzipiell ein bisschen einen Widerstand gegen Jury-Arbeit, Filme, die Preise bekommen. Ich meine, ich war zwar auch in Festivals und habe mich Wettbewerben ausgesetzt, hatte aber immer das teilweise unbehagliche Gefühl, dass Wettbewerbe dieser Art auf eine Landwirtschaftsausstellung gehören, wo man Preisrinder auszeichnet. Aber es kann natürlich sehr gut und richtig sein, für Filme zum Beispiel letztes Jahr war ja ein Film aus Peru mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet worden, und das hat, glaube ich, der jungen Regisseurin und dem Land außerordentlich gut getan. Das belebt auf einmal die Filmszenen in einer ganzen Region, von der wir bisher nicht gehört haben.
Meyer: Verstehe ich Sie jetzt richtig, dass für Ihre eigene Arbeit die Teilnahme an Festivals eigentlich wenig gebracht hat?
Herzog: Ich glaube, es bringt niemandem wirklich etwas, man darf das nicht zu sehr hoch bewerten. Schauen Sie, das strukturelle Problem von Festivals ist ja, dass es, glaube ich, 3- oder 4000 Festivals zurzeit auf der Welt gibt, es gibt aber nicht mehr als drei oder vier wirklich gute Filme pro Jahr.
Meyer: Es war auch über Sie zu lesen, dass Sie gar kein so ausgiebiger Filmgucker sind, dass Sie pro Jahr nur wenige Filme anschauen, im letzten Jahr sollen es nur zwei gewesen sein. Wie kommt das?
Herzog: Ach, das war immer schon. Zwei, drei, vier Filme, vielleicht mal fünf in einem Jahr. Ich sehe nicht so sehr viele Filme, ich mache die Filme. Ich inszeniere ja auch Opern und war noch nie Zuschauer in einer Oper. Das heißt, es stimmt nicht ganz, ich war bei Proben auch dabei oder ein oder zwei Operninszenierungen habe ich jetzt inzwischen in meinem Leben insgesamt gesehen, aber ich bin nicht gut als Zuseher und Zuhörer in der Oper.
Meyer: Und ist Ihnen das auch wichtig, um sich Ihren Eigensinn auch zu bewahren, vielleicht auch ein bisschen zu beschützen, dass etwas anderes von Arbeiten anderer Kollegen nicht auf sie einwirken?
Herzog: Nein, nein, gar nicht. Ich bin immer so froh, wenn ich einen wirklich guten Film sehe, der von irgendwoher kommt und als Überraschung mir in den Schoß fällt. Ich weiß es nicht so genau, warum ich relativ wenige Filme sehe, aber schauen Sie, letztes Jahr habe ich drei Filme gemacht, zwei Spielfilme, einer ist allerdings relativ kurz, und ich habe eine Filmschule eröffnet und ich habe an der Übersetzung von einem Buch gearbeitet, "Eroberung des Nutzlosen" ins Englische.
Meyer: Noch mal kurz zurück zur Berlinale: In gewissem Sinne schließt sich ja auch ein Kreis für Sie, erst mal ein vorläufiger Kreis, weil Sie 1968 ja hier einen Silbernen Bären bekommen haben …
Herzog: Vor 42 Jahren.
Meyer: Vor 42 Jahren.
Herzog: Das muss man sich mal vorstellen. Ich habe gestern Filmaufnahmen gesehen von damals, und ich sehe da aus wie ein Gymnasiast.
Meyer: Sie waren ja auch ein ganz junger Mann, Sie waren Mitte 20.
Herzog: Ja, gerade mal 24, 25 oder was.
Meyer: Aber können Sie sich erinnern, was das damals für Sie bedeutet hat? Sie kamen ja auch von keiner Filmhochschule, Sie waren Autodidakt, kann man sagen, und dann auf einmal …
Herzog: Eigener Produzent auch.
Meyer: … eigener Produzent, und dann wird Ihr Film hier mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet. Was hat Ihnen das damals bedeutet?
Herzog: Das hat sicherlich weitergeholfen, weil das viel Wichtigere war damals, dass ich einen Bundesfilmpreis bekommen habe, und das ist ja nicht nur ein Händedruck vom Innenminister, wie das damals gemacht wurde, sondern das war ja auch mit Geld verbunden, das man in einen nächsten Film stecken musste. Und das war die großartige Sache, dass ich also fast ansatzlos weitergearbeitet habe. Ich habe dann sofort zwei weitere Spielfilme damit gemacht.
Meyer: Deutschlandradio Kultur, Werner Herzog ist bei uns. Wir sprechen über die Arbeit bei der Berlinale in diesem Jahr, mit dem diesjährigen Jury-Vorsitzenden der Berlinale. Wenn man sich Ihre Filme anschaut, Herr Herzog, dann hat man oft das Gefühl, das sind so Experimente an der Grenze dessen, was Menschen eigentlich aushalten können, was sie auch an Leiden ertragen können, auch Sie selbst eingeschlossen, wenn man an den Film "Fitzcarraldo" denkt, wo ein echtes Schiff über einen echten Berg gezogen wurde, oder ein neuerer Film, "Grizzly Man", wo es um einen Mann geht, der selbst aus Liebe zum Tier zu einer Art Tier werden will, zum Bär werden will und am Ende von Bären gefressen wird. Diese Art von Extremismus, den Ihre Filme haben, diese Dringlichkeit, wünschen Sie sich die auf oder erhoffen Sie sich die von den Filmen, die Sie jetzt sehen werden im Wettbewerb der Berlinale?
Herzog: Nein, um Gottes Willen, ich erwarte ja nicht Klone von mir, das wäre ja das Schlimmste von allem. Nein, ich bin vollkommen offen. Sehen Sie, die Jury weiß von mir als sozusagen Grundprinzip, jeder Film, den wir sehen, bekommt von Haus aus einen Vertrauensvorschuss und einen kleinen Vorschuss an Sympathie.
Meyer: Sie haben vorhin schon die Schule erwähnt, die Sie gegründet haben in den USA, eine Schule …
Herzog: Die Schurken-Filmschule.
Meyer: Die Schurken-Schule, eine interessante … genau. Wenn man sich die Webside anguckt, da begrüßt einen ein Text und da liest man dann: Diese Schule ist nichts für die Hasenherzigen, die ist für solche Typen da, die zu Fuß gereist sind, die als Rausschmeißer in Sexclubs gearbeitet haben oder als Aufseher in Irrenhäusern. Und unter diesem Text sieht man dann ein Bild, auch von einem Mann, dem man nachgesagt hat, ein Irrer gewesen zu sein, Klaus Kinski. Also Sie erwarten offenbar von Ihren Schülern, die Sie da in Ihre Schule holen, so etwas wie, ja, wie einen außerordentlichen Erfahrungshunger und vielleicht auch eine Prise Wahnsinn?
Herzog: Nicht Wahnsinn, Erfahrungshunger und möglichst auch einen schon gelebten Erfahrungshorizont, weil nur das einen ja mit Substanz füllt, die man dann weitergeben kann. Und ich glaube auch, dass – Sie haben jetzt übersehen – wichtig ist, dass ich auch zum Beispiel eine Leseliste gebe – die war bei der ersten Runde, die ich gemacht habe, nicht verpflichtend, das werde ich in Zukunft so machen. Und das beinhaltet Dichtkunst aus der Antike, aus der römischen Antike: Vergil über den "Landbau", die "Georgica", aber dabei sind auch zum Beispiel Lektüre empfohlen von einer Kurzgeschichte von Hemingway, der übrigens auch ja so sehr viel Lebenserfahrungen als Kriegsberichterstatter hatte und mit vielen anderen Dingen.
Meyer: Dieses Vergil-Beispiel, ein Text aus einer ganz anderen Zeit, aus einem anderen Genre, aus der Dichtkunst, wollen Sie Ihre Schüler dazu ermutigen, auch außerhalb des eigentlichen Filmgewerbes und Ihrer unmittelbaren Erfahrung sich Quellen, sich Zugänge zu suchen, um auch mehr Eigensinn in den Film hineinzubringen?
Herzog: Ist nicht so eine Frage von Eigensinn, sondern einfach von kulturellem Niveau. Das klingt jetzt vielleicht überheblich, aber mein tägliches Mantra war: Lest, lest, lest, lest, lest! Keiner liest ja mehr. Lest! Wer nicht liest, wer nicht richtig liest, wird niemals ein guter Filmregisseur.
Meyer: Das heißt, Lesen ist wichtiger als Filme anschauen für Sie als Filmregisseur?
Herzog: Nein, das ist natürlich auch wichtig, und das hat man ja gesehen bei den Franzosen in der Nouvelle Vague, also Truffaut und Rohmer und Godard und wie sie immer hießen. Die haben täglich zwei oder drei Filme in der Kinemathek angeschaut in Paris. Und nur dadurch auf einmal sind die zu Regisseuren geworden – das ist natürlich auch ein Zugang. Aber damals diese Leute haben ja alle gelesen, nur heute tun sie es nicht mehr.
Meyer: Werner Herzog, Ihre Arbeit jetzt hier als Jury-Präsident in Berlin wird von manchen Filmjournalisten auch so als Hoffnungszeichen bewertet, dass Sie vielleicht einen Fuß wieder nach Deutschland zurücksetzen. Sie sind ja seit 15 Jahren leben Sie woanders, in Los Angeles vor allem. Kann man das so interpretieren, dass Sie langsam wieder zurückschauen auf vielleicht Berlin, als Filmstadt, was sie ja wieder geworden ist, wiederentdecken wollen?
Herzog: Ich habe Deutschland nie wirklich verlassen, und vor allem habe ich ja auch meine Kultur nicht verlassen, und zwar mehr die bayrische als die deutsche, preußische Kultur, gehöre ja nicht zu denen wie zum Beispiel Roland Emmerich oder Wolfgang Petersen. Die wollten, die wollten unbedingt Filme – das war ihr Jugendtraum, Kindheitstraum schon – innerhalb der großen Hollywood-Produktion machen. Und die sind auch vollkommen in diese Definition hineingestiegen, und die machen das richtig gut dort auch, sind sehr erfolgreich, machen das richtig gut. Aber sie haben beide natürlich ihre Kultur hinter sich gelassen. Das habe ich nicht getan. Das heißt, ich habe zwar das Land verlassen und ich habe in der Antarktis gedreht und in Thailand und in Afrika und in den USA und wo auch immer, auch in Deutschland ja im Übrigen, aber ich habe nie meine Kultur verlassen.
Meyer: Aber auf der anderen Seite, Sie haben auch in einem Interview gesagt, sie hätten in den letzten zwölf Jahren 15 Filme gedreht, von denen kaum einer in Deutschland zu sehen war, obwohl die Filme in den USA und in den anderen Ländern auch mit großem Erfolg gelaufen sind, einen Dokumentarfilm, der für einen Oscar nominiert war, zum Beispiel. Das muss Sie doch auch schmerzen?
Herzog: Nein, das kommt, wie es kommt. Ich habe da volles Zutrauen, dass die Filme letztlich gesehen werden. Manchmal dauert das. In Deutschland hatte ich das Gefühl, ich habe die Arena ja nie verlassen, nur die Augen der Zuschauer waren auf irgendein bestimmtes Tor gerichtet, und ich war am anderen Feldende, am Tor, aber ich war immer in der Arena. Die Filme werden irgendwann über kurz oder lang alle laufen.
Meyer: Und ein Film wird ja in knapp 14 Tagen hier bei uns anlaufen, "Bad Lieutenant".
Herzog: Ja, da freue ich mich besonders.
Meyer: Warum?
Herzog: Weil er so irrsinnig lustig ist.
Meyer: Was man bei dem Thema – ein Polizist mit Drogenproblemen – nicht erwarten würde.
Herzog: Ja, das ist ein so ganz schwarzer Humor, und da wird im Kino mehr gelacht als bei einem Eddie-Murphy-Film. Und das ist herrlich, ja.
Meyer: Werner Herzog, Filmemacher und Präsident, Vorsitzender der Berlinale-Jury in diesem Jahr. Vielen Dank für das Gespräch!
Herzog: Danke auch!