"Es gibt weder Seelenverwandtschaft noch anderen emotionalen Schmus"

Moderation: Jürgen König |
Die linke Publizistin Jutta Ditfurth versucht in ihrer Ulrike-Meinhof-Biografie, sich der früheren RAF-Terroristin anzunähern und sie zu verstehen. Das sollten "Menschen nicht damit verwechseln, dass sie sagen, verstehen heißt Verständnis", betonte Ditfurth.
Jürgen König: Es hat in diesem Herbst ein großes Erinnern gegeben an die Ereignisse vor 30 Jahren, die als deutscher Herbst in die Geschichtsbücher einging, die Entführung und Ermordung Hans-Martin Schleyers, die Entführung der Lufthansa-Maschine Landshut nach Mogadischu, der Tod der RAF-Häftlinge Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe im Hochsicherheitstrakt von Stuttgart-Stammheim. Und es hat neben dem Erinnerung auch ein großes Analysieren gegeben, was die RAF war, wie sie entstand, wie aus studentischem Protest terroristischer Kampf wurde. Nun ist noch eine große Studie zum Thema RAF erschienen, das Buch der Politikerin, Publizistin und Sozialwissenschaftlerin Jutta Ditfurth, die einst die Grünen mitbegründete, deren Bundesvorsitzende war von 1984-88, die 1991 aber die ökologische Partei nur noch - sagen wir - weichgespült und angepasst und regierungssüchtig fand und sie folgerichtig verließ. Heute sitzt Jutta Ditfurth für die Wählervereinigung ÖkoLinX-Antirassistische Liste im Frankfurter Stadtparlament. Für ihr neues Buch hat sie sechs Jahre lang recherchiert, das heißt, "Ulrike Meinhof – Die Biografie" und ist erschienen bei Ullstein. Guten Tag, Frau Ditfurth.

Jutta Ditfurth: Guten Tag.

König: Als Sie das Buch letzte Woche im Ullstein-Verlag vorstellten sagten Sie über die bisherige Sekundärliteratur zu Ulrike Meinhof und der Geschichte der RAF, bis auf ein Buch, das von Mario Krebs, sei das alles Müll. Meinten Sie das im Ernst?

Ditfurth: Ich meine das im Ernst. Bei manchen Büchern würde ich es vielleicht auch höflicher ausdrücken, würden wir einzeln über sie reden, bei anderen Büchern würde ich das deutlich ruppiger ausdrücken, weil, es ist zum Teil geradezu erschütternd, mit welcher Schlampigkeit bisher über Ulrike Meinhof geschrieben werden durfte. Da gibt es dann Autoren, die schreiben von anderen Büchern ab, sodass ich beim Lesen des angeblich neuen Buches 80 Prozent des Textes wiedererkenne, aus sehr trüben Quellen stammend, nämlich vom Ex-Ehemann Röhl oder von der Ex-Pflegemutter, die auch, wie die ganze Familie Meinhof mit Nazi-Vergangenheit, Renate Riemeck. Also nicht überprüfte Aussagen von stark interessengeleiteten Zeitzeugen, und ich finde, so schreibt man einfach keine Biografien, deswegen habe ich es anders gemacht.

König: Lassen Sie uns einiges an Neuem durchgehen, was bei Ihren Recherchen herauskam, zum Beispiel, dass Ulrike Meinhofs Vater kein christlicher Widerständler war, sondern ein leidenschaftlicher Nazi, dass ihre Pflegemutter, Renate Riemeck, früher mal eine Leitfigur der westdeutschen Friedensbewegung, dass sie im Nazi-Regime eine stramme Universitätskarriere gemacht hat. Inwiefern wirft das ein anderes Licht auf die Entwicklung von Ulrike Meinhof?

Ditfurth: Also ich sage nicht, das wäre ein ganz großes Missverständnis, dass die Biografie eines Menschen auf gewissermaßen genetisch oder auf die Familie zurückzuführen ist, dann hätte ja ein Mensch keine Entscheidungsfreiheit und hätte auch keine anderen Einflüsse. Ich versuche zu zeigen, inwieweit Ulrike Meinhof, der Mensch Ulrike Meinhof, dicht eingewoben ist in die Zeitgeschichte, in die Geschichte dieses Deutschlands und es ist damit auch eine Art kritisches Lesebuch zur deutschen Nachkriegsgeschichte geworden. Und sie entstammt einer Nazi-Familie, einer leidenschaftlichen und das besondere und das Verbindungsglied ist Renate Riemeck, die Pflegemutter von Ulrike Meinhof war, als sie 1949, Ulrike Meinhof 14 Jahre alt, Vollwaise wurde, weil auch die Mutter starb. Und dann gibt es diese Renate Riemeck, die die eigene Vergangenheit leugnet, ihre Entnazifizierungsunterlagen fälscht und der Transmissionsriemen zur Familie Meinhof ist. Das heißt, der jungen Ulrike Meinhof die Legenden, die Mythen vermittelt, sie stamme aus einer antifaschistischen, christlichen Familie. Das klärt sich erst in den 60er Jahren auf, als Ulrike Meinhof auch schon längst aus vielen anderen Gründen getrennt ist von dieser tyrannischen Pflegemutter, die fälschlicherweise den Ruf hatte, ganz besonders fortschrittlich und eine ganz besonders tapfere Frau gewesen zu sein, sondern die oft in ihrem Leben gelogen hat.

König: Sie betonen immer wieder, dass Ulrike Meinhof nicht in die Illegalität sozusagen hineingestolpert sei, sondern diesen Schritt ganz bewusst getan habe. Warum ist ihnen das so wichtig, dieser bewusste Schritt in den bewaffneten Kampf?
Ditfurth: Also ich will jetzt auch nicht auf dem armen Stefan Aust so rumhacken, weil, es gibt wirklich deutlich schlimmere Autoren als ihn, aber er hat ein bisschen das Bild, wahrscheinlich aus uralter, versteckter Sympathie gemalt, Ulrike Meinhof sei erstens tollpatschig und gar nicht willentlich in den Untergrund gestolpert, indem sie entgegen aller Planung aus dem Fenster gesprungen sei, als Andreas Baader in Dahlem mit Waffengewalt befreit worden ist. Das ist nicht wahr. Sondern Monate vorher hat Ulrike Meinhof geplant, nur der Zeitpunkt war noch unklar, in den Untergrund zu gehen und sich künftig aus Enttäuschung über bisherige linke Politik, wie sie sie verstand, dem bewaffneten Kampf anzuschließen, eine solche Gruppe aufzubauen. Und ein Jahr vor der Befreiung von Andreas Baader hat Ulrike, und das gehört zu den vielen neuen Dingen, die ich herausgefunden habe bei der Recherche, ein Jahr vorher, also im Frühsommer 1969 hat Ulrike Meinhof sich beteiligt durch die Beschaffung von Geldmitteln an dem Sprengstoffanschlag auf ein Kriegsschiff, was die Werft Blohm und Voss in Hamburg für die Diktatur Portugal, für den Krieg in Afrika baute. Und dieser Sprengstoffanschlag war ihre erste, wenn man so will, bewaffnete oder militante Aktion, lange, wie gesagt, ein Jahr, vor der Befreiung von Andreas Baader.

König: Es hat eine, wie ich fand, kluge Rezension in der "Zeit" gegeben, Barbara Sichtermann lobt das Buch als lesenswert, sie hebt hervor, wie sehr Sie Ulrike Meinhof zeigen als eine, die aus dem Geist der Anti-Atomtod-, der Anti-Wiederbewaffnungs-, der Anti-Notstandsgesetze-Bewegung kommt und mit, wie sie es nennt, kritischer Konsequenz diesen Weg weitergeht bis zur RAF. Das, schreibt Frau Sichtermann, werde Meinhof gerecht und lasse plausibel erscheinen, was sonst immer als Bruch, als Wahn, als Abdriften oder Reinschliddern in den Terrorismus bezeichnet wurde, also genau wie Sie, Frau Ditfurth, das eben gesagt haben und dann schreibt Barbara Sichtermann weiter, Zitat: "Ditfurths Meinhof bleibt sich selbst auf ungeheuerlicher Weise treu. Das macht die Biografie lesenswert, verleiht ihr den erwünschten roten Faden. Aber für diese unleugbare Kohärenz der biografischen Darstellung bezahlt Ditfurth einen Preis. Sie vollzieht die Dämonisierung der, in Anführungsstrichen ‚deutschen Verhältnisse’ nach und ignoriert in Folge dessen die Lernfähigkeit und liberale Flexibilität der Bundesrepublik, ähnlich wie ihre Protagonistin, und so wird sie einäugig. Wenn sie die ungleichen Kampfhähne RAF-Militante versus Staat, Polizei und Justiz in Stellung bringt, lässt sie David immer so handeln, dass man ihn versteht, Goliath hingegen nie". Können Sie diesen Gedanken nachvollziehen?

Ditfurth: Ich finde diesen Passus – sonst finde ich das eine sehr respektable Rezension – ich finde den Passus, den Vorwurf der Einäugigkeit, falsch. Ich beschreibe sehr wohl, dass die Bundesrepublik sich weiterentwickelt, aber natürlich schreibe ich, und das vielleicht offener und klarer als viele andere Autoren bisher, was der sogenannte deutsche Herbst, was die 70er Jahre auch für den Abbau an demokratischen Rechten und Freiheiten bedeuteten und das eben erschreckenderweise, erschreckend für viele Linke damals, unter der Regierung der SPD von Willy Brandt, von Helmut Schmidt, von denen man doch so viel anderes erwartet hatte, als von der CDU vorher.

König: Sie äußern Zweifel an der offiziellen Version Ulrike Meinhofs Freitod, sie halten stattdessen einen inszenierten Selbstmord für wahrscheinlich, als das Resultat, auch hier wieder einer staatlichen Verschwörung?

Ditfurth: Ne, ich weiß nicht, wo sie das her haben, das steht nicht in meinem Buch. Also ich schreibe in meinem Buch, sage ich am Schluss, es gibt viel, was dafür spricht, dass es Selbstmord war. Ganz sicher ist es nicht. Es gibt sehr gute Gründe, den Verdacht zu haben, dass es kein Selbstmord, sondern Mord war. Aber ich sage ganz klar am Ende, ich muss es offenlassen, weil ich es nicht weiß. Ich schildere nur die Widersprüche und ich schildere die ganzen Merkwürdigkeiten, die passierten vom Moment an, wo man sie tot, erhängt an der Zelle fand. Ich habe ja sehr aufschlussreiche Fotos gefunden aus dieser Situation, der erhängten Ulrike Meinhof und beschreibe dann, wie man mit der Leiche umging und wie geheimnisvoll, wie man sie versteckte, wie man verhinderte, dass ein Obduzent des Vertrauens der Schwester oder Anwälte von Ulrike Meinhof wenigstens bei dieser Obduktion, was eigentlich ganz selbstverständlich ist, kontrollierend zugucken durfte, sondern das wurde also rasch, rasch und sehr heimlich gemacht, und der Staat oder die Justiz hat sich selbst zuzuschreiben, dass es vielerlei Formen von Verdacht gibt, aber ich schüre den nicht weiter. Ich stelle nur dar und sage, ich weiß es tatsächlich nicht.

König: In vielen Rezensionen tauchte dieser Gedanke auch auf, da habe eine, wie Uwe Stolzmann das bei uns im Deutschlandradio Kultur nannte, eine Halbschwester im Geiste geschrieben.

Ditfurth: Ich denke mal, das klingt jetzt, das soll nicht eingebildet klingen, aber höchstens selbstbewusst nach sechs Jahren, dieses Buch ist eine Biografie, die eine Zeit lang wahrscheinlich sehr stark dastehen wird, und das schwer ist aufgrund der Riesenarbeit, die ich mir gemacht habe, auch anzugreifen, weil einfach die empirischen Grundlagen sauber sind. Ich bin ja auch Forscherin und wenn man dann der linken Jutta Ditfurth, sozusagen die eine Linke schreibt über eine ganz andere linke Frau, ran will, dann wird das, sobald Frauen über Frauen schreiben, kommen dann oft so emotionalisierte Seitenhiebe, die mein Verstand dann nicht ganz versteht, aber die ich dann hinnehme als Problem der Rezensenten. Also es gibt weder Seelenverwandtschaft noch anderen emotionalen Schmus, sondern ich habe als durchaus auch dem Verstande zugeneigter Mensch versucht, eine sehr kritische Biografie zu schreiben. Aber eine Biografie ist ein Buch, die versucht, einem Menschen nahezukommen und zu verstehen, wie sich jemand so entwickelt und das sollten andere kluge Menschen nicht damit verwechseln, dass sie sagen, oh, verstehen heißt Verständnis.

König: Ist Ulrike Meinhof Ihnen sympathisch geworden?

Ditfurth: Manche Sachen finde ich hochsympathisch. Ich finde sie zum Beispiel, ganz überraschend war für mich die Entwicklung in der Jugendzeit, diese Phase, in der sie, wo man denkt, alles ist stickig und spießig, wo sie in den 50er Jahren als wirklich ebellische Schülerin fast ein früher Beatnik-Schlagzeug spielt, sich mit den Jungs mit dem schlechtesten Ruf einlässt, eine große Liebebeziehung zu einem Mädchen hat und in jeder Hinsicht gegen das Spießertum der Zeit steht und das voll auskostet und sich dessen auch sehr weitgehend bewusst ist. Also da fand ich sie wirklich ganz besonders zauberhaft, und später gibt es immer wieder Stellen, wo ich verstehe, warum sie das macht, manchmal vollziehe ich es nach und manche Positionen teile ich auch, aber es gibt natürlich den ganzen Weg, nicht umsonst gehöre ich zu den Linken, die immer eine sehr, sehr scharfe Linie der Trennung zur RAF auch gezogen haben. Ich gehöre da wirklich zu einer anderen Kultur und zu einer anderen linken Strömung, das ist ganz klar, und das bleibt auch in dem Buch klar. Nur um mich geht es ja nicht, sondern es geht um Ulrike Meinhof.

König: Ja. Würden Sie sagen, Ulrike Meinhof wurde als Terroristin zur Verbrecherin?

Ditfurth: Den Satz verstehe ich nicht. Was ist jetzt die Reihenfolge von was? Fragen Sie nach einem kausalen Zusammenhang?

König: Ich habe manchmal das Gefühl, dass Linke zögerlich sind, wenn es einfach darum geht zu sagen, ja, das waren, in dem, was sie gemacht haben, Verbrecher. Würden Sie dem zustimmen?

Ditfurth: Meine Kritik an denen ist viel weitgreifender und viel grundsätzlicher. Ich weiß nicht, ob die Zeit dafür reichen würde. Ich finde, heute kaum noch verständlich zu machen ist, dass Andreas Baaders Befreiung dazu führte, dass in halb Berlin die Wohngemeinschaften feierten und klatschen und applaudierten, dass in den Monaten danach, heute ganz honorige, bekannte Professoren und Künstler ihre Schlüssel zur Wohnung rausrückten, wenn die inzwischen illegale RAF sich zu einer Konferenz treffen wollte, dass am Tag der Befreiung von Andreas Baader auch kaum vorstellbar, auch Herr Enzensberger zu denen gehörte, der die Gruppe empfing, auch Wolfgang Neuss und viele andere, wahrscheinlich so viele, dass man gar nicht glaubt, wie die ihren Tag überhaupt rumgekriegt haben. Das heißt, es ist wichtig bei so einer Biografie, die Zeit zu zeigen. Es geht da nicht um Gewissensfragen und Quizfragen heute, sondern es geht darum zu zeigen, es gab eine Rebellion, die hatte sehr viel größere Folgen als heute gesagt wird, die Darstellung – und das werden wir im nächsten Jahr zum Beispiel erleben – wir rollen jetzt auf eine Art Geschichtsrevisionismus gegen die 68er Werte zu, die sich gewaschen hat, wo man versuchen wird, im nächsten Jahr in allen möglichen Medien auf allen möglichen Ebenen von Ausstellungen und von Konferenzen dazu beizutragen, dass man denkt, oh, diese 68er waren alles Gewalttäter.

König: Jutta Ditfurth, Autorin der Buches "Ulrike Meinhof – Die Biografie", jetzt erschienen im Ullsteinverlag Berlin, hat 480 Seiten, das Buch kostet 22,90 Euro. Frau Ditfurth, vielen Dank.

Ditfurth: Ich danke Ihnen auch.