"Es ging ja auch um das eigene Überleben"

Arnd Bauerkämper im Gespräch mit Matthias Hanselmann |
Ob Mitglieder der Judenräte Opfer oder Mittäter gewesen seien, lasse sich moralisch nur schwer bewerten, sagt der Historiker Arnd Bauerkämper. Es habe aber "eine moralische Grauzone" gegeben, in der auch die Judenräte hätten erkennen können, dass sich der Massenmord nicht mehr habe verhindern lassen.
Matthias Hanselmann: Was wahr ist und was nicht, das lässt sich im folgenden Fall vielleicht nie genau herausfinden. Was feststeht, ist, dass zwei Menschen der Kollaboration mit den Nationalsozialisten beschuldigt wurden und noch werden. Vera Gran, die Sängerin, und Wladyslaw Szpilman, der Pianist, der sie im Getto begleitete, leben nicht mehr. Sie hatten gemeinsam im Warschauer Getto musiziert – und haben beide den Holocaust überlebt.

Die Nachfahren Szpilmans wollen nicht damit leben, dass ihr Vater mit diesem Ruf belastet ist, und klagen gegen eine Passage in einer eben erschienenen Biografie der Sängerin. In Polen darf die Anschuldigung gegen Szpilman weiterhin erscheinen, in Deutschland muss sie geschwärzt werden. Bei uns ist der Historiker Arnd Bauerkämper von der Freien Universität Berlin. Danke fürs Kommen, Herr Bauerkämper!

Arnd Bauerkämper: Gerne!

Hanselmann: Wie gesagt, die Wahrheit wird in diesem Fall vielleicht nie herausgefunden werden. Hier wird ja lange nach dem Tod der beiden Betroffenen noch um die Schuldfrage gestritten. Ist das eigentlich aus Ihrer Sicht ungewöhnlich?

Bauerkämper: Nein, das ist nicht ungewöhnlich. Das hängt mit der extremen Situation, mit der Lebenssituation eben in dem Getto auch zusammen. Es handelt sich ja um das Warschauer Getto. Das war eines von vielen Gettos, die die Nationalsozialisten ja errichtet hatten, insbesondere ab 1941, als es also darum ging, die Juden zu konzentrieren in diesen Gettos. Und insbesondere im Warschauer Getto waren die Lebensumstände alle extrem.

Es ging für die dort lebenden Juden insbesondere darum, möglichst zu überleben. Es gab eine relativ hohe Chance zu überleben in sogenannten Funktionsstellen – also wenn es um Schreibarbeiten ging, wenn es um Übersetzungsarbeiten ging, wenn es um kulturelle Unterhaltungsarbeiten ging, dafür beschäftigten die Deutschen ja Juden, zunehmend weniger, 1943/44 aber dann doch immerhin noch.

Hanselmann: Wie wurden denn die betreffenden jüdischen Bewohner des Gettos oder der Konzentrationslager zu Mittätern gemacht, mit welchen Methoden?

Bauerkämper: Na ja, indem man als allererstes vonseiten der deutschen Besatzungsmacht sogar die Judenräte einsetzte. Und das geschah dann insbesondere, wenn es um die Konzentration der Juden in den Gettos ging, aber vor allem dann, als es um die Deportationen ging, die ja in hohem Maße 1942 einsetzten. Die Deutschen haben versucht, gewissermaßen die Dreckarbeit, sag ich mal, auf diese Judenräte abzuwälzen, und sie haben versucht, indem sie diesen Judenräten noch Hoffnung gaben, dass sie das Schlimmste würden vermeiden können, sie an dieser Arbeit zu beteiligen.

Sehr viele Judenräte haben sich daran beteiligt, aus unterschiedlichen Motiven. In aller Regel war die Hoffnung dann doch noch leitend, tatsächlich auch noch ein bisschen mitbestimmen zu können, das Schlimmste wirklich verhindern zu können, viele Juden auch retten zu können. Aber die Reaktion dieser Judenräte, die eben dann – in diesem Rahmen gewissermaßen, den die Deutschen vorsetzten – zu Kollaborateuren wurden, die Reaktionen waren eben sehr unterschiedlich. Manche Judenräte haben weiterhin mitgemacht, auch fast bis zum bitteren Ende. Andere, wie etwa der Vorsitzende des Warschauer Judenrates, Adam Czerniakow, hat sich erschossen, als er 1942 sah, dass es eigentlich keine Hoffnung gab und dass er den Lauf der Dinge würde nicht mehr beeinflussen können.

Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", ich spreche mit dem Historiker Arnd Bauerkämper über die Frage der Kollaboration über Opfer und Täter in den Lagern der Nationalsozialisten. Der Pianist Wladyslaw Szpilman, dessen Geschichte von Roman Polanski verfilmt wurde, soll – so die Anschuldigung der Sängerin Wiera Gran – ein Kollaborateur gewesen sein. Sein Sohn hat gegen die Anschuldigung geklagt und in Polen verloren, in Deutschland Recht bekommen. Wissen Sie etwas darüber, ob Künstler eine spezielle Beziehung hatten unter Umständen zu den Nationalsozialisten?

Bauerkämper: Das kann man so generell nicht sagen. Wenn sie sozusagen von den Nationalsozialisten eingesetzt wurden, von der Besatzungsmacht eingesetzt wurden, wenn sie besondere Lizenz hatten gewissermaßen und das auch nachweisen konnten, konnten sie in gewisser Weise sozusagen sich auch schützen vor Deportationen. Grundsätzlich haben die Deutschen 1943, auch 44 noch angestrebt, diesen Prozess der Deportation möglichst reibungslos vollziehen zu können.

Dafür haben sie alles gemacht und auch versucht, gewissermaßen die Juden erstens noch in dem guten Glauben zu lassen, dass sie umgesiedelt würden, dass es doch eine Möglichkeit gibt, sozusagen den Tod zu vermeiden, von dem man gerüchteweise ja immer mehr hörte auch. Sehr viele Juden haben das auch geglaubt, aber sie haben eben auch versucht, die Juden noch zu unterhalten, ihnen sozusagen ein normales Leben vorzugaukeln in einer Extremsituation, in der es kein normales Leben gab. Und sie haben versucht gewissermaßen, dass die Juden sich auch noch ein Stück weit an den Strohhalm eines normalen Lebens, an die Illusion eines normalen Lebens, die Illusion des Entkommens klammerten. Dafür waren die Künstler wichtig.

Hanselmann: Herr Bauerkämper, es ist ja moralisch eine extrem schwierige Frage: Man kollaboriert, um zu überleben, man wird als eigentliches Opfer zum Mittäter, aber gegen seinen eigenen Willen oft, Sie haben es gesagt. Kann man in solchen Fällen in irgendeiner Weise eine Bewertung treffen bei der Schuldfrage?

Bauerkämper: Das ist extrem schwer. Es ist ja auch zwischen den Juden, spätestens ab den 60er-Jahren, ab dem Eichmann-Prozess in Jerusalem sehr intensiv diskutiert worden, weil Hannah Arendt in ihrem Buch "Eichmann in Jerusalem" ja den ehemaligen Judenräten vorgeworfen hat, insbesondere dem Vorsitzenden des Judenrates Kastner in Budapest vorgeworfen hat, allzu willig sozusagen mitgemacht zu haben, sodass die Juden, so Hannah Arendt, wie Schafe an die Schlachtbänke geliefert wurden. Das ist ein sehr harter Vorwurf.

Es ist eine moralische Grauzone. Sicherlich muss man – und das zeigt, denke ich, das Beispiel dieses Vorsitzendes des Warschauer Judenrates, Czerniakow – muss man sehen, dass es eine Grenzsituation gab, in der tatsächlich auch diese Judenräte hätten erkennen können, dass es eigentlich keinen Sinn mehr hatte, dass sie diesen Prozess der Deportation und damit sozusagen des Massenmordes auch nicht mehr würden beeinflussen können.

Dann muss man schon die Frage stellen, etwa 1942/43, als sich das schrittweise herausstellte, warum haben sie danach weitergemacht. Warum hat 1944 der Kastner, als die Judendeportation in Budapest erst richtig begann und das eigentlich auch ein Stück weit schon unter den Juden das Wissen sich herumgesprochen hatte, was eigentlich mit den Juden passieren würde, warum hat er trotzdem mitgemacht? Das ist eine moralisch unglaublich schwer zu beurteilende Angelegenheit.

Insbesondere muss man auch fragen, wer beurteilt das jetzt moralisch. Für uns Deutsche ist es besonders schwer, weil die Deutschen haben diesen Rahmen gesetzt und haben sozusagen die Juden diesen furchtbaren Dilemmata ausgesetzt. Wie sollte man in dieser Lage handeln? Dennoch, bei nüchterner Betrachtung einige Jahrzehnte später – nachher ist man immer ein bisschen schlauer als in der Situation selber – gab es sicherlich 1942/43 eine Situation und insbesondere 1944, als klar eigentlich war, dass diese Deportationen keine Umsiedlungen waren, sondern dass es wirklich in die Todeslager ging, eine Situation, in der man hätte sagen müssen, vermutlich vonseiten der Judenräte, nun ist Schluss.

Aber es ging damit ja auch immer wieder um das eigene Überleben. Solange die Judenräte eine Funktion hatten, hatten sie auch eine Chance, selber zu überleben. Wer gesteht sich das selber ein, dass er eigentlich keine Chance hat, zu überleben? Das ist auch eine schwierige Frage. Und es ist sehr schwer, sozusagen darüber zu richten. Es ist sehr leicht, ganz einfach zu sagen, sie hätten das eigentlich - aus Historikersicht -, sie hätten da eigentlich nicht mehr mitmachen dürfen. Objektiv ist das sehr leicht, aber in der Situation der Menschen, die das gemacht haben, ist es extrem schwer.

Hanselmann: Arnd Bauerkämper, Professor für Geschichte an der Freien Universität Berlin, danke schön!

Bauerkämper: Gerne!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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Leben und Überleben im Krieg - Agata Tuszynska: "Die Sängerin aus dem Ghetto", Insel Verlag, Berlin 2013, 379 Seiten

"Der Pianist" ein Kollaborateur? - Rechtsstreit um die Rolle Wladislaw Szpilmans im Warschauer Getto

Die bittere Wahrheit - Markus Roth und Andrea Löw: "Das Warschauer Getto", CH Beck, München, 2013, 240 Seiten