"Es herrscht ein großes Identitätsproblem"

Jo Goll im Gespräch mit Ulrike Timm |
Für die Recherche zu seinem Film "Ehrenmord - ein deutsches Schicksal" hat der Dokumentarfilmer Jo Goll auch den Mörder der vor sechs Jahren getöteten kurdischstämmigen Hatun Sürücü getroffen - ihren eigenen Bruder. Der zeige sich angesichts der Tat noch heute "ziemlich empathielos", sagt Goll.
Ulrike Timm: "Ich tat es, um die Ordnung in der Familie wieder herzustellen", sagte der Mörder von Hatun Sürücü. Der Mörder ist ihr Bruder – der sogenannte Ehrenmord an der 23-jährigen kurdischstämmigen Deutschen Hatun Sürücü im Jahr 2005 sorgte für immenses Aufsehen, weil hier so viele Aspekte wie unter dem Brennglas zusammengebündelt sind: Eine junge Frau, die nicht wie eine Deutsche leben wollte, sondern die längst eine Deutsche war, eine Familie, die das nicht akzeptierte, der kleine Bruder, der dann von den Anderen möglicherweise vorgeschickt wurde, um allein die Verantwortung für diesen Mord zu übernehmen. Inwieweit die beiden älteren Brüder tatsächlich vor diesem Mord die Strippenzieher waren und der jüngste, der Aihan, die ausführende Hand, das ließ sich im Verfahren letztlich nicht klären.

Matthias Deiß und Jo Goll haben umfangreich recherchiert – sie wollten das Umfeld erkunden, also den Humus verstehen, der diesen Mord mit hervorgebracht hat. Morgen Abend läuft dazu um 23 Uhr ein Film in der ARD, und ebenfalls erscheint ein Buch mit dem Titel "Ehrenmord – ein deutsches Schicksal". Jo Goll ist jetzt Gast im Studio, ich grüße Sie!

Jo Goll: Hallo!

Timm: Herr Goll, warum war es Ihnen so wichtig, dass Hatun Sürücüs Schicksal ein deutsches Schicksal ist, wie Sie im Untertitel ja extra betonen?

Goll: Ja, ganz einfach deshalb, weil sie Deutsche war, nicht nur, weil sie einen deutschen Pass besessen hat, sondern weil sie voller Überzeugung hier in diesem Land gelebt hat, weil sie sich hier voll und ganz integriert hat. Sie wollte in Deutschland leben, hat das als ihre Heimat angesehen. Sie hat ihren kleinen Jungen auch nur in deutscher Sprache erzogen. Er sprach oder spricht kaum türkisch. Sie hat hier eine Ausbildung gemacht, sie hat ihren Schulabschluss nach ihrer arrangierten Ehe dann eben nachgeholt. Sie wollte hier leben! Sie war eine junge, strahlende Frau, die Augen blitzen auf jedem Foto, sie war lebenslustig.

Und das war sehr beeindruckend in der Recherche, was für einen engagierten, mutigen Freiheitskampf sie einfach auch geführt hat, und sie hat deutsche Behörden dafür in Anspruch genommen. Sie hatte ein sehr engen Kontakt zum Jugendamt gehabt. Sie hat sich helfen lassen, sie wusste, wie das funktioniert, und deshalb ist es letztendlich ein deutsches Schicksal, weil sie hier eben wegen ihres Freiheitskampfes sterben musste.

Timm: Und für die Familie war sie eben als Deutsche ein echter Makel. "Ich hatte nie Kontakt zu Deutschen", hat ihnen der jugendliche Mörder gesagt, 18 Jahre war er, als dieser Mordfall geschah. Und für viele war er so eine Art Musterbeispiel für die vielzitierte Parallelgesellschaft, die sich eine Minderheit von Migranten hier geschaffen hat. Passt das ins Bild?

Goll: Ja, wer diesen Aihan Sürücü kennenlernt, der erlebt aber zuerst mal eine faustdicke Überraschung, das ist ein ganz höflicher, respektvoller, durchaus intelligenter junger Mann, der kann sich artikulieren, der hat Manieren, der hat uns sofort Tee gekocht, und so weiter und sofort – der ist höflich, wie gesagt. Andererseits wirkt er sehr abgeklärt. Sobald die Rede auf seine tote Schwester Hatun kommt, da wird er wortkarg. Er hat es in unseren zehn bis zwölf Besuchen, die wir dort hatten, nie einmal fertiggebracht, ihren Namen in den Mund zu nehmen, er bleibt da ziemlich empathielos.

Er sagt zwar: Es war der größte Fehler meines Lebens, ich bereue, ich bedaure das. Aber diese Reue geht eben nicht so weit, dass er sagen kann: So wie sie gelebt hat, heute könnte ich das akzeptieren. Diesen Schritt kann er nicht vollziehen, trotz fünf Jahre freiwilliger Psychotherapie, der hat sich also wirklich ernsthaft mit seiner Tat auseinandergesetzt. Aber für eine echte Reue – die Psychologen sagen dazu, das ist eben Abspaltung, die er da betreibt –, dafür hat es offensichtlich in sechseinhalb Jahren Haft nicht gereicht.

Timm: Der emotionale Kontakt der Familie zu dem Mordopfer Hatun Sürücü, von dem haben Sie ja gar nichts gemerkt. Das merkte man ja durch das ganze Buch, alle sagen, na ja, war vielleicht nicht richtig, bis hin zum Mörder, aber man spürt nicht, dass es emotional angekommen ist. Spricht das doch dafür, dass Hatun Sürücü, das Mordopfer, in Deutschland angekommen war, während ihre Familie in einer Parallelgesellschaft verharrt hat?

Goll: Man muss in dieser Familie doch sehr stark differenzieren. Es sind ja neun Kinder, insgesamt also elf Personen in dieser kurdischen sunnitischen Großfamilie. Und diesen mafiösen Clan, den die Boulevardpresse da an die Wand gemalt hat – Sürücü –, den hat es in der Tat nie gegeben. Es gibt da sehr verschiedene Lebenswege durch diese Familie hindurch, auch die Kinder haben sich eben sehr unterschiedlich entwickelt. Was wir, glaube ich, bei allen feststellen könnten – wir hatten ja mit fast allen auch Kontakt: Es herrscht ein großes Identitätsproblem einfach. Alle sind irgendwie auf der Suche nach ihrem Platz in dieser deutschen Gesellschaft. Manche haben den in Teilen gefunden.

Der Engin zum Beispiel, der hat sich ja sehr früh von dieser Familie verabschiedet. Der hat in Köln Jura studiert, wird aber mit dieser Tat einfach nicht fertig. Er hat große Probleme, auch psychische Probleme. Wir haben sehr viel Mail-Kontakt mit ihm gehabt, aber für ein Interview vor laufender Kamera hat es bei ihm auch nicht gereicht. Also, man kann sie nicht alle in einen Sack stecken, sage ich jetzt einfach mal. Sie sind sehr unterschiedlich, und doch haben viele sehr in diesem dogmatischen Glauben, in diesem radikalen Ehrbegriff dann wirklich Halt gefunden, wie eben auch Mutlu zum Beispiel, der Bruder, der mit angeklagt war und dann nach Istanbul geflohen ist, bevor der zweite Prozess stattfinden sollte.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton". Jo Goll hat gemeinsam mit Matthias Deiß über den Ehrenmord in Deutschland recherchiert am Beispiel des Mordes an Hatun Sürücü. Wie ist das eigentlich? Sie haben natürlich, sagen wir, den Humus erkunden wollen. Sie haben nach Erklärungen gesucht. Aber kann man da eigentlich immer Gleichmut wahren? Es geht um Mord an einer jungen Frau, und Sie lassen uns auch immer wieder merken, Reue für diesen Mord gibt es nicht. Ist man da immer Filmer, oder möchte man da manchmal auch ausbrechen?

Goll: Wir haben uns stets bemüht, da eine respektvolle Atmosphäre zu schaffen in den ganzen Gesprächen. Das war auch zum Beispiel bei Mutlu Sürücü in Istanbul so – der hat ja nun wirklich Dinger vom Stapel gelassen, da fällt es einem natürlich schwer, ruhig zu bleiben, denn …

Timm: Ich sage mal dazu: Einer der beiden Brüder, die möglicherweise eine große Mitverantwortung haben, möglicherweise Strippenzieher waren, und denen man das nicht nachweisen konnte.

Goll: Ganz genau. … Also, der ist ja sehr stark religiös orientiert, fast schon islamistisch in seiner Haltung. Da kommt eine Passage vor auch im Buch, sowohl auch im Film, wo er dann eben sagt: Im Grunde genommen steht auf Unzucht im Islam die Todesstrafe, und zwar durch Steinigung. Er relativiert es dann zwar, indem er eben sagt, er hätte diesen Mord niemals begehen dürfen, weil Deutschland ein ungläubiges Land ist, und das darf man nur in einem islamischen Land, wenn vier Zeugen das gesehen haben. Und ein islamischer Richter entscheidet, sie hat den Tod verdient.

Das sind dann Sätze, wo man sich natürlich fragt: Was will uns dieser Mann hier sagen? Der ist in Deutschland geboren, der hat in Deutschland Abitur gemacht, er hat ein Semester studiert an der Universität, der hat Grundwehrdienst bei der Bundeswehr geleistet, der hat den Eid auf unser Vaterland geleistet, und hat aber trotzdem offensichtlich null Identifizierung mit den deutschen Werten eben. Und hat sich sehr stark entschieden, in Istanbul eben jetzt ein ganz anderes Leben, ein radikal-muslimisches Leben zu verfolgen. Da fällt es manchmal schwer, ruhig zu bleiben, aber da wären wir schlecht beraten gewesen, wenn wir die Contenance in solchen Situationen verloren hätten.

Timm: Es gab eine ganz hitzige Situation um diese Familie, die mittlerweile zerbrochen ist – die Ordnung ist nicht wieder hergestellt –, eine hitzige Diskussion um die ganze Familie in Deutschland. Sie bringen Film und Buch fünf Jahre danach heraus. Haben Sie denn beim Film, beim Recherchieren für sich ein Fazit gezogen, ob und wenn, für was diese Tragödie auch eine Veränderung bewirkt hat in der deutschen Gesellschaft, wo ja das Wort Parallelgesellschaft immer sehr schnell auch fällt, und niemandem aber wirklich was dazu einfällt?

Goll: Ich muss vorne weg sagen, an dieser hitzig geführten, oftmals kopflos geführten Integrationsdebatte, an der wollten wir uns gerade eben nicht beteiligen. Uns kommt es darauf an, diesen Fall, diesen Ehrenmord noch mal ganz genau zu beleuchten: Wie ist das möglich? Ehrenmord mitten in Deutschland, mitten in Berlin, bei einer Familie, die schon 35 Jahre im Land ist. Uns kam es drauf an, Information, Aufklärung zu betreiben. Familienehre, was ist das überhaupt, wo kommt das her? Deshalb sind wir nach Ostanatolien gefahren, in die Bergdörfer, aus denen die Eltern eben stammen, dort haben wir einfach versucht, zu untersuchen: Was ist da heute mit der Familienehre? Wie sind die Werte, wie haben die sich entwickelt, wo die Sürücüs herkommen?

Und da haben wir Erstaunliches festgestellt, nämlich: Wir hatten den Eindruck, dass gerade in diesem Dorf man in Teilen sogar weiter, fortschrittlicher denken kann, obwohl es ein extrem rückständiges Dorf ist. Es gibt kaum fließend Wasser, es gibt im ganzen Dorf keine Toiletten, es sind wirklich Hütten, in denen die Menschen dort leben, aber sie haben einfach Strategien gefunden, um mit Ehrverletzung, die eine Frau anscheinend begeht, umzugehen. Da wird ein Ältestenrat einberufen, und dann wird diskutiert: Wie können wir das Problem lösen? Während hier am Kottbusser Tor in manchen – das muss man ja betonen! – in manchen kurdischen Großfamilien dieses archaische Ehrverständnis eben noch voll und ganz da ist! Das haben die vor 40 Jahren mitgenommen, diese Familien, hier konserviert, und sie leben nach wie vor aus dieser Konserve.

Wichtig ist uns eben, noch mal festzustellen, das ist kein Beitrag, den man verallgemeinern kann. Natürlich lehnen die meisten kurdischen, türkischen Familien solche archaischen Strukturen, solche archaischen Traditionen ab. Aber es gibt es eben immer noch, und zwar mitten unter uns.

Timm: Matthias Deiß und Jo Goll haben recherchiert, sechs Jahre nach dem Mord an Hatun Sürücü. Morgen um 23 Uhr ist ihr Film zu sehen in der ARD, "Verlorene Ehre – der Irrweg der Familie Sürücü". Das Buch "Ehrenmord – ein deutsches Schicksal" erscheint gleichzeitig. Herzlichen Dank für Ihren Besuch im Studio, Jo Goll!

Goll: Gerne!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.