"Es hilft möglicherweise dem einzelnen Betroffenen"
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) fordert von der Regierung Entscheidungen zum gesetzlichen Mindestlohn und zur Zeitarbeit. Die Hartz IV-Zuverdienste seien zwar ein "Minischritt", sagte DGB-Chef Michael Sommer, im Vordergrund müsse aber stehen, Arbeit zu schaffen.
Deutschlandradio Kultur: Zehntausende demonstrieren Woche für Woche im Ländle gegen Stuttgart 21 und auch Merkels Ausstieg aus dem Atomausstieg mobilisiert die Menschen. Herr Sommer, erleben wir da eine ganz neue Protestkultur?
Michael Sommer: Ach, na ja, wenn Sie ein bestimmtes Lebensalter erreicht haben wie ich, dann haben Sie schon ein paar Protestkulturen erlebt. Deswegen, ob das neu ist oder nicht, das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass, wenn die Gewerkschaften antreten und wenn sie das auch mit einer langen Vorankündigung machen, wie wir es getan haben seit dem DGB-Kongress, dass wir gesagt haben, wenn ihr die falschen Entscheidungen nach der Krise trefft, müsst ihr damit rechnen, dass wir auch zu Aktionen gehen, dass das dann auch kräftige Aktionen werden.
Wir haben uns bewusst entschieden, auf die – wenn man so will – übliche Großdemonstration zu verzichten, sondern sehr viel stärker dezentral anzugreifen und auch den Protest in die Betriebe zu tragen, weil wir wissen, dass ja die, insbesondere auch die Fabrikbesitzer und Geschäftsführer von Unternehmen diejenigen sind, die diese im Wesentlichen stützen und damit die dann auch ihre Botschaft an diese Regierung weitergeben, dass das so nicht geht.
Und von daher, unsere Aktionen sind erfolgreich angelaufen. Auch die Demonstration jetzt in Brüssel des Europäischen Gewerkschaftsbundes betrachte ich auch im Nachhinein als Erfolg. Ich selber war in Spanien beim Generalstreik, wo ich mit 400.000 Leuten demonstriert habe gegen eine falsche Sparpolitik und den Versuch, Arbeitnehmerrechte in Spanien zu schleifen.
Wissen Sie, ich glaube schon, dass die Gewerkschaften über lange Sicht gesehen wirklich die Konstante sind, wenn es darum geht, Menschen für eine andere, für eine bessere Politik zu mobilisieren. Womit ich überhaupt nicht in Abrede stellen will, dass die Anliegen von der Anti-Atomkraft-Bewegung bis hin zu denjenigen, die in Stuttgart gegen eine völlig intransparente Form von teilweise verlogener Politik kämpfen, dass ich diese Anliegen hoch achte und auch sehe, dass das große Mobilisierungsmöglichkeiten gibt. Aber mir geht's insbesondere darum, dass wir deutlich machen: Es gibt in Deutschland eine soziale Schieflage und die wollen wir wieder ins Lot rücken. Und es gibt sicherlich auch mittlerweile eine gesellschaftliche. Aber darüber werden wir sicherlich noch sprechen.
Deutschlandradio Kultur: Aber dann sagen Sie doch mal, wenn Sie sagen, 400.000 Leute waren es in Madrid, wie viele werden es denn bei dem heißen Herbst, den Sie der schwarz-gelben Regierung versprochen haben, werden? Auch 400.000?
Michael Sommer: Wissen Sie, ich hab mir angewöhnt, wir rechnen zum Schluss ab. Das ist auch ganz schwierig zu sagen. Ich alleine habe jetzt, wenn denn nur mal meine Terminlage für den Oktober nehme und für den Anfang November, ich hab drei große Kundgebungen, vier kleinere Veranstaltungen, Betriebsbesuche, Betriebsversammlungen. Und wenn Sie das alles zusammenrechnen, glaube ich, wir werden mit Sicherheit mehrere Hunderttausend Menschen in den Betrieben und außerhalb mobilisieren. Ich werde die Zahl nicht zusammenrechnen, weil, es wäre auch unlauter.
Wir werden zum Beispiel Betriebsversammlungen nutzen. Die finden regelmäßig statt in vielen Betrieben, aber wir werden sie in diesem Jahr umfunktionieren. Jetzt können Sie sagen, ist das eine Protestveranstaltung, ist das eine Betriebsversammlung?
Deutschlandradio Kultur: Ist das oberhalb der Wahrnehmungsschwelle jetzt für die Öffentlichkeit?
Michael Sommer: Uns geht's erst mal darum, dass das eine Wahrnehmungsschwelle bei den Arbeitgebern gibt, weil, es geht zum Beispiel um die Frage, dass wir uns nicht damit abfinden werden, dass im Aufschwung der Beschäftigungsaufbau wieder nur Leiharbeit stattfindet, sprich, mit dem Versuch, Lohndumping zu machen und die prekäre Arbeit in Deutschland sozusagen 100 Prozent hoffähig zu machen. Da richtet sich unser erster Punkt hin.
Der zweite Punkt ist, er wird sich an die Öffentlichkeit wenden, insbesondere, wenn es um die Finanzen der Kommunen geht. Und er wird sich an die Politik wenden. Und ich glaube schon, wir werden öffentlich wahrnehmbar sein nach der ersten Welle in den Betrieben, wenn wir Anfang November in großen Städten große regionale Kundgebungen machen. Wir planen in Dortmund, wir planen in Nürnberg, wir planen in Stuttgart, wir planen in Hannover, wir planen in Kiel.
Deutschlandradio Kultur: Aber nicht zentral, nirgendwo.
Michael Sommer: Nee, bewusst nicht, weil das Problem...
Deutschlandradio Kultur: Weil zu wenig kommen könnten?
Michael Sommer: Nein, nicht deshalb, sondern weil ich auch die Erfahrung gemacht habe und meine Kolleginnen und Kollegen auch, dass dieses – nennen wir es mal – "Schröder-Phänomen" einsetzt, dass man meint, 300.000 Leute aussitzen zu können, was er 2004 gemacht hat und sich heute noch wundert, dass er 2005 die Wahlen verloren hat. Ich wundere mich da nicht drüber. Wenn er nach der Demonstration damals zu uns gekommen wäre und gesagt hätte, lasst uns mal miteinander reden, wäre möglicherweise manches anders gelaufen.
Übrigens hat die Kanzlerin nach der großen Kundgebung im vergangenen Jahr, die wir ja im Mai hatten, anders reagiert. Damals hatten wir hier in Berlin beim europäischen Aktionstag 100.000 hier auf der Straße. Und am Montagmorgen rief sie mich an, also, das war Samstag, am Montagmorgen rief sie mich an und hat zu mir gesagt, Herr Sommer, ich glaube, ich muss mich mit den Gewerkschaftsvorsitzenden zusammensetzen. – Also, da war schon ein anderes Reaktionsmuster da. Aber wir greifen nach den Mitteln, die wir für adäquat halten. Und wir glauben, dass es sehr viel sinnvoller ist, diesmal sehr breiter in der Fläche anzugreifen als zu meinen, man müsste das so machen.
Wenn ich nur mal noch ein kurzes Wort sagen darf dazu, wie man es falsch macht: Ich war jetzt in Spanien, wie ich gesagt habe. Generalstreik, sehr erfolgreich mit Ausnahme der Bereiche mit prekären Beschäftigten. Die Regierung Zapatero macht das Gleiche wie Schröder, versucht das zu ignorieren, auszusitzen. Das Problem ist, wir werden wahrscheinlich über diese Art von Politik die vorletzte sozialdemokratische Regierung in Europa verlieren. Ich halte das für wirklich fatal. Aber ganz offensichtlich sind einige Leute nicht belehrbar, dass man auf den Protest von Menschen hören muss. Das gilt übrigens auch für Stuttgart 21. Wer sich dort nicht bewegt, sondern meint, er könne Landgrafspiele dort machen, oder, wer wie bei der Anti-Atomkraft-Bewegung einen vernünftigen Kompromiss einfach aufkündigt, der wird dann tatsächlich in verschiedenen Formen den heißen Herbst kriegen.
Wir werden sicherlich unseren Beitrag im Bereich der sozialen Rechte dazu beitragen, aber das geht dann weit darüber hinaus. Wenn die Kanzlerin jetzt den "Herbst der Entscheidungen" ankündigt, hab ich den Eindruck, die ist ja eigentlich eine kluge Frau, dass sie bedauerlicherweise sich jetzt in ihrer Koalition zum Herbst der falschen Entscheidungen treiben lässt.
Deutschlandradio Kultur: Aber noch mal mit dem Herbst der Entscheidungen, wo Sie sagen, "wir machen den heißen Herbst, wenn das tatsächlich bei der sozialen Schieflage bleibt". Der DGB hätte doch schon gerne diese Großdemonstration gehabt. IG-Metall-Vertreter waren da etwas zögerlicher. Anscheinend ziehen nicht alle an einem Strang, was die politische Demonstration im öffentlichen Raum betrifft.
Michael Sommer: Wissen Sie, es ist, glaube ich, wirklich für den DGB nicht ernsthaft ein Problem, mit einem gewissen Vorlauf eine sechsstellige Zahl von Menschen zu mobilisieren, um zu demonstrieren, wenn wir den Anlass haben. Und der Anlass in diesem Land ist da. Es geht ja nicht darum zu demonstrieren um des Demonstrierens willen, sondern es geht ja darum zu sagen, dieses Land ist wirklich in einer sozialen Schieflage – von der Gesundheitsreform über die Leiharbeit, über die Frage der Niedriglöhne, bis dazu, dass wir in weiten Bereichen ja vieles noch nicht erledigt haben, was wir erledigen müssten, und dass die Krise nach wie vor voll auf dem Rücken der kleinen Leute abgezahlt werden soll. Also, es gäbe genug Grund, die Leute zu mobilisieren.
Wir sagen, wir tragen den Protest da hinein, wo es denen wehtut, den Parteien, und die spüren es. Die spüren es draußen vor den Landtagen. Die spüren es in den Kommunen. Die spüren es in den Betrieben. Ich glaube, das ist sehr viel effektiver, wenn man es dann auch mischt mit Formen von öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen, wie wir sie machen.
Deutschlandradio Kultur: Herr Sommer, vielleicht gibt's noch einen anderen Grund, dass aus unserer Sicht es dann doch nicht ganz so ein heißer Herbst wird, wie Sie das jetzt für sich in Anspruch nehmen. Wir erleben in Deutschland einen überraschend starken wirtschaftlichen Aufschwung. Ist vielleicht auch deswegen die Gefahr da, dass die Proteste ins Leere laufen?
Michael Sommer: Also, erst mal freue ich mich, dass wir diesen wirtschaftlichen Aufschwung haben. Wir haben nämlich unseren Beitrag dazu geleistet. Wir wissen gleichzeitig, wie gefährdet dieser Aufschwung ist, weil, er fußt allein wieder auf der Exportindustrie. Und wenn Sie jetzt schon sehen, was jetzt zum Beispiel sich im Bereich der Währung an Konflikten zwischen Staaten und zwischen Währungsräumen abspielt, dann wissen Sie, wie fragil das ist. Und deswegen brauchen wir auch die zweite Entsprechung dessen, dass wir in dieser Wirtschaft stabilisieren können. Nichtsdestotrotz, ich freu mich darüber, wenn wir nicht fünf Millionen Arbeitslose, sondern drei Millionen haben. Wobei, ich würde mich noch mehr darüber freuen, wenn wir nur noch anderthalb Millionen hätten. Aber das ist ein anderes Thema.
Der entscheidende Punkt ist der, dass wir auch nach der Krise wissen, die haben nichts aus der Krise so gelernt, dass die nächste Krise verhindert werden kann. Und die Lasten der Krise werden einseitig zulasten der kleinen Leute, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der sozial Schwachen abgeladen. Und deswegen werden wir dagegen vorgehen.
Deutschlandradio Kultur: Aber wenn in der Stahlindustrie Tarifabschlüsse von 3,6 Prozent unterschrieben werden, das ist doch nicht zulasten der Mitarbeiter, sondern die kommen endlich mal wieder in Lohnerhöhungen, wo es sich auch lohnt, mal in die Tüte zu gucken.
Michael Sommer: Also, erstens haben die uns das doch nicht geschenkt. Die wussten doch haargenau in der Stahlindustrie, dass – wenn sie nicht zu dem vernünftigen Abschluss kommen – sie einen Arbeitskampf kriegen. Und wir sind doch in der Stahlindustrie so blendend organisiert, dass wir doch, sagen wir mal, glaubwürdig drohen können. Das ist ja das schönste am Streikrecht, dass man es nicht ausüben muss, sondern dass man erst mal damit glaubwürdig drohen kann. – Der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist der: In der Stahlindustrie hat es doch davor, wenn wir nur bei dem Beispiel bleiben, wegen der extrem miesen Stahlkonjunktur, wegen des Einbruches, den es da gab, wegen auch der reihenweise, ja, auch der Angst vor Schließung von Werken doch Formen von innerbetrieblichem, außerbetrieblichem Lohnverzicht gegeben. Wir haben alles Mögliche gemacht, um Betriebe zu stabilisieren. Dass wir jetzt, nachdem die ökonomische Krise erst mal überwunden ist, sagen, jetzt sind wir auch dran, das ist doch ganz normal. Aber das darf doch nicht verkennen, dass wir über Jahre, über Jahrzehnte mit einer extrem klugen Tarifpolitik, die Deutschland zum hochproduktivsten Land der Welt mitgemacht haben, dass wir tatsächlich auch – ich sage mal – im wahrsten Sinne des Wortes eine moderate beschäftigungssichernde Tarifpolitik betrieben haben. Da muss man doch jetzt nicht sagen, jetzt, wenn die Leute auch mal kommen wollen und sagen, wir wollen unseren Anteil, dass man diesen Anteil dann auch nimmt.
Deutschlandradio Kultur: Hat Brüderle Recht, wenn er sagt, es ist zwar nicht seine Baustelle, darüber müssen wir nicht diskutieren, aber hat Brüderle Recht, wenn er sagt, "jetzt sind auch mal die Arbeitnehmer dran"? 3,6 Prozent, das ist doch eine gute Orientierungsmarke.
Michael Sommer: Ach, wissen Sie, wenn mir jetzt so ein FDP-Politiker das sagt, hab ich immer so ein Problem.
Deutschlandradio Kultur: Dann sagen Sie's.
Michael Sommer: Jetzt mal ganz ernsthaft. Der sagt dann ja morgen auch, "Leistung muss sich wieder lohnen". Und ich hatte noch ein Gespräch mit dem FDP-Generalsekretär und hab dem gesagt: Aber um wessen Leistung geht's denn eigentlich? Geht's um die Leistung derer, die in diesem Land die Coupons abschneiden? Oder geht's um die Leistung derer, die jeden Morgen ihren Hintern aus dem Bett bewegen und dieses Land am Laufen halten? – Um es mal um bisschen Tacheles zu sagen.
Und mir geht es um die Zweiten. Und da sage ich, da muss sich die Leistung wieder lohnen. Und wenn der Brüderle sagt, kräftige Lohnerhöhungen sind notwendig, dann sage ich: Ist ne wichtige Erkenntnis eines Wirtschaftsministers, dass er einen Beitrag leisten will, die Binnenkonjunktur in diesem Land zu stärken. Und ansonsten soll er sich aus der Tarifpolitik raushalten. So einfach ist das.
Deutschlandradio Kultur: Aber trotzdem müsste es Sie doch freuen, wenn selbst aus liberaler Sichtweise gesagt wird, wir müssen jetzt tatsächlich den Arbeitnehmern mehr%e in die Lohntüte geben. Insofern ist doch die Zeit für Arbeitnehmer im Moment gar nicht so schlecht.
Michael Sommer: Das hat ja bei mir auch nicht zu prinzipieller Verärgerung geführt, dass der Herr Brüderle die Einsicht hat, dass – wenn die Menschen mehr verdienen – es auch dem Land besser geht. Das ist ja eine wichtige Einsicht für eine Wirtschaft. – Ich meine, eigentlich eine, die man auch erwarten kann.
Der zweite Punkt ist der, und dann kommt in mir der klassische Gewerkschafter hoch und übrigens auch der klassische Freund des Deutschen Grundgesetzes: Aus gutem Grund haben wir die Tarifautonomie in die Hände der Tarifvertragsparteien gegeben. Und wir halten schön den Staat raus. Zum Staat gehört derzeit auch Herr Brüderle.
Deutschlandradio Kultur: Herr Sommer, die Kanzlerin, damit sind wir wieder bei der Regierung, die Kanzlerin hat angekündigt, einen strikt konservativ-liberalen Kurs einzuschlagen und dabei auch Streit in Kauf zu nehmen. Auf einmal regiert Frau Merkel also und zeigt klare Kante. Zeigt sich jetzt ihr wahres Gesicht oder was hat sich da getan?
Michael Sommer: Ich vermute, aufgrund des innerparteilichen Drucks, weil sie ja auch einen Wirtschaftsflügel hat, der dann meint, man müsse jetzt mal ein bisschen was anderes machen, auch auf Druck der FDP... – Ich hatte immer gehofft, dass sich bei der FDP, auch aufgrund der Tatsache, dass natürlich auch Politik zwischen Bundestagswahlen stattfindet und aufgrund ihrer schlechten Ergebnisse sich die Einsicht durchsetzt, dass ein absolut neoliberaler Kurs nicht durchhaltbar ist, und ich hatte bei der CDU eigentlich die Hoffnung, dass die Krisenerfahrung selber, die dazu bringt zu sagen: Warum führen wir den erfolgreichen Weg nicht fort, den erfolgreichen Weg der sozialen Balance? Leider hat sich diese Hoffnung nicht erfüllt. Da muss man eben auch in die gesellschaftliche Auseinandersetzung gehen.
Deutschlandradio Kultur: Wie werden Sie das denn manchen? Mit dem heißen Herbst, das haben Sie angekündigt. Sie werden in den Betrieben sein. Sie werden aber auch vor allen Dingen versuchen, diejenigen, die am Rand der Gesellschaft sind, also Hartz IV-Empfänger, Aufstocker etc., deren Sprachrohr zu werden in den nächsten Wochen?
Michael Sommer: Erst mal sind wir das Sprachrohr der arbeitenden Menschen prinzipiell. Und wir sind die Interessenvertreter insbesondere auch der Menschen, die in den Betrieben arbeiten, aber dann zu sehr, sehr unterschiedlichen Bedingungen und zu sehr, sehr unterschiedlichen auch Einkommen.
Ich habe mal als junger Gewerkschaftssekretär für meinen damaligen Chef einen Aufsatz geschrieben über die Frage: Wie hält man eigentlich so eine Gewerkschaft zusammen? – Und wenn Sie das mal genauer durchdenken, was wir auch in Deutschland als Einheitsgewerkschaftssystem haben, dann stellen Sie fest, dass wir innerhalb der Gewerkschaften die unterschiedlichsten Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu bündeln und zu konzentrieren haben. Und Sie brauchen ein einigendes Band darum, um wirksam die Interessen von Arbeitnehmern einbringen zu können.
Und dieses einigende Band ist, glaube ich, so etwas wie der kleine Fortschritt und die soziale Gerechtigkeit. Mir geht's jetzt gar nicht darum, dass ich Sprachrohr für die Hartz IV-Empfänger werde. Sie werden von mir keine Zahl hören, ich hab auch bislang keine gesagt, wie hoch eine Hartz IV-Erhöhung sein sollte, weil ich sage, ich will eigentlich, dass wir zu menschenwürdigeren Verhältnissen für diese Menschen kommen, aber ich will gleichzeitig auch, dass ich sage, ja, es muss ein Lohnabstandsgebot geben, aber das berechnet sich nicht aus dem niedrigen Hartz IV, sondern aus einem anständigen Mindestlohn.
Deutschlandradio Kultur: Herr Sommer, anderes Thema. Wir sprachen schon über den Tarifvertrag, den neuen Tarifvertrag mit der Stahlindustrie. Da ist ja bemerkenswert: Erstmals werden Leiharbeit- und Stammarbeitskräfte gleich behandelt, nämlich gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Endlich gilt das in einem Tarifvertrag. Ist das der Durchbruch quer über alle Branchen und Regionen? Wird sich darunter künftig bei Tarifverträgen nichts mehr abspielen?
Michael Sommer: Also, sicherlich setzt das auch Maßstäbe, wie man Tarifpolitik einsetzen kann, um gesellschaftlichen Fortschritt zu erreichen oder Rückschritt zu verhindern oder Rückschritte wieder zu korrigieren. Andererseits sind Tarifverhandlungen immer dadurch geprägt, dass sie natürlich ein Ausgleich der Interessen sind und alles auch bezahlt wird und man natürlich immer die Frage stellen muss: In der Stahlindustrie konnte man auch aufsetzen auf vielen betrieblichen Regelungen und dieser Industrie geht es momentan auch finanziell relativ gut. Und man hatte dann die Möglichkeit, dort einen vernünftigen Abschluss zu machen. Möglicherweise wäre es sogar möglich gewesen, ich bin nicht Mitglied der Tarifkommission, aber doch einen höheren Lohnprozent durchzusetzen und stattdessen auf die Gleichbehandlung zu verzichten. Die IG Metall hat es Gott sei Dank nicht getan. – Ich will nur sagen, alles in seinem Leben hat seinen Preis, in der Tarifpolitik insbesondere.
Deutschlandradio Kultur: Ist es der Durchbruch?
Michael Sommer: Es ist sicherlich für uns ein deutliches Zeichen, was es ist, dass es ein Durchbruch ist. Und es ist vor allen Dingen ein Signal an die Politik, zu sagen, natürlich, wenn die Tarifvertragsparteien da, wo sie können, handeln ... Weil, wir erreichen ja mit Tarifmaßnahmen nicht alle. Wir haben eine Tarifbindung in der indirekten und direkten Wirkung von 70, 75 Prozent. Sie wissen das selber. Also, ich rede insbesondere auch von der indirekten Wirkung. Aber mir geht's auch um die 25 Prozent derer, die dann durch den Drehtüreffekt permanent wieder ausgesondert werden und die als Lohndumper eingesetzt werden.
Deswegen glaube ich, dass die Tarifpolitik hier sicherlich ergänzend, flankierend, wenn man so will auch als Katalysator wirken kann, aber im Kern ist das eine Frage, die der Gesetzgeber regeln muss. Und meine Aufgabe ist, den notwendigen Druck auf Frau von der Leyen und Herrn Brüderle und die Frau Merkel so auszuüben, dass wir tatsächlich jetzt zum Durchbruch des Themas "gleicher Lohn für gleiche Arbeit", spätestens nach einer kurzen Einarbeitungszeit, und zu einem Mindestlohn bei der Zeitarbeit kommen. Der Gesetzgeber ist gefordert. Die Tarifvertragsparteien sind da eher, wenn man so will, komplementär handelnd.
Deutschlandradio Kultur: Also Mindestlohn bei der Zeitarbeit. Ist das auch eine der zentralen Forderungen, die Sie in den nächsten Wochen noch mal aufstellen werden?
Michael Sommer: Ich glaube, das ist innerbetrieblich das, was insbesondere die Kolleginnen und Kollegen am meisten wirklich ernsthaft aufregt. Die sagen: Wir haben unglaublich viel getan, um diese Läden durch die Krise zu führen. Und jetzt kommt ihr und versucht wieder Lohndumping zu machen und Ähnliches mehr und versucht uns mit Leiharbeit praktisch jede Form von Beschäftigung kaputtzumachen. – Und ich füge hinzu: Wir haben ja weltweit, aber auch in Deutschland, den Zug nach Entwertung von guter Arbeit und die Zunahme von prekärer Arbeit. Will sagen: Es nehmen Arbeitsformen zu, wo Menschen keine soziale Sicherheit haben, mindere soziale Rechte, schlechter bezahlt werden. Und wir erleben, dass davon insbesondere Frauen und Jugendliche betroffen werden, und das weltweit, aber eben auch in Deutschland.
Deswegen werden wir uns gegen diese Form von Arbeit stemmen, weil wir eine gute Ordnung, eine neue soziale Ordnung, auch auf den Arbeitsmärkten wollen. Und da geht das dann sehr viel prinzipieller. Ich glaube auch, dass das ein Thema ist, was die Menschen akzeptieren und wollen. Die wollen diese Form von Leiharbeit und diese Form von prekärer Beschäftigung.
Deutschlandradio Kultur: Aber Herr Sommer, noch mal: Der Mindestlohn für Zeitarbeiter, diese Einsicht ist doch mittlerweile fast parteiübergreifend da und dennoch haben wir sie noch nicht. Selbst aus CDU-Kreisen, das ist eigentlich notwendig. Wie erklären Sie sich, dass das nicht vorangeht? Und bei den Zeitarbeitsverbänden tut sich ja auch was.
Michael Sommer: Sie haben sicherlich Recht, wenn Sie sagen, es gibt die Einsicht, dass es mit der Zeitarbeit so nicht weitergehen kann. Andererseits hab ich den Eindruck, dass wir es mit einer doppelten Blockade zu tun haben. Wenn Sie mit der FDP reden, dann sagen die: Eigentlich akzeptieren wir, dass es nach einer bestimmten Zeit den Grundsatz "gleicher Lohn für gleiche Arbeit" geben muss. Dann sagen die mir "halbes Jahr". Dann sage ich, Leute, ist mit uns nicht zu machen, halbes Jahr, wir wollen ab sofort.
Auf der anderen Seite sagt die Union: Unser Schwerpunkt liegt beim Mindestlohn. – Jetzt blockieren die sich wechselseitig. Ich weiß gar nicht, ob das ein Spielchen ist, um letztendlich jeden Fortschritt zu verhindern. Ich habe denen gesagt: Wir können das meinetwegen auch zeitlich staffeln. Wir fangen an mit gleichem Lohn und machen Mindestlohn dann rechtzeitig vor der EU-Ost-Erweiterung, also bis dann die Arbeitnehmerfreizügigkeit durchgeführt ist. Weil, das führt sonst dazu, dass in Deutschland jeder Lohn getunnelt wird über die Leiharbeit.
Deutschlandradio Kultur: Ist das immer der Hebel?
Michael Sommer: Das ist der zentrale Hebel, bis hin zu bereits ausgehandelten Mindestlöhnen, die gesetzlich erklärt werden. Die brauchen ja nur zu sagen, ich setze in dem Bereich Leiharbeitsfirmen ein, und dann können sie das aushebeln. Deswegen brauchen wir beides.
Mein Problem ist momentan: Sie haben ja völlig Recht, wenn ich mit CDUlern rede, egal mit wem, selbst also mit dem Vorsitzenden des Wirtschaftsflügels und so, mit dem Herrn Schlarmann kann man natürlich nicht vernünftig reden, aber mit dem Rest geht das schon, da sage ich Ihnen, die Einsicht ist da, klar. Ich merke das. Die Einsicht ist wirklich da, auch bei Michael Fuchs und ähnlichen Leuten. Die sagen, ja, Sie haben ja Recht. Auf der anderen Seite sagt mir der Kolb von der FDP oder der Brüderle, ja, also, beim gleichen Lohn könnten wir was machen.
Deutschlandradio Kultur: Also, die FDP bremst?
Michael Sommer: Nein, die bremsen sich wechselseitig aus. Der eine sagt, ich will den Mindestlohn, aber nicht Equal Pay. Der andere sagt, ich will Equal Pay, aber nicht den Mindestlohn. Und die FDP bremst, die bremsen sich wechselseitig. Ich weiß gar nicht, ob das möglicherweise ein abgekartetes Spiel ist. Und wir müssen jetzt mal durchgehen und da wirklich durchreißen. Und da bin ich, sage ich Ihnen auch, da zielen auch unter anderem die Herbstaktionen drauf, dass, wenn wir schon den Herbst der Entscheidungen haben, Frau Bundeskanzlerin, dann entscheiden Sie mal.
Deutschlandradio Kultur: Es fiel schon mehrfach von Ihrer Seite auch das Stichwort "prekäre Beschäftigungsverhältnisse", das Stichwort "Hartz IV". In der abgelaufenen Woche wurde ja bekannt, die Koalition hat sich, zunächst einmal intern, auf neue Zuverdienstregeln für Hartz IV-Empfänger verständigt. Das bedeutet, Hartz IV-Bezieher mit einem Einkommen zwischen 800 und 1.000 Euro können künftig bis zu 20 Euro weniger angerechnet bekommen auf das Arbeitslosengeld II. In dieser Einkommensgruppe sind das keine Peanuts.
Macht das aus Ihrer Sicht Sinn?
Michael Sommer: Ja, es hilft möglicherweise dem einzelnen Betroffenen. Das kann sein. Erstens ist das ja nur ein Minischritt. Der zweite Punkt ist, ich habe mich immer dagegen gewehrt, dass wir eigentlich die Regel zur Ausnahme erklären und die Ausnahme zur Regel. Will sagen: Im Vordergrund muss doch stehen, Arbeit zu schaffen und nicht Zuverdienstmöglichkeiten. Zum größten Teil handelt es sich hier auch um Arbeit. Wir haben 1,4 Mio. Menschen aktuell, die in Hartz IV mit Zuverdienst oder Hartz IV ergänzend drin liegen.
Deutschlandradio Kultur: Halbe-Halbe.
Michael Sommer: Halbe-Halbe, 1,4 Mio. Menschen. Die eine Hälfte kriegt Zuverdienst und die andere Hälfte sind Aufstocker – 1,4 Mio. Menschen! Im Prinzip 1,4 Mio. Menschen, die arbeiten wollen, ganz offensichtlich, die aber nicht die ausreichend Arbeit finden, um sich davon ernähren zu können. Und unser Punkt muss doch sein, den Menschen nicht zusätzlichen Zuverdienst zu geben, sondern unsere Aufgabe muss doch sein, auch diesen Menschen eine Arbeitsperspektive zu geben, von der sie selbständig arbeiten können.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt also, nicht nur einfach rumdoktern, bisschen mehr oder ein bisschen weniger, sondern das Ding auf neue Füße stellen – aber wo?
Michael Sommer: Ja. Wie, heißt wirklich, ich sag mal, alle Möglichkeiten nutzen, um auch dieser Ideologie von "Geiz ist geil" auch bei Beschäftigungsverhältnissen entgegen zu wirken. Jetzt nenne ich Ihnen ein Beispiel, was möglicherweise dem einen oder anderen nicht gefällt, aber ich sag's Ihnen trotzdem: In dieser Stadt hier, in Berlin, wo wir jetzt sitzen, was ja auch meine Heimatstadt ist, gibt es unglaublich viele Menschen, die in der sogenannten Sozialwirtschaft ihre Beschäftigung finden. Zum größten Teil sind das auch Bereiche, die aus dem öffentlichen Dienst ausgegliedert wurden, um privatwirtschaftlich geführt zu werden, damit man die Tarife, die im öffentlichen Dienst bezahlt werden müssten, unterlaufen kann.
Ist das der Weg, dass wir dann zum Schluss so lange ausgliedern, bis wir die Leute dann in die staatliche Lohnsubvention führen, weil man letztendlich nicht in der Lage ist, die Staatshaushalte vernünftig durchzufinanzieren? Das ist ein Beispiel von vielen. Wir haben auch viele andere Beispiele, wo Unternehmer einfach sagen: Warum sollte ich einen höheren Lohn bezahlen, wenn ich meinen Gewinn behalten kann und der Staat zahlt drauf?
Das sind alles Wege, wo ich sage, man muss das Verhältnis umkehren. Man muss sagen: Die Regel in diesem Land ist eine menschenwürdige Arbeit. Und dann helfe ich, dass Menschen, wenn sie möglicherweise nicht auskommen aufgrund ihrer persönlichen sozialen Situation, als Staat zusätzlich. Das wäre die Umkehrung des Verhältnisses.
Deutschlandradio Kultur: Wir haben begonnen zu sprechen über die Kundgebung, die der DGB macht, die der DGB plant. Vor allen Dingen, sagten Sie, soll das auch in Betrieben stattfinden. Wenn Sie sich auf der anderen Seite, das klang ja auch an, kümmern um prekäre Beschäftigung, um Hartz IV, um Aufstocker und diese Themenkreise, finden Sie eigentlich in den Betrieben bei den Menschen, die ja dort – im Regelfall zumindest – voll versicherungspflichtig beschäftigt sind, finden Sie da offene Ohren in jeder Zeit? Oder sagen die Leute, das ist nicht mein Ding, davon bin ich zum Glück nicht betroffen?
Michael Sommer: Ich glaube schon, dass man offene Ohren findet, nicht automatisch und nicht sofort. Bei Hartz IV kriegen Sie sofort offene Ohren. Die Leute sind ja viel schlauer als die meisten Politiker meinen. Die wissen doch schlicht und ergreifend, dass – wenn sie arbeitslos werden – auch in dieses Schicksal kommen könnten.
Das Zweite ist: Es handelt sich ja auch um viele, auch in den Betrieben, um viele Menschen, die wissen, dass sie zwei, drei Einkommen brauchen, um einigermaßen durchzukommen. Die denken ja auch nicht wie ein normaler Statistiker, sondern die denken in Familieneinkommen. Die sagen, ich hab noch ein Kind und wir wollen auch noch vielleicht noch mal verreisen und da steht die Klassenfahrt an und so.
Deswegen glaube ich schon, dass man dort sehr viele offene Ohren findet. Aber vielleicht – und wenn das Ihre Frage andeuten sollte, dann würde ich sehr nachdenklich antworten: Es wird, glaube ich, immer schwieriger in dieser Gesellschaft, nicht in den Betrieben generell, aber in dieser Gesellschaft, so etwas wie Solidarität zu formulieren, also wegzukommen von dem Sankt-Florians-Prinzip. Wenn beim anderen es brennt, Hauptsache es brennt bei mir nicht. Das haben die Gewerkschaften bislang erreicht, dass diese Solidarität gehalten hat.
Nur gesamtgesellschaftlich sehe ich die große Gefahr, dass das immer schwieriger wird und immer mehr auseinanderrückt.
Deutschlandradio Kultur: Herr Sommer, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.
Michael Sommer: Bitteschön.
Michael Sommer: Ach, na ja, wenn Sie ein bestimmtes Lebensalter erreicht haben wie ich, dann haben Sie schon ein paar Protestkulturen erlebt. Deswegen, ob das neu ist oder nicht, das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass, wenn die Gewerkschaften antreten und wenn sie das auch mit einer langen Vorankündigung machen, wie wir es getan haben seit dem DGB-Kongress, dass wir gesagt haben, wenn ihr die falschen Entscheidungen nach der Krise trefft, müsst ihr damit rechnen, dass wir auch zu Aktionen gehen, dass das dann auch kräftige Aktionen werden.
Wir haben uns bewusst entschieden, auf die – wenn man so will – übliche Großdemonstration zu verzichten, sondern sehr viel stärker dezentral anzugreifen und auch den Protest in die Betriebe zu tragen, weil wir wissen, dass ja die, insbesondere auch die Fabrikbesitzer und Geschäftsführer von Unternehmen diejenigen sind, die diese im Wesentlichen stützen und damit die dann auch ihre Botschaft an diese Regierung weitergeben, dass das so nicht geht.
Und von daher, unsere Aktionen sind erfolgreich angelaufen. Auch die Demonstration jetzt in Brüssel des Europäischen Gewerkschaftsbundes betrachte ich auch im Nachhinein als Erfolg. Ich selber war in Spanien beim Generalstreik, wo ich mit 400.000 Leuten demonstriert habe gegen eine falsche Sparpolitik und den Versuch, Arbeitnehmerrechte in Spanien zu schleifen.
Wissen Sie, ich glaube schon, dass die Gewerkschaften über lange Sicht gesehen wirklich die Konstante sind, wenn es darum geht, Menschen für eine andere, für eine bessere Politik zu mobilisieren. Womit ich überhaupt nicht in Abrede stellen will, dass die Anliegen von der Anti-Atomkraft-Bewegung bis hin zu denjenigen, die in Stuttgart gegen eine völlig intransparente Form von teilweise verlogener Politik kämpfen, dass ich diese Anliegen hoch achte und auch sehe, dass das große Mobilisierungsmöglichkeiten gibt. Aber mir geht's insbesondere darum, dass wir deutlich machen: Es gibt in Deutschland eine soziale Schieflage und die wollen wir wieder ins Lot rücken. Und es gibt sicherlich auch mittlerweile eine gesellschaftliche. Aber darüber werden wir sicherlich noch sprechen.
Deutschlandradio Kultur: Aber dann sagen Sie doch mal, wenn Sie sagen, 400.000 Leute waren es in Madrid, wie viele werden es denn bei dem heißen Herbst, den Sie der schwarz-gelben Regierung versprochen haben, werden? Auch 400.000?
Michael Sommer: Wissen Sie, ich hab mir angewöhnt, wir rechnen zum Schluss ab. Das ist auch ganz schwierig zu sagen. Ich alleine habe jetzt, wenn denn nur mal meine Terminlage für den Oktober nehme und für den Anfang November, ich hab drei große Kundgebungen, vier kleinere Veranstaltungen, Betriebsbesuche, Betriebsversammlungen. Und wenn Sie das alles zusammenrechnen, glaube ich, wir werden mit Sicherheit mehrere Hunderttausend Menschen in den Betrieben und außerhalb mobilisieren. Ich werde die Zahl nicht zusammenrechnen, weil, es wäre auch unlauter.
Wir werden zum Beispiel Betriebsversammlungen nutzen. Die finden regelmäßig statt in vielen Betrieben, aber wir werden sie in diesem Jahr umfunktionieren. Jetzt können Sie sagen, ist das eine Protestveranstaltung, ist das eine Betriebsversammlung?
Deutschlandradio Kultur: Ist das oberhalb der Wahrnehmungsschwelle jetzt für die Öffentlichkeit?
Michael Sommer: Uns geht's erst mal darum, dass das eine Wahrnehmungsschwelle bei den Arbeitgebern gibt, weil, es geht zum Beispiel um die Frage, dass wir uns nicht damit abfinden werden, dass im Aufschwung der Beschäftigungsaufbau wieder nur Leiharbeit stattfindet, sprich, mit dem Versuch, Lohndumping zu machen und die prekäre Arbeit in Deutschland sozusagen 100 Prozent hoffähig zu machen. Da richtet sich unser erster Punkt hin.
Der zweite Punkt ist, er wird sich an die Öffentlichkeit wenden, insbesondere, wenn es um die Finanzen der Kommunen geht. Und er wird sich an die Politik wenden. Und ich glaube schon, wir werden öffentlich wahrnehmbar sein nach der ersten Welle in den Betrieben, wenn wir Anfang November in großen Städten große regionale Kundgebungen machen. Wir planen in Dortmund, wir planen in Nürnberg, wir planen in Stuttgart, wir planen in Hannover, wir planen in Kiel.
Deutschlandradio Kultur: Aber nicht zentral, nirgendwo.
Michael Sommer: Nee, bewusst nicht, weil das Problem...
Deutschlandradio Kultur: Weil zu wenig kommen könnten?
Michael Sommer: Nein, nicht deshalb, sondern weil ich auch die Erfahrung gemacht habe und meine Kolleginnen und Kollegen auch, dass dieses – nennen wir es mal – "Schröder-Phänomen" einsetzt, dass man meint, 300.000 Leute aussitzen zu können, was er 2004 gemacht hat und sich heute noch wundert, dass er 2005 die Wahlen verloren hat. Ich wundere mich da nicht drüber. Wenn er nach der Demonstration damals zu uns gekommen wäre und gesagt hätte, lasst uns mal miteinander reden, wäre möglicherweise manches anders gelaufen.
Übrigens hat die Kanzlerin nach der großen Kundgebung im vergangenen Jahr, die wir ja im Mai hatten, anders reagiert. Damals hatten wir hier in Berlin beim europäischen Aktionstag 100.000 hier auf der Straße. Und am Montagmorgen rief sie mich an, also, das war Samstag, am Montagmorgen rief sie mich an und hat zu mir gesagt, Herr Sommer, ich glaube, ich muss mich mit den Gewerkschaftsvorsitzenden zusammensetzen. – Also, da war schon ein anderes Reaktionsmuster da. Aber wir greifen nach den Mitteln, die wir für adäquat halten. Und wir glauben, dass es sehr viel sinnvoller ist, diesmal sehr breiter in der Fläche anzugreifen als zu meinen, man müsste das so machen.
Wenn ich nur mal noch ein kurzes Wort sagen darf dazu, wie man es falsch macht: Ich war jetzt in Spanien, wie ich gesagt habe. Generalstreik, sehr erfolgreich mit Ausnahme der Bereiche mit prekären Beschäftigten. Die Regierung Zapatero macht das Gleiche wie Schröder, versucht das zu ignorieren, auszusitzen. Das Problem ist, wir werden wahrscheinlich über diese Art von Politik die vorletzte sozialdemokratische Regierung in Europa verlieren. Ich halte das für wirklich fatal. Aber ganz offensichtlich sind einige Leute nicht belehrbar, dass man auf den Protest von Menschen hören muss. Das gilt übrigens auch für Stuttgart 21. Wer sich dort nicht bewegt, sondern meint, er könne Landgrafspiele dort machen, oder, wer wie bei der Anti-Atomkraft-Bewegung einen vernünftigen Kompromiss einfach aufkündigt, der wird dann tatsächlich in verschiedenen Formen den heißen Herbst kriegen.
Wir werden sicherlich unseren Beitrag im Bereich der sozialen Rechte dazu beitragen, aber das geht dann weit darüber hinaus. Wenn die Kanzlerin jetzt den "Herbst der Entscheidungen" ankündigt, hab ich den Eindruck, die ist ja eigentlich eine kluge Frau, dass sie bedauerlicherweise sich jetzt in ihrer Koalition zum Herbst der falschen Entscheidungen treiben lässt.
Deutschlandradio Kultur: Aber noch mal mit dem Herbst der Entscheidungen, wo Sie sagen, "wir machen den heißen Herbst, wenn das tatsächlich bei der sozialen Schieflage bleibt". Der DGB hätte doch schon gerne diese Großdemonstration gehabt. IG-Metall-Vertreter waren da etwas zögerlicher. Anscheinend ziehen nicht alle an einem Strang, was die politische Demonstration im öffentlichen Raum betrifft.
Michael Sommer: Wissen Sie, es ist, glaube ich, wirklich für den DGB nicht ernsthaft ein Problem, mit einem gewissen Vorlauf eine sechsstellige Zahl von Menschen zu mobilisieren, um zu demonstrieren, wenn wir den Anlass haben. Und der Anlass in diesem Land ist da. Es geht ja nicht darum zu demonstrieren um des Demonstrierens willen, sondern es geht ja darum zu sagen, dieses Land ist wirklich in einer sozialen Schieflage – von der Gesundheitsreform über die Leiharbeit, über die Frage der Niedriglöhne, bis dazu, dass wir in weiten Bereichen ja vieles noch nicht erledigt haben, was wir erledigen müssten, und dass die Krise nach wie vor voll auf dem Rücken der kleinen Leute abgezahlt werden soll. Also, es gäbe genug Grund, die Leute zu mobilisieren.
Wir sagen, wir tragen den Protest da hinein, wo es denen wehtut, den Parteien, und die spüren es. Die spüren es draußen vor den Landtagen. Die spüren es in den Kommunen. Die spüren es in den Betrieben. Ich glaube, das ist sehr viel effektiver, wenn man es dann auch mischt mit Formen von öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen, wie wir sie machen.
Deutschlandradio Kultur: Herr Sommer, vielleicht gibt's noch einen anderen Grund, dass aus unserer Sicht es dann doch nicht ganz so ein heißer Herbst wird, wie Sie das jetzt für sich in Anspruch nehmen. Wir erleben in Deutschland einen überraschend starken wirtschaftlichen Aufschwung. Ist vielleicht auch deswegen die Gefahr da, dass die Proteste ins Leere laufen?
Michael Sommer: Also, erst mal freue ich mich, dass wir diesen wirtschaftlichen Aufschwung haben. Wir haben nämlich unseren Beitrag dazu geleistet. Wir wissen gleichzeitig, wie gefährdet dieser Aufschwung ist, weil, er fußt allein wieder auf der Exportindustrie. Und wenn Sie jetzt schon sehen, was jetzt zum Beispiel sich im Bereich der Währung an Konflikten zwischen Staaten und zwischen Währungsräumen abspielt, dann wissen Sie, wie fragil das ist. Und deswegen brauchen wir auch die zweite Entsprechung dessen, dass wir in dieser Wirtschaft stabilisieren können. Nichtsdestotrotz, ich freu mich darüber, wenn wir nicht fünf Millionen Arbeitslose, sondern drei Millionen haben. Wobei, ich würde mich noch mehr darüber freuen, wenn wir nur noch anderthalb Millionen hätten. Aber das ist ein anderes Thema.
Der entscheidende Punkt ist der, dass wir auch nach der Krise wissen, die haben nichts aus der Krise so gelernt, dass die nächste Krise verhindert werden kann. Und die Lasten der Krise werden einseitig zulasten der kleinen Leute, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der sozial Schwachen abgeladen. Und deswegen werden wir dagegen vorgehen.
Deutschlandradio Kultur: Aber wenn in der Stahlindustrie Tarifabschlüsse von 3,6 Prozent unterschrieben werden, das ist doch nicht zulasten der Mitarbeiter, sondern die kommen endlich mal wieder in Lohnerhöhungen, wo es sich auch lohnt, mal in die Tüte zu gucken.
Michael Sommer: Also, erstens haben die uns das doch nicht geschenkt. Die wussten doch haargenau in der Stahlindustrie, dass – wenn sie nicht zu dem vernünftigen Abschluss kommen – sie einen Arbeitskampf kriegen. Und wir sind doch in der Stahlindustrie so blendend organisiert, dass wir doch, sagen wir mal, glaubwürdig drohen können. Das ist ja das schönste am Streikrecht, dass man es nicht ausüben muss, sondern dass man erst mal damit glaubwürdig drohen kann. – Der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist der: In der Stahlindustrie hat es doch davor, wenn wir nur bei dem Beispiel bleiben, wegen der extrem miesen Stahlkonjunktur, wegen des Einbruches, den es da gab, wegen auch der reihenweise, ja, auch der Angst vor Schließung von Werken doch Formen von innerbetrieblichem, außerbetrieblichem Lohnverzicht gegeben. Wir haben alles Mögliche gemacht, um Betriebe zu stabilisieren. Dass wir jetzt, nachdem die ökonomische Krise erst mal überwunden ist, sagen, jetzt sind wir auch dran, das ist doch ganz normal. Aber das darf doch nicht verkennen, dass wir über Jahre, über Jahrzehnte mit einer extrem klugen Tarifpolitik, die Deutschland zum hochproduktivsten Land der Welt mitgemacht haben, dass wir tatsächlich auch – ich sage mal – im wahrsten Sinne des Wortes eine moderate beschäftigungssichernde Tarifpolitik betrieben haben. Da muss man doch jetzt nicht sagen, jetzt, wenn die Leute auch mal kommen wollen und sagen, wir wollen unseren Anteil, dass man diesen Anteil dann auch nimmt.
Deutschlandradio Kultur: Hat Brüderle Recht, wenn er sagt, es ist zwar nicht seine Baustelle, darüber müssen wir nicht diskutieren, aber hat Brüderle Recht, wenn er sagt, "jetzt sind auch mal die Arbeitnehmer dran"? 3,6 Prozent, das ist doch eine gute Orientierungsmarke.
Michael Sommer: Ach, wissen Sie, wenn mir jetzt so ein FDP-Politiker das sagt, hab ich immer so ein Problem.
Deutschlandradio Kultur: Dann sagen Sie's.
Michael Sommer: Jetzt mal ganz ernsthaft. Der sagt dann ja morgen auch, "Leistung muss sich wieder lohnen". Und ich hatte noch ein Gespräch mit dem FDP-Generalsekretär und hab dem gesagt: Aber um wessen Leistung geht's denn eigentlich? Geht's um die Leistung derer, die in diesem Land die Coupons abschneiden? Oder geht's um die Leistung derer, die jeden Morgen ihren Hintern aus dem Bett bewegen und dieses Land am Laufen halten? – Um es mal um bisschen Tacheles zu sagen.
Und mir geht es um die Zweiten. Und da sage ich, da muss sich die Leistung wieder lohnen. Und wenn der Brüderle sagt, kräftige Lohnerhöhungen sind notwendig, dann sage ich: Ist ne wichtige Erkenntnis eines Wirtschaftsministers, dass er einen Beitrag leisten will, die Binnenkonjunktur in diesem Land zu stärken. Und ansonsten soll er sich aus der Tarifpolitik raushalten. So einfach ist das.
Deutschlandradio Kultur: Aber trotzdem müsste es Sie doch freuen, wenn selbst aus liberaler Sichtweise gesagt wird, wir müssen jetzt tatsächlich den Arbeitnehmern mehr%e in die Lohntüte geben. Insofern ist doch die Zeit für Arbeitnehmer im Moment gar nicht so schlecht.
Michael Sommer: Das hat ja bei mir auch nicht zu prinzipieller Verärgerung geführt, dass der Herr Brüderle die Einsicht hat, dass – wenn die Menschen mehr verdienen – es auch dem Land besser geht. Das ist ja eine wichtige Einsicht für eine Wirtschaft. – Ich meine, eigentlich eine, die man auch erwarten kann.
Der zweite Punkt ist der, und dann kommt in mir der klassische Gewerkschafter hoch und übrigens auch der klassische Freund des Deutschen Grundgesetzes: Aus gutem Grund haben wir die Tarifautonomie in die Hände der Tarifvertragsparteien gegeben. Und wir halten schön den Staat raus. Zum Staat gehört derzeit auch Herr Brüderle.
Deutschlandradio Kultur: Herr Sommer, die Kanzlerin, damit sind wir wieder bei der Regierung, die Kanzlerin hat angekündigt, einen strikt konservativ-liberalen Kurs einzuschlagen und dabei auch Streit in Kauf zu nehmen. Auf einmal regiert Frau Merkel also und zeigt klare Kante. Zeigt sich jetzt ihr wahres Gesicht oder was hat sich da getan?
Michael Sommer: Ich vermute, aufgrund des innerparteilichen Drucks, weil sie ja auch einen Wirtschaftsflügel hat, der dann meint, man müsse jetzt mal ein bisschen was anderes machen, auch auf Druck der FDP... – Ich hatte immer gehofft, dass sich bei der FDP, auch aufgrund der Tatsache, dass natürlich auch Politik zwischen Bundestagswahlen stattfindet und aufgrund ihrer schlechten Ergebnisse sich die Einsicht durchsetzt, dass ein absolut neoliberaler Kurs nicht durchhaltbar ist, und ich hatte bei der CDU eigentlich die Hoffnung, dass die Krisenerfahrung selber, die dazu bringt zu sagen: Warum führen wir den erfolgreichen Weg nicht fort, den erfolgreichen Weg der sozialen Balance? Leider hat sich diese Hoffnung nicht erfüllt. Da muss man eben auch in die gesellschaftliche Auseinandersetzung gehen.
Deutschlandradio Kultur: Wie werden Sie das denn manchen? Mit dem heißen Herbst, das haben Sie angekündigt. Sie werden in den Betrieben sein. Sie werden aber auch vor allen Dingen versuchen, diejenigen, die am Rand der Gesellschaft sind, also Hartz IV-Empfänger, Aufstocker etc., deren Sprachrohr zu werden in den nächsten Wochen?
Michael Sommer: Erst mal sind wir das Sprachrohr der arbeitenden Menschen prinzipiell. Und wir sind die Interessenvertreter insbesondere auch der Menschen, die in den Betrieben arbeiten, aber dann zu sehr, sehr unterschiedlichen Bedingungen und zu sehr, sehr unterschiedlichen auch Einkommen.
Ich habe mal als junger Gewerkschaftssekretär für meinen damaligen Chef einen Aufsatz geschrieben über die Frage: Wie hält man eigentlich so eine Gewerkschaft zusammen? – Und wenn Sie das mal genauer durchdenken, was wir auch in Deutschland als Einheitsgewerkschaftssystem haben, dann stellen Sie fest, dass wir innerhalb der Gewerkschaften die unterschiedlichsten Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu bündeln und zu konzentrieren haben. Und Sie brauchen ein einigendes Band darum, um wirksam die Interessen von Arbeitnehmern einbringen zu können.
Und dieses einigende Band ist, glaube ich, so etwas wie der kleine Fortschritt und die soziale Gerechtigkeit. Mir geht's jetzt gar nicht darum, dass ich Sprachrohr für die Hartz IV-Empfänger werde. Sie werden von mir keine Zahl hören, ich hab auch bislang keine gesagt, wie hoch eine Hartz IV-Erhöhung sein sollte, weil ich sage, ich will eigentlich, dass wir zu menschenwürdigeren Verhältnissen für diese Menschen kommen, aber ich will gleichzeitig auch, dass ich sage, ja, es muss ein Lohnabstandsgebot geben, aber das berechnet sich nicht aus dem niedrigen Hartz IV, sondern aus einem anständigen Mindestlohn.
Deutschlandradio Kultur: Herr Sommer, anderes Thema. Wir sprachen schon über den Tarifvertrag, den neuen Tarifvertrag mit der Stahlindustrie. Da ist ja bemerkenswert: Erstmals werden Leiharbeit- und Stammarbeitskräfte gleich behandelt, nämlich gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Endlich gilt das in einem Tarifvertrag. Ist das der Durchbruch quer über alle Branchen und Regionen? Wird sich darunter künftig bei Tarifverträgen nichts mehr abspielen?
Michael Sommer: Also, sicherlich setzt das auch Maßstäbe, wie man Tarifpolitik einsetzen kann, um gesellschaftlichen Fortschritt zu erreichen oder Rückschritt zu verhindern oder Rückschritte wieder zu korrigieren. Andererseits sind Tarifverhandlungen immer dadurch geprägt, dass sie natürlich ein Ausgleich der Interessen sind und alles auch bezahlt wird und man natürlich immer die Frage stellen muss: In der Stahlindustrie konnte man auch aufsetzen auf vielen betrieblichen Regelungen und dieser Industrie geht es momentan auch finanziell relativ gut. Und man hatte dann die Möglichkeit, dort einen vernünftigen Abschluss zu machen. Möglicherweise wäre es sogar möglich gewesen, ich bin nicht Mitglied der Tarifkommission, aber doch einen höheren Lohnprozent durchzusetzen und stattdessen auf die Gleichbehandlung zu verzichten. Die IG Metall hat es Gott sei Dank nicht getan. – Ich will nur sagen, alles in seinem Leben hat seinen Preis, in der Tarifpolitik insbesondere.
Deutschlandradio Kultur: Ist es der Durchbruch?
Michael Sommer: Es ist sicherlich für uns ein deutliches Zeichen, was es ist, dass es ein Durchbruch ist. Und es ist vor allen Dingen ein Signal an die Politik, zu sagen, natürlich, wenn die Tarifvertragsparteien da, wo sie können, handeln ... Weil, wir erreichen ja mit Tarifmaßnahmen nicht alle. Wir haben eine Tarifbindung in der indirekten und direkten Wirkung von 70, 75 Prozent. Sie wissen das selber. Also, ich rede insbesondere auch von der indirekten Wirkung. Aber mir geht's auch um die 25 Prozent derer, die dann durch den Drehtüreffekt permanent wieder ausgesondert werden und die als Lohndumper eingesetzt werden.
Deswegen glaube ich, dass die Tarifpolitik hier sicherlich ergänzend, flankierend, wenn man so will auch als Katalysator wirken kann, aber im Kern ist das eine Frage, die der Gesetzgeber regeln muss. Und meine Aufgabe ist, den notwendigen Druck auf Frau von der Leyen und Herrn Brüderle und die Frau Merkel so auszuüben, dass wir tatsächlich jetzt zum Durchbruch des Themas "gleicher Lohn für gleiche Arbeit", spätestens nach einer kurzen Einarbeitungszeit, und zu einem Mindestlohn bei der Zeitarbeit kommen. Der Gesetzgeber ist gefordert. Die Tarifvertragsparteien sind da eher, wenn man so will, komplementär handelnd.
Deutschlandradio Kultur: Also Mindestlohn bei der Zeitarbeit. Ist das auch eine der zentralen Forderungen, die Sie in den nächsten Wochen noch mal aufstellen werden?
Michael Sommer: Ich glaube, das ist innerbetrieblich das, was insbesondere die Kolleginnen und Kollegen am meisten wirklich ernsthaft aufregt. Die sagen: Wir haben unglaublich viel getan, um diese Läden durch die Krise zu führen. Und jetzt kommt ihr und versucht wieder Lohndumping zu machen und Ähnliches mehr und versucht uns mit Leiharbeit praktisch jede Form von Beschäftigung kaputtzumachen. – Und ich füge hinzu: Wir haben ja weltweit, aber auch in Deutschland, den Zug nach Entwertung von guter Arbeit und die Zunahme von prekärer Arbeit. Will sagen: Es nehmen Arbeitsformen zu, wo Menschen keine soziale Sicherheit haben, mindere soziale Rechte, schlechter bezahlt werden. Und wir erleben, dass davon insbesondere Frauen und Jugendliche betroffen werden, und das weltweit, aber eben auch in Deutschland.
Deswegen werden wir uns gegen diese Form von Arbeit stemmen, weil wir eine gute Ordnung, eine neue soziale Ordnung, auch auf den Arbeitsmärkten wollen. Und da geht das dann sehr viel prinzipieller. Ich glaube auch, dass das ein Thema ist, was die Menschen akzeptieren und wollen. Die wollen diese Form von Leiharbeit und diese Form von prekärer Beschäftigung.
Deutschlandradio Kultur: Aber Herr Sommer, noch mal: Der Mindestlohn für Zeitarbeiter, diese Einsicht ist doch mittlerweile fast parteiübergreifend da und dennoch haben wir sie noch nicht. Selbst aus CDU-Kreisen, das ist eigentlich notwendig. Wie erklären Sie sich, dass das nicht vorangeht? Und bei den Zeitarbeitsverbänden tut sich ja auch was.
Michael Sommer: Sie haben sicherlich Recht, wenn Sie sagen, es gibt die Einsicht, dass es mit der Zeitarbeit so nicht weitergehen kann. Andererseits hab ich den Eindruck, dass wir es mit einer doppelten Blockade zu tun haben. Wenn Sie mit der FDP reden, dann sagen die: Eigentlich akzeptieren wir, dass es nach einer bestimmten Zeit den Grundsatz "gleicher Lohn für gleiche Arbeit" geben muss. Dann sagen die mir "halbes Jahr". Dann sage ich, Leute, ist mit uns nicht zu machen, halbes Jahr, wir wollen ab sofort.
Auf der anderen Seite sagt die Union: Unser Schwerpunkt liegt beim Mindestlohn. – Jetzt blockieren die sich wechselseitig. Ich weiß gar nicht, ob das ein Spielchen ist, um letztendlich jeden Fortschritt zu verhindern. Ich habe denen gesagt: Wir können das meinetwegen auch zeitlich staffeln. Wir fangen an mit gleichem Lohn und machen Mindestlohn dann rechtzeitig vor der EU-Ost-Erweiterung, also bis dann die Arbeitnehmerfreizügigkeit durchgeführt ist. Weil, das führt sonst dazu, dass in Deutschland jeder Lohn getunnelt wird über die Leiharbeit.
Deutschlandradio Kultur: Ist das immer der Hebel?
Michael Sommer: Das ist der zentrale Hebel, bis hin zu bereits ausgehandelten Mindestlöhnen, die gesetzlich erklärt werden. Die brauchen ja nur zu sagen, ich setze in dem Bereich Leiharbeitsfirmen ein, und dann können sie das aushebeln. Deswegen brauchen wir beides.
Mein Problem ist momentan: Sie haben ja völlig Recht, wenn ich mit CDUlern rede, egal mit wem, selbst also mit dem Vorsitzenden des Wirtschaftsflügels und so, mit dem Herrn Schlarmann kann man natürlich nicht vernünftig reden, aber mit dem Rest geht das schon, da sage ich Ihnen, die Einsicht ist da, klar. Ich merke das. Die Einsicht ist wirklich da, auch bei Michael Fuchs und ähnlichen Leuten. Die sagen, ja, Sie haben ja Recht. Auf der anderen Seite sagt mir der Kolb von der FDP oder der Brüderle, ja, also, beim gleichen Lohn könnten wir was machen.
Deutschlandradio Kultur: Also, die FDP bremst?
Michael Sommer: Nein, die bremsen sich wechselseitig aus. Der eine sagt, ich will den Mindestlohn, aber nicht Equal Pay. Der andere sagt, ich will Equal Pay, aber nicht den Mindestlohn. Und die FDP bremst, die bremsen sich wechselseitig. Ich weiß gar nicht, ob das möglicherweise ein abgekartetes Spiel ist. Und wir müssen jetzt mal durchgehen und da wirklich durchreißen. Und da bin ich, sage ich Ihnen auch, da zielen auch unter anderem die Herbstaktionen drauf, dass, wenn wir schon den Herbst der Entscheidungen haben, Frau Bundeskanzlerin, dann entscheiden Sie mal.
Deutschlandradio Kultur: Es fiel schon mehrfach von Ihrer Seite auch das Stichwort "prekäre Beschäftigungsverhältnisse", das Stichwort "Hartz IV". In der abgelaufenen Woche wurde ja bekannt, die Koalition hat sich, zunächst einmal intern, auf neue Zuverdienstregeln für Hartz IV-Empfänger verständigt. Das bedeutet, Hartz IV-Bezieher mit einem Einkommen zwischen 800 und 1.000 Euro können künftig bis zu 20 Euro weniger angerechnet bekommen auf das Arbeitslosengeld II. In dieser Einkommensgruppe sind das keine Peanuts.
Macht das aus Ihrer Sicht Sinn?
Michael Sommer: Ja, es hilft möglicherweise dem einzelnen Betroffenen. Das kann sein. Erstens ist das ja nur ein Minischritt. Der zweite Punkt ist, ich habe mich immer dagegen gewehrt, dass wir eigentlich die Regel zur Ausnahme erklären und die Ausnahme zur Regel. Will sagen: Im Vordergrund muss doch stehen, Arbeit zu schaffen und nicht Zuverdienstmöglichkeiten. Zum größten Teil handelt es sich hier auch um Arbeit. Wir haben 1,4 Mio. Menschen aktuell, die in Hartz IV mit Zuverdienst oder Hartz IV ergänzend drin liegen.
Deutschlandradio Kultur: Halbe-Halbe.
Michael Sommer: Halbe-Halbe, 1,4 Mio. Menschen. Die eine Hälfte kriegt Zuverdienst und die andere Hälfte sind Aufstocker – 1,4 Mio. Menschen! Im Prinzip 1,4 Mio. Menschen, die arbeiten wollen, ganz offensichtlich, die aber nicht die ausreichend Arbeit finden, um sich davon ernähren zu können. Und unser Punkt muss doch sein, den Menschen nicht zusätzlichen Zuverdienst zu geben, sondern unsere Aufgabe muss doch sein, auch diesen Menschen eine Arbeitsperspektive zu geben, von der sie selbständig arbeiten können.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt also, nicht nur einfach rumdoktern, bisschen mehr oder ein bisschen weniger, sondern das Ding auf neue Füße stellen – aber wo?
Michael Sommer: Ja. Wie, heißt wirklich, ich sag mal, alle Möglichkeiten nutzen, um auch dieser Ideologie von "Geiz ist geil" auch bei Beschäftigungsverhältnissen entgegen zu wirken. Jetzt nenne ich Ihnen ein Beispiel, was möglicherweise dem einen oder anderen nicht gefällt, aber ich sag's Ihnen trotzdem: In dieser Stadt hier, in Berlin, wo wir jetzt sitzen, was ja auch meine Heimatstadt ist, gibt es unglaublich viele Menschen, die in der sogenannten Sozialwirtschaft ihre Beschäftigung finden. Zum größten Teil sind das auch Bereiche, die aus dem öffentlichen Dienst ausgegliedert wurden, um privatwirtschaftlich geführt zu werden, damit man die Tarife, die im öffentlichen Dienst bezahlt werden müssten, unterlaufen kann.
Ist das der Weg, dass wir dann zum Schluss so lange ausgliedern, bis wir die Leute dann in die staatliche Lohnsubvention führen, weil man letztendlich nicht in der Lage ist, die Staatshaushalte vernünftig durchzufinanzieren? Das ist ein Beispiel von vielen. Wir haben auch viele andere Beispiele, wo Unternehmer einfach sagen: Warum sollte ich einen höheren Lohn bezahlen, wenn ich meinen Gewinn behalten kann und der Staat zahlt drauf?
Das sind alles Wege, wo ich sage, man muss das Verhältnis umkehren. Man muss sagen: Die Regel in diesem Land ist eine menschenwürdige Arbeit. Und dann helfe ich, dass Menschen, wenn sie möglicherweise nicht auskommen aufgrund ihrer persönlichen sozialen Situation, als Staat zusätzlich. Das wäre die Umkehrung des Verhältnisses.
Deutschlandradio Kultur: Wir haben begonnen zu sprechen über die Kundgebung, die der DGB macht, die der DGB plant. Vor allen Dingen, sagten Sie, soll das auch in Betrieben stattfinden. Wenn Sie sich auf der anderen Seite, das klang ja auch an, kümmern um prekäre Beschäftigung, um Hartz IV, um Aufstocker und diese Themenkreise, finden Sie eigentlich in den Betrieben bei den Menschen, die ja dort – im Regelfall zumindest – voll versicherungspflichtig beschäftigt sind, finden Sie da offene Ohren in jeder Zeit? Oder sagen die Leute, das ist nicht mein Ding, davon bin ich zum Glück nicht betroffen?
Michael Sommer: Ich glaube schon, dass man offene Ohren findet, nicht automatisch und nicht sofort. Bei Hartz IV kriegen Sie sofort offene Ohren. Die Leute sind ja viel schlauer als die meisten Politiker meinen. Die wissen doch schlicht und ergreifend, dass – wenn sie arbeitslos werden – auch in dieses Schicksal kommen könnten.
Das Zweite ist: Es handelt sich ja auch um viele, auch in den Betrieben, um viele Menschen, die wissen, dass sie zwei, drei Einkommen brauchen, um einigermaßen durchzukommen. Die denken ja auch nicht wie ein normaler Statistiker, sondern die denken in Familieneinkommen. Die sagen, ich hab noch ein Kind und wir wollen auch noch vielleicht noch mal verreisen und da steht die Klassenfahrt an und so.
Deswegen glaube ich schon, dass man dort sehr viele offene Ohren findet. Aber vielleicht – und wenn das Ihre Frage andeuten sollte, dann würde ich sehr nachdenklich antworten: Es wird, glaube ich, immer schwieriger in dieser Gesellschaft, nicht in den Betrieben generell, aber in dieser Gesellschaft, so etwas wie Solidarität zu formulieren, also wegzukommen von dem Sankt-Florians-Prinzip. Wenn beim anderen es brennt, Hauptsache es brennt bei mir nicht. Das haben die Gewerkschaften bislang erreicht, dass diese Solidarität gehalten hat.
Nur gesamtgesellschaftlich sehe ich die große Gefahr, dass das immer schwieriger wird und immer mehr auseinanderrückt.
Deutschlandradio Kultur: Herr Sommer, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.
Michael Sommer: Bitteschön.