"Es ist ein sehr ignorantes Verhalten"
Die Traumatherapeutin Sybille Jatzko übt scharfe Kritik an Duisburgs Oberbürgermeister Sauerland und Sicherheitsdezernent Rabe. Dass sie jede Schuld an dem Unglück von sich wiesen, provoziere Wut und Aggressionen.
Ulrike Timm: 20 Tote, über 500 Verletzte und ungezählte Menschen, die mit den Bildern von Duisburg fertig werden müssen, die mitten im Chaos waren - in Lärm, in Hitze, in Enge, die in Todesangst nicht vor konnten und nicht zurück, neben denen womöglich eines der Opfer starb und die davongekommen sind. Psychologen und Traumatherapeuten versuchen jetzt, diesen Menschen zu helfen. Sybille Jatzko ist eine der erfahrensten Traumatherapeutinnen in Deutschland, sie engagierte sich unter anderem nach dem Unglück bei der Flugschau in Ramstein und nach dem Amoklauf im Erfurter Gutenberg-Gymnasium. Frau Jatzko, guten Morgen!
Sybille Jatzko: Guten Morgen, Frau Timm!
Timm: Frau Jatzko, was benötigen Menschen, die solch eine Katastrophe überstanden haben, am dringendsten?
Jatzko: Am dringendsten benötigen die Menschen – und das ist ja jetzt in Duisburg auch geschehen – durch Notfallseelsorger und Kriseninterventionsdienste erst einmal eine Abschirmung, eine Beruhigung und eine Hinwendung, sodass die Menschen sprechen können, die gerne sprechen wollen, und dass die Menschen einfach auch begleitet werden, die nicht sprechen wollen, und dass man ihnen einfach hilft, jetzt erst einmal zur Ruhe zu kommen. Das wäre das Erste. Das Allererste, und das Zweite natürlich, viele werden wahrscheinlich diese Angebote gar nicht in Anspruch genommen haben. Sie brauchen dann ein Umfeld in der Familie, die ihnen Sicherheit wieder geben, die sie ernst nehmen, die sich hinwenden und die sie auch in Ruhe lassen, wenn sie das Bedürfnis haben.
Timm: Wenn all das nicht reichen sollte, beginnt mitunter eine lange Therapie, eine Traumatherapie. Erkennen Sie als Fachfrau Traumatisierungen, die behandlungsbedürftig sind, eigentlich sofort oder auch erst später?
Jatzko: Na ja, wir haben doch schon gelernt, es relativ schnell erkennen zu können. Wenn die Menschen sehr eingefroren sind, sagen wir die "frozen times", wenn sie keine Gefühle mehr zeigen können, wenn sie fast immer noch den Schrecken im Gesicht stehen haben, die Augen aufreißen, zittern und kaum darüber sprechen können, dann wissen wir schon – und diese Reaktionen entstehen ja schon relativ schnell hinterher –, dann wissen wir schon, dass diese Menschen traumatisiert sind. Ob sich das dann nachher zu einer traumatischen Belastungsstörung entwickelt, das wissen wir dann in dem Moment noch nicht. Denn wir wissen auch, dass sehr, sehr viele Menschen, also 70, 80 Prozent von Traumatisierten, wenn sie hinterher die Ruhe haben, die sie brauchen, dass sich diese Traumata sehr wohl auch wieder reduzieren, dass sie das sehr gut in den Lebenskontext einbauen können und dann wieder Lebensfreude auch empfinden können.
Timm: Das Hauptproblem ist wohl dieser innere Film des Ereignisses …
Jatzko: Ja.
Timm: … der immer wieder abläuft und gegenüber dem sich manche Menschen noch nach Monaten, nach Jahren ohnmächtig fühlen. Vergessen kann man das nie, das ist klar, aber was ist denn genau das Ziel Ihrer Therapie, wann könnten Sie sagen, das ist erfolgreich gewesen, so eine Traumatherapie?
Jatzko: Ja, das Ziel der Therapie ist eigentlich, dieses Erlebnis in das zukünftige Leben jetzt so zu integrieren, dass die Inhalte, die sie partiell immer wieder stören können bei Reizauslösern, dass sie damit umgehen können, dass sie nicht mehr weglaufen müssen, dass sie nicht denken, sie werden verrückt. Dass man kennengelernt hat, welcher Geruch es ist, den ich damit abgespeichert habe und wo ich dann Herzklopfen und Panikattacken bekomme. Welches Geräusch es ist, wo ich plötzlich Herzklopfen auch und wieder Schweißausbrüche kriege, die ja typische Symptome von Traumatisierung sind. Wenn die Menschen sich so kennengelernt haben, dass sie dann partiell mit diesen Symptomen umgehen können, dann haben wir es deutlich mehr integriert. Integriert heißt ja, das abgespaltene Material, das im traumatischen Zustand abgespalten wird und lebenslänglich auf sie aufpassen soll, dass so was Ähnliches nie wieder passiert, das soll verknüpft werden mit der bewussten Wahrnehmung, mit dem Gefühl, mit dem Sprachzentrum. Wenn diese Verknüpfungen alle geschehen sind, dann haben wir es so integriert, dass die Menschen besser damit umgehen können.
Timm: Trotzdem kann ich mir das sehr schwer vorstellen, so ein Erlebnis ist ja eine schreckliche innere Insel, die sich dann im Leben in keiner Weise hoffentlich wiederholt, allein wenn neben einem jemand gestorben ist, wenn man womöglich, ohne es zu wollen, selbst auf jemanden getrampelt ist. Diese Bilder kann man stoppen?
Jatzko: Ja, diese Bilder kann man natürlich insofern stoppen, da gibt es moderne Therapien, das sogenannte EMDR, Augenbewegungsdesensibilisierung, wo man diese Bilder damit tatsächlich etwas besser in den Griff bekommt. Aber es ist für die Betroffenen selber natürlich erst mal sehr schwer, sich mit diesen Bildern wieder zu konfrontieren, denn das heißt ja auch, dass sie das wieder durchleben müssen. Und stellen Sie sich vor, Sie sind in diesem Kessel so eingepfercht, dass Sie sich überhaupt nicht bewegen können und merken oder spüren, dass Sie auf einen Menschen treten und von dem Sie wissen, dass der hinterher vielleicht verstorben ist. Diese Schuldgefühle, ja! Und diese Menschen, die können ja diese Schuldgefühle auch anderen erst mal gar nicht so anvertrauen. Das heißt, das wird später noch Folgen haben. Das kann für diese Menschen bedeuten, die dann dem aus dem Wege gehen, damit sie die nicht immer spüren müssen, dass ein halbes Jahr bis ein Jahr später durch Reizauslöser diese volle Symptomatik reaktiviert und ausbrechen kann, sodass wir im Zusammenhang mit dieser Katastrophe zu verschiedenen Zeiten damit rechnen müssen, dass erneut Menschen mit diesen Symptomen voll konfrontiert werden.
Timm: Das heißt, das, was man erreichen kann bestenfalls, aber das ist sehr viel, ist, dass solche Menschen Regisseur werden über die Filme, die in ihnen ablaufen?
Jatzko: Absolut. Regisseur werden, damit umgehen können und auch selber dann entscheiden können, ob sie in einer Phase sich befinden, wo sie durchgehen können, wo sie nicht mehr weglaufen müssen oder wo sie sich auch davor schützen müssen - das müssen Menschen immer individuell selber entscheiden. Aber so wie sie die Regie haben, haben sie auch die Lebenssicherheit wieder, denn das ist der Kernpunkt, der bei Traumatisierungen verloren geht, die Lebenssicherheit. Und die Lebenssicherheit können wir immer nur den Menschen zurückgeben, indem wir ihnen sagen, dass sie wissen, was für sie gut ist, dass sie der Regisseur sind, dass sie genau das Richtige tun, was für sie selber wichtig und gut ist.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", die Traumatherapeutin Sybille Jatzko erklärt uns, welche Hilfe für die Überlebenden von Duisburg nötig und möglich ist. Frau Jatzko, haben eigentlich die Überlebenden der Katastrophe, die direkten Überlebenden, und die Hinterbliebenen der Opfer, die nicht vor Ort waren, haben die mit ähnlichen Symptomen zu kämpfen?
Jatzko: Na ja, am Anfang durch den Schock wirkt das natürlich sehr, sehr ähnlich, aber tatsächlich ist es so, dass Angehörige, die nicht vor Ort waren, nicht traumatisiert sind. Es ist einer der schwersten Belastungsreaktionen, die wir kennen, und wenn man sein Kind auf eine nicht natürliche Art und Weise verliert, wo der ganze Plan sowieso durchbrochen wird, der Lebensplan, das ist etwas, das werden Sie nie wieder überwinden, das bleibt eine permanente Wunde im Leben, im Herzen, manche Menschen finden überhaupt gar keine Lebensqualität zurück. Da ist Begleitung einfach angezeigt. Und wir wollen uns auch darum bemühen, dass wir jetzt eben die sogenannte Nachsorge, die wir ja vorher schon kennen, dass wir die einrichten - Frau Kraft hat ja gestern schon angeboten, dass sie dafür jetzt sich auch stark machen möchte -, sodass wir langfristige Gruppen, Schicksalsgemeinschaften einrichten werden, in denen die Menschen zusammen sind.
Timm: Sie haben viel Erfahrung damit, haben nach der Katastrophe von Ramstein mitgewirkt, nach dem Erfurter Gutenberg-Gymnasium, nach dem Amoklauf, und Sie bringen in Gesprächsgruppen die Überlebenden und die Angehörigen der Opfer zusammen. Warum?
Jatzko: Ja, das ist sogar sehr wichtig, weil wir gelernt haben, dass die Menschen, die Hinterbliebene sind, die absolute Wahrheit wissen wollen. Und nur dann findet die Fantasie und die innere Welt Ruhe und kann Abschied nehmen, wenn sie die Wahrheit wissen von dem, wie es sich abgespielt hat und was ihre Angehörigen haben durchmachen müssen. Und diese Wahrheit erfahren sie am authentischsten und am besten von den Überlebenden. Und die Überlebenden berichten wiederum ihre traumatischen Bilder Menschen, wo sie das selber als sinnvoll erleben, was sie da tun. Sie helfen sich wirklich gegenseitig. Und die Hinterbliebenen, die erfahren dann die Wahrheit und können dann eintauchen in die tiefe, tiefe Trauer und können dann Abschied nehmen. Ohne das sind sie permanent Fantasien ausgesetzt oder sie gucken dieses Bild oder jenes Bild und machen sich die schlimmsten Gedanken und die schlimmsten Vorstellungen, die sehr häufig viel schlimmer sind sogar als die Realität. Und darunter leiden sie eher.
Timm: Man könnte ja meinen, das sei eher eine zusätzliche Belastung, Überlebende und Opfer zusammen, denn wer überlebt, fühlt sich oft schuldig, warum traf es mich nicht. Und wer jemanden verloren hat, hadert mit der Frage, warum traf es ihn oder sie und nicht jemand anders. Aber Sie meinen, haben Erfahrungen gemacht, das geht in Gesprächen zusammen?
Jatzko: Genau, das löst sich vor allen Dingen dann nachher auf. Es gibt durchaus auch Gespräche darüber, die haben wir in verschiedenen anderen Gruppen auch geführt, aber es löst sich dann auf, sodass die Angehörigen dann über ihren Schmerz hinweg deutlich sich freuen konnten, dass der- oder diejenige überlebt hatte und ihm auch so das Gefühl von Entschuldigung gegeben hat, also dass diese Schuldgefühle auch für die Überlebenden dann nicht dauerhaft in ihnen bleiben müssen, weil die Hinterbliebenen ihnen es so richtig gönnen, dass sie am Leben geblieben sind. Also das ist ein Entwicklungsprozess, der eben in dieser Gemeinsamkeit entsteht und sehr, sehr wirksam ist.
Timm: Bei der Pressekonferenz am Sonntag gab es Unverständnis und auch Empörung gegenüber Oberbürgermeister Sauerland und dem Sicherheitsdezernenten Rabe, weil sie unbeteiligt und mit einer fast technokratischen Wortwahl jegliche Schuld und jeglichen Planungsfehler von sich wiesen. Nun wollen wir auch diesen beiden den Schock zugestehen, aber wie wirkt das auf diejenigen, die um jemanden trauern?
Jatzko: Also für die Hinterbliebenen ist das natürlich so, als würden sie sie mit der Faust ins Gesicht schlagen. Also die Menschen brauchen natürlich jemanden, der die Verantwortung übernimmt, das ist schon mal ganz wichtig. Denken Sie an Überlingen, wo der russische Vater dann den Fluglotsen umgebracht hat. Das heißt, mit diesem Verhalten implizieren sie bei den Angehörigen geradezu Wut und Aggressionen, die dann unter Umständen auch in ungünstige Bahnen natürlich gelenkt werden können. Das ist ein sehr, sehr ignorantes und nicht einfühlsames Verhalten, das wohl im Vorfeld bei der Planung schon eine Rolle spielte, jetzt kann man sie erkennen bei dem Umgang mit der Katastrophe. Und wir haben auch gestern gehört, dass gesagt wurde, es ist ja keine Panik gewesen. Auch da sind sie wieder ignorant, denn es war höchste Panik, nur die Menschen konnten nicht weglaufen, wie sie es sich in ihrer Fantasie vorstellen, denn die waren ja eingepfercht, die haben Panik in einem eingepferchten Zustand gehabt. Also es ist ein sehr ignorantes Verhalten - ich kann es nur so deuten, dass sie sich wirklich im Moment schützen und in Wirklichkeit in der Tiefe der Seele es sehr grausam aussieht.
Timm: Die Traumatherapeutin Sybille Jatzko, ich danke Ihnen sehr fürs Gespräch und wünsche Ihnen für Ihre Arbeit alles Gute!
Jatzko: Danke schön!
Sybille Jatzko: Guten Morgen, Frau Timm!
Timm: Frau Jatzko, was benötigen Menschen, die solch eine Katastrophe überstanden haben, am dringendsten?
Jatzko: Am dringendsten benötigen die Menschen – und das ist ja jetzt in Duisburg auch geschehen – durch Notfallseelsorger und Kriseninterventionsdienste erst einmal eine Abschirmung, eine Beruhigung und eine Hinwendung, sodass die Menschen sprechen können, die gerne sprechen wollen, und dass die Menschen einfach auch begleitet werden, die nicht sprechen wollen, und dass man ihnen einfach hilft, jetzt erst einmal zur Ruhe zu kommen. Das wäre das Erste. Das Allererste, und das Zweite natürlich, viele werden wahrscheinlich diese Angebote gar nicht in Anspruch genommen haben. Sie brauchen dann ein Umfeld in der Familie, die ihnen Sicherheit wieder geben, die sie ernst nehmen, die sich hinwenden und die sie auch in Ruhe lassen, wenn sie das Bedürfnis haben.
Timm: Wenn all das nicht reichen sollte, beginnt mitunter eine lange Therapie, eine Traumatherapie. Erkennen Sie als Fachfrau Traumatisierungen, die behandlungsbedürftig sind, eigentlich sofort oder auch erst später?
Jatzko: Na ja, wir haben doch schon gelernt, es relativ schnell erkennen zu können. Wenn die Menschen sehr eingefroren sind, sagen wir die "frozen times", wenn sie keine Gefühle mehr zeigen können, wenn sie fast immer noch den Schrecken im Gesicht stehen haben, die Augen aufreißen, zittern und kaum darüber sprechen können, dann wissen wir schon – und diese Reaktionen entstehen ja schon relativ schnell hinterher –, dann wissen wir schon, dass diese Menschen traumatisiert sind. Ob sich das dann nachher zu einer traumatischen Belastungsstörung entwickelt, das wissen wir dann in dem Moment noch nicht. Denn wir wissen auch, dass sehr, sehr viele Menschen, also 70, 80 Prozent von Traumatisierten, wenn sie hinterher die Ruhe haben, die sie brauchen, dass sich diese Traumata sehr wohl auch wieder reduzieren, dass sie das sehr gut in den Lebenskontext einbauen können und dann wieder Lebensfreude auch empfinden können.
Timm: Das Hauptproblem ist wohl dieser innere Film des Ereignisses …
Jatzko: Ja.
Timm: … der immer wieder abläuft und gegenüber dem sich manche Menschen noch nach Monaten, nach Jahren ohnmächtig fühlen. Vergessen kann man das nie, das ist klar, aber was ist denn genau das Ziel Ihrer Therapie, wann könnten Sie sagen, das ist erfolgreich gewesen, so eine Traumatherapie?
Jatzko: Ja, das Ziel der Therapie ist eigentlich, dieses Erlebnis in das zukünftige Leben jetzt so zu integrieren, dass die Inhalte, die sie partiell immer wieder stören können bei Reizauslösern, dass sie damit umgehen können, dass sie nicht mehr weglaufen müssen, dass sie nicht denken, sie werden verrückt. Dass man kennengelernt hat, welcher Geruch es ist, den ich damit abgespeichert habe und wo ich dann Herzklopfen und Panikattacken bekomme. Welches Geräusch es ist, wo ich plötzlich Herzklopfen auch und wieder Schweißausbrüche kriege, die ja typische Symptome von Traumatisierung sind. Wenn die Menschen sich so kennengelernt haben, dass sie dann partiell mit diesen Symptomen umgehen können, dann haben wir es deutlich mehr integriert. Integriert heißt ja, das abgespaltene Material, das im traumatischen Zustand abgespalten wird und lebenslänglich auf sie aufpassen soll, dass so was Ähnliches nie wieder passiert, das soll verknüpft werden mit der bewussten Wahrnehmung, mit dem Gefühl, mit dem Sprachzentrum. Wenn diese Verknüpfungen alle geschehen sind, dann haben wir es so integriert, dass die Menschen besser damit umgehen können.
Timm: Trotzdem kann ich mir das sehr schwer vorstellen, so ein Erlebnis ist ja eine schreckliche innere Insel, die sich dann im Leben in keiner Weise hoffentlich wiederholt, allein wenn neben einem jemand gestorben ist, wenn man womöglich, ohne es zu wollen, selbst auf jemanden getrampelt ist. Diese Bilder kann man stoppen?
Jatzko: Ja, diese Bilder kann man natürlich insofern stoppen, da gibt es moderne Therapien, das sogenannte EMDR, Augenbewegungsdesensibilisierung, wo man diese Bilder damit tatsächlich etwas besser in den Griff bekommt. Aber es ist für die Betroffenen selber natürlich erst mal sehr schwer, sich mit diesen Bildern wieder zu konfrontieren, denn das heißt ja auch, dass sie das wieder durchleben müssen. Und stellen Sie sich vor, Sie sind in diesem Kessel so eingepfercht, dass Sie sich überhaupt nicht bewegen können und merken oder spüren, dass Sie auf einen Menschen treten und von dem Sie wissen, dass der hinterher vielleicht verstorben ist. Diese Schuldgefühle, ja! Und diese Menschen, die können ja diese Schuldgefühle auch anderen erst mal gar nicht so anvertrauen. Das heißt, das wird später noch Folgen haben. Das kann für diese Menschen bedeuten, die dann dem aus dem Wege gehen, damit sie die nicht immer spüren müssen, dass ein halbes Jahr bis ein Jahr später durch Reizauslöser diese volle Symptomatik reaktiviert und ausbrechen kann, sodass wir im Zusammenhang mit dieser Katastrophe zu verschiedenen Zeiten damit rechnen müssen, dass erneut Menschen mit diesen Symptomen voll konfrontiert werden.
Timm: Das heißt, das, was man erreichen kann bestenfalls, aber das ist sehr viel, ist, dass solche Menschen Regisseur werden über die Filme, die in ihnen ablaufen?
Jatzko: Absolut. Regisseur werden, damit umgehen können und auch selber dann entscheiden können, ob sie in einer Phase sich befinden, wo sie durchgehen können, wo sie nicht mehr weglaufen müssen oder wo sie sich auch davor schützen müssen - das müssen Menschen immer individuell selber entscheiden. Aber so wie sie die Regie haben, haben sie auch die Lebenssicherheit wieder, denn das ist der Kernpunkt, der bei Traumatisierungen verloren geht, die Lebenssicherheit. Und die Lebenssicherheit können wir immer nur den Menschen zurückgeben, indem wir ihnen sagen, dass sie wissen, was für sie gut ist, dass sie der Regisseur sind, dass sie genau das Richtige tun, was für sie selber wichtig und gut ist.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", die Traumatherapeutin Sybille Jatzko erklärt uns, welche Hilfe für die Überlebenden von Duisburg nötig und möglich ist. Frau Jatzko, haben eigentlich die Überlebenden der Katastrophe, die direkten Überlebenden, und die Hinterbliebenen der Opfer, die nicht vor Ort waren, haben die mit ähnlichen Symptomen zu kämpfen?
Jatzko: Na ja, am Anfang durch den Schock wirkt das natürlich sehr, sehr ähnlich, aber tatsächlich ist es so, dass Angehörige, die nicht vor Ort waren, nicht traumatisiert sind. Es ist einer der schwersten Belastungsreaktionen, die wir kennen, und wenn man sein Kind auf eine nicht natürliche Art und Weise verliert, wo der ganze Plan sowieso durchbrochen wird, der Lebensplan, das ist etwas, das werden Sie nie wieder überwinden, das bleibt eine permanente Wunde im Leben, im Herzen, manche Menschen finden überhaupt gar keine Lebensqualität zurück. Da ist Begleitung einfach angezeigt. Und wir wollen uns auch darum bemühen, dass wir jetzt eben die sogenannte Nachsorge, die wir ja vorher schon kennen, dass wir die einrichten - Frau Kraft hat ja gestern schon angeboten, dass sie dafür jetzt sich auch stark machen möchte -, sodass wir langfristige Gruppen, Schicksalsgemeinschaften einrichten werden, in denen die Menschen zusammen sind.
Timm: Sie haben viel Erfahrung damit, haben nach der Katastrophe von Ramstein mitgewirkt, nach dem Erfurter Gutenberg-Gymnasium, nach dem Amoklauf, und Sie bringen in Gesprächsgruppen die Überlebenden und die Angehörigen der Opfer zusammen. Warum?
Jatzko: Ja, das ist sogar sehr wichtig, weil wir gelernt haben, dass die Menschen, die Hinterbliebene sind, die absolute Wahrheit wissen wollen. Und nur dann findet die Fantasie und die innere Welt Ruhe und kann Abschied nehmen, wenn sie die Wahrheit wissen von dem, wie es sich abgespielt hat und was ihre Angehörigen haben durchmachen müssen. Und diese Wahrheit erfahren sie am authentischsten und am besten von den Überlebenden. Und die Überlebenden berichten wiederum ihre traumatischen Bilder Menschen, wo sie das selber als sinnvoll erleben, was sie da tun. Sie helfen sich wirklich gegenseitig. Und die Hinterbliebenen, die erfahren dann die Wahrheit und können dann eintauchen in die tiefe, tiefe Trauer und können dann Abschied nehmen. Ohne das sind sie permanent Fantasien ausgesetzt oder sie gucken dieses Bild oder jenes Bild und machen sich die schlimmsten Gedanken und die schlimmsten Vorstellungen, die sehr häufig viel schlimmer sind sogar als die Realität. Und darunter leiden sie eher.
Timm: Man könnte ja meinen, das sei eher eine zusätzliche Belastung, Überlebende und Opfer zusammen, denn wer überlebt, fühlt sich oft schuldig, warum traf es mich nicht. Und wer jemanden verloren hat, hadert mit der Frage, warum traf es ihn oder sie und nicht jemand anders. Aber Sie meinen, haben Erfahrungen gemacht, das geht in Gesprächen zusammen?
Jatzko: Genau, das löst sich vor allen Dingen dann nachher auf. Es gibt durchaus auch Gespräche darüber, die haben wir in verschiedenen anderen Gruppen auch geführt, aber es löst sich dann auf, sodass die Angehörigen dann über ihren Schmerz hinweg deutlich sich freuen konnten, dass der- oder diejenige überlebt hatte und ihm auch so das Gefühl von Entschuldigung gegeben hat, also dass diese Schuldgefühle auch für die Überlebenden dann nicht dauerhaft in ihnen bleiben müssen, weil die Hinterbliebenen ihnen es so richtig gönnen, dass sie am Leben geblieben sind. Also das ist ein Entwicklungsprozess, der eben in dieser Gemeinsamkeit entsteht und sehr, sehr wirksam ist.
Timm: Bei der Pressekonferenz am Sonntag gab es Unverständnis und auch Empörung gegenüber Oberbürgermeister Sauerland und dem Sicherheitsdezernenten Rabe, weil sie unbeteiligt und mit einer fast technokratischen Wortwahl jegliche Schuld und jeglichen Planungsfehler von sich wiesen. Nun wollen wir auch diesen beiden den Schock zugestehen, aber wie wirkt das auf diejenigen, die um jemanden trauern?
Jatzko: Also für die Hinterbliebenen ist das natürlich so, als würden sie sie mit der Faust ins Gesicht schlagen. Also die Menschen brauchen natürlich jemanden, der die Verantwortung übernimmt, das ist schon mal ganz wichtig. Denken Sie an Überlingen, wo der russische Vater dann den Fluglotsen umgebracht hat. Das heißt, mit diesem Verhalten implizieren sie bei den Angehörigen geradezu Wut und Aggressionen, die dann unter Umständen auch in ungünstige Bahnen natürlich gelenkt werden können. Das ist ein sehr, sehr ignorantes und nicht einfühlsames Verhalten, das wohl im Vorfeld bei der Planung schon eine Rolle spielte, jetzt kann man sie erkennen bei dem Umgang mit der Katastrophe. Und wir haben auch gestern gehört, dass gesagt wurde, es ist ja keine Panik gewesen. Auch da sind sie wieder ignorant, denn es war höchste Panik, nur die Menschen konnten nicht weglaufen, wie sie es sich in ihrer Fantasie vorstellen, denn die waren ja eingepfercht, die haben Panik in einem eingepferchten Zustand gehabt. Also es ist ein sehr ignorantes Verhalten - ich kann es nur so deuten, dass sie sich wirklich im Moment schützen und in Wirklichkeit in der Tiefe der Seele es sehr grausam aussieht.
Timm: Die Traumatherapeutin Sybille Jatzko, ich danke Ihnen sehr fürs Gespräch und wünsche Ihnen für Ihre Arbeit alles Gute!
Jatzko: Danke schön!