"Es ist eine seelische und eine organisatorische Zumutung"
Für die Angehörigen der NSU-Opfer ist die Verschiebung des Prozesses "eine Zumutung", sagt deren Ombudsfrau Barbara John. Sie hätten "ihr Leben um diesen Prozess herum organisiert" und müssten nun noch länger warten, "bis endlich Recht gesprochen wird, bis Schuld erkannt und gesühnt wird".
André Hatting: Es ist einer der wichtigsten Strafprozesse in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland: Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte müssen sich vor dem Münchner Oberlandesgericht verantworten. Zschäpe wird Mitgliedschaft in dem rechtsextremen Terrornetzwerk NSU und Mord in zehn Fällen vorgeworfen. Die vier Mitangeklagten sollen die Neonazis unterstützt haben. Und dieser Prozess ist auch deshalb so bedeutend, weil die bisherige Aufklärung der Verbrechen durch die Untersuchungsausschüsse der Parlamente ein beispielloses Versagen der deutschen Sicherheitsbehörden entblößt hat: Hinweise wurden nicht ernst genommen, Informationen zurückgehalten, Akten vernichtet und, das ist besonders peinlich, die Opfer sogar zu Tätern gemacht.
Vor allem die Hinterbliebenen warten seit Monaten gespannt auf den Beginn des Prozesses. Betreut werden sie von Barbara John. Die CDU-Politikerin ist die Ombudsfrau der Bundesregierung für die Angehörigen der NSU-Opfer und jetzt am Telefon. Guten Morgen, Frau John!
Barbara John: Guten Morgen, Herr Hatting!
Hatting: Eigentlich sollte der Prozess ja morgen beginnen, jetzt ist er auf den 6. Mai verschoben worden. Sie nennen diese Entscheidung eine mittlere Katastrophe – warum?
John: Na, es ist selbstverständlich eine Zumutung. Eine Familie hat sich sogar schon auf die Reise gemacht, sie waren gestern schon in Nürnberg, weil sie dann heute nach München weiterfahren. Wir wollten uns heute in den frühen Mittagsstunden treffen, um den Gerichtssaal zu besichtigen. Ich will damit sagen, sie haben natürlich inzwischen ihr Leben um diesen Prozess herum organisiert, sie haben sich von der Arbeit freigenommen, sofern sie einen Job haben. Sie haben natürlich ihr Geld ausgegeben für die Fahrkarten, sie haben auch die Nachbarn informiert.
Also, all das kann man sicher rückgängig machen, aber ich glaube, das Schlimmste ist, dass auch die innere Spannung gewachsen ist. Weil es ist ja der Moment, auf den sie zum Teil zehn Jahre und mehr als das warten mussten, bis endlich Recht gesprochen wird, bis Schuld erkannt und gesühnt wird. Und das ist nun hinausgeschoben und niemand weiß, wie es nun wirklich weitergeht.
Hatting: Macht es das für die Angehörigen auch noch schwerer, dann, am 6. Mai, zum ersten Mal der Hauptangeklagten ins Gesicht schauen zu müssen?
John: Also, das hoffe ich nicht. Es ist so unendlich wichtig, dass sie als Nebenkläger nun auch teilnehmen können. Diese Möglichkeiten gibt es ja erst seit einigen Jahren. Und es ist für sie auch wichtig, damit sie wieder Kontrolle über ihr Leben gewinnen, da aktiv zu werden. Also ich hoffe, dass sich die meisten wieder aufraffen können, aber bei allen, das weiß ich schon heute, wird es einfach nicht gehen, weil die Tage, die jetzt festgelegt waren, sich eben nicht wieder freinehmen lassen. Das ist das Problem.
Und sie fühlen sich wieder nicht ernst genommen. Sie sagen: Aber das war doch schon die Ganze Zeit so, wir werden an den Rand gedrängt, und ich glaube, das ist das Schlimmste für sie.
Hatting: Sie fühlen sich nicht ernst genommen, sagen Sie. Ist aus Sicht der Angehörigen der NSU-Opfer diese Verschiebung und dieser Hick-Hack um die Akkreditierung auch wieder ein Beispiel für das Versagen der Staatsorgane?
John: Na ja, nicht nur für sie, sondern eigentlich doch für uns alle! Ich verstehe es doch auch nicht, warum man nicht in fünf Tagen, das war ja die Zeit zwischen Freitag und Mittwoch, oder in vier Tagen fünf neue oder vier neue Stühle aufstellen kann. Das begreift doch kein Mensch, zumal wir gar nicht genau wissen, wie nun das neue Akkreditierungsverfahren verlaufen soll. Und mehr Plätze wird es ja auch nicht geben. Jetzt werden neue Leute zugelassen, andere fliegen raus – also, wirklicher Frieden kehrt da auch nicht ein.
Hatting: Semiya und Kerim Simsek, die Kinder des 2000 ermordeten Blumenhändlers Enver Simsek, finden, dass das Oberlandesgericht auf die öffentliche Kritik an diesem Akkreditierungsverfahren arrogant reagiert habe. Sehen das die anderen auch so?
John: Ja, das sehen viele so. Ich hab nun nicht in dieser Hinsicht gefragt, aber ich hab natürlich mit ihnen gesprochen. Es musste ja auch alles sehr schnell vermittelt werden, dass nun die Reisen storniert werden und dergleichen mehr. Und alle waren doch sehr enttäuscht, weil, wie gesagt, die Vorbereitungen angelaufen waren. Sie hatten jetzt gehofft, jetzt geht es endlich los. Und nun müssen sie wieder warten. Also, es ist eine seelische und eine organisatorische Zumutung nicht nur für die Opfer, sondern ich denke, für viele andere Menschen auch.
Hatting: Bei dieser seelischen Zumutung, finden Sie, dass die psychologische Betreuung der Angehörigen der Opfer ausreichend ist?
John: Ja, wir haben ja diese psychologische Betreuung auch mit Hilfe von Refugio, das ist eine Münchner Organisation, organisiert, auch das muss abgesagt werden. Die Autobusse müssen abgesagt werden, denn wir wollten gemeinsam von unserem Quartier zum Oberlandesgericht fahren.
Also, das mag jetzt allen wie Petitessen vorkommen, aber es sind Dinge, von denen ich auch nicht weiß, wer nun die Kosten übernimmt. Denn das sind ja Aufträge gewesen, die auch festgelegt waren. Und wer bleibt darauf sitzen? Sollen das die Spender sein? Das mag ich mir nicht vorstellen, und ich werde selbstverständlich ans Oberlandesgericht herantreten und sagen: Wer das verursacht hat, der muss nun auch für die Lasten aufkommen.
Hatting: Hoffen wir mal, dass am 6. Mai wirklich dieser Prozess beginnt. Der kann dann bis zu zwei Jahre dauern. Was erwarten die Familien von diesem Prozess? Geht es da um Gerechtigkeit? Reicht beispielsweise lebenslängliche Haft dafür?
John: Also das, glaube ich, lässt sich jetzt nicht vorhersagen, was sie da an Strafmaß erwarten. Es hängt doch so unendlich viel von den Staatsanwälten ab, es hängt von den Zeugen ab. Es hängt auch von den Einlassungen der Angeklagten ab. Aber was sie erwarten müssen und dürfen, ist, dass vor aller Öffentlichkeit Schuld festgestellt wird. Und dass diese Verbrechen gesühnt werden.
Bisher war es ja so, dass diejenigen, die leiden mussten, die Väter, die ermordet wurden, die Angehörigen, die Opfer, die schwer verletzt wurden in Köln – sie alle hatten mit ihrem Leben unendlich zu kämpfen. Sie sind entgleist, sie mussten sich wieder hochrappeln. Während die Täter, und hier sind ja jetzt nur vier angeklagt, viele der Täter sind, stehen ja auch gar nicht auf der Anklagebank, mit denen ist bisher gar nichts passiert.
Und es muss nun wirklich klar werden, dass das eines der schwersten Verbrechen war, die wir erlebt haben, und dass wir nun zusammenstehen müssen. Und ich denke, dass das die Opfer von dem Prozess erhoffen, dass das auch zu einem stärkeren Zusammenhalt in der Gesellschaft führt.
Hatting: Der Auftakt des NSU-Prozesses ist verschoben worden. Über die Folgen für die Angehörigen der Opfer habe ich mit Barbara John gesprochen. Sie ist Ombudsfrau der Bundesregierung für die betroffenen Familien. Ich danke Ihnen, Frau John!
John: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Vor allem die Hinterbliebenen warten seit Monaten gespannt auf den Beginn des Prozesses. Betreut werden sie von Barbara John. Die CDU-Politikerin ist die Ombudsfrau der Bundesregierung für die Angehörigen der NSU-Opfer und jetzt am Telefon. Guten Morgen, Frau John!
Barbara John: Guten Morgen, Herr Hatting!
Hatting: Eigentlich sollte der Prozess ja morgen beginnen, jetzt ist er auf den 6. Mai verschoben worden. Sie nennen diese Entscheidung eine mittlere Katastrophe – warum?
John: Na, es ist selbstverständlich eine Zumutung. Eine Familie hat sich sogar schon auf die Reise gemacht, sie waren gestern schon in Nürnberg, weil sie dann heute nach München weiterfahren. Wir wollten uns heute in den frühen Mittagsstunden treffen, um den Gerichtssaal zu besichtigen. Ich will damit sagen, sie haben natürlich inzwischen ihr Leben um diesen Prozess herum organisiert, sie haben sich von der Arbeit freigenommen, sofern sie einen Job haben. Sie haben natürlich ihr Geld ausgegeben für die Fahrkarten, sie haben auch die Nachbarn informiert.
Also, all das kann man sicher rückgängig machen, aber ich glaube, das Schlimmste ist, dass auch die innere Spannung gewachsen ist. Weil es ist ja der Moment, auf den sie zum Teil zehn Jahre und mehr als das warten mussten, bis endlich Recht gesprochen wird, bis Schuld erkannt und gesühnt wird. Und das ist nun hinausgeschoben und niemand weiß, wie es nun wirklich weitergeht.
Hatting: Macht es das für die Angehörigen auch noch schwerer, dann, am 6. Mai, zum ersten Mal der Hauptangeklagten ins Gesicht schauen zu müssen?
John: Also, das hoffe ich nicht. Es ist so unendlich wichtig, dass sie als Nebenkläger nun auch teilnehmen können. Diese Möglichkeiten gibt es ja erst seit einigen Jahren. Und es ist für sie auch wichtig, damit sie wieder Kontrolle über ihr Leben gewinnen, da aktiv zu werden. Also ich hoffe, dass sich die meisten wieder aufraffen können, aber bei allen, das weiß ich schon heute, wird es einfach nicht gehen, weil die Tage, die jetzt festgelegt waren, sich eben nicht wieder freinehmen lassen. Das ist das Problem.
Und sie fühlen sich wieder nicht ernst genommen. Sie sagen: Aber das war doch schon die Ganze Zeit so, wir werden an den Rand gedrängt, und ich glaube, das ist das Schlimmste für sie.
Hatting: Sie fühlen sich nicht ernst genommen, sagen Sie. Ist aus Sicht der Angehörigen der NSU-Opfer diese Verschiebung und dieser Hick-Hack um die Akkreditierung auch wieder ein Beispiel für das Versagen der Staatsorgane?
John: Na ja, nicht nur für sie, sondern eigentlich doch für uns alle! Ich verstehe es doch auch nicht, warum man nicht in fünf Tagen, das war ja die Zeit zwischen Freitag und Mittwoch, oder in vier Tagen fünf neue oder vier neue Stühle aufstellen kann. Das begreift doch kein Mensch, zumal wir gar nicht genau wissen, wie nun das neue Akkreditierungsverfahren verlaufen soll. Und mehr Plätze wird es ja auch nicht geben. Jetzt werden neue Leute zugelassen, andere fliegen raus – also, wirklicher Frieden kehrt da auch nicht ein.
Hatting: Semiya und Kerim Simsek, die Kinder des 2000 ermordeten Blumenhändlers Enver Simsek, finden, dass das Oberlandesgericht auf die öffentliche Kritik an diesem Akkreditierungsverfahren arrogant reagiert habe. Sehen das die anderen auch so?
John: Ja, das sehen viele so. Ich hab nun nicht in dieser Hinsicht gefragt, aber ich hab natürlich mit ihnen gesprochen. Es musste ja auch alles sehr schnell vermittelt werden, dass nun die Reisen storniert werden und dergleichen mehr. Und alle waren doch sehr enttäuscht, weil, wie gesagt, die Vorbereitungen angelaufen waren. Sie hatten jetzt gehofft, jetzt geht es endlich los. Und nun müssen sie wieder warten. Also, es ist eine seelische und eine organisatorische Zumutung nicht nur für die Opfer, sondern ich denke, für viele andere Menschen auch.
Hatting: Bei dieser seelischen Zumutung, finden Sie, dass die psychologische Betreuung der Angehörigen der Opfer ausreichend ist?
John: Ja, wir haben ja diese psychologische Betreuung auch mit Hilfe von Refugio, das ist eine Münchner Organisation, organisiert, auch das muss abgesagt werden. Die Autobusse müssen abgesagt werden, denn wir wollten gemeinsam von unserem Quartier zum Oberlandesgericht fahren.
Also, das mag jetzt allen wie Petitessen vorkommen, aber es sind Dinge, von denen ich auch nicht weiß, wer nun die Kosten übernimmt. Denn das sind ja Aufträge gewesen, die auch festgelegt waren. Und wer bleibt darauf sitzen? Sollen das die Spender sein? Das mag ich mir nicht vorstellen, und ich werde selbstverständlich ans Oberlandesgericht herantreten und sagen: Wer das verursacht hat, der muss nun auch für die Lasten aufkommen.
Hatting: Hoffen wir mal, dass am 6. Mai wirklich dieser Prozess beginnt. Der kann dann bis zu zwei Jahre dauern. Was erwarten die Familien von diesem Prozess? Geht es da um Gerechtigkeit? Reicht beispielsweise lebenslängliche Haft dafür?
John: Also das, glaube ich, lässt sich jetzt nicht vorhersagen, was sie da an Strafmaß erwarten. Es hängt doch so unendlich viel von den Staatsanwälten ab, es hängt von den Zeugen ab. Es hängt auch von den Einlassungen der Angeklagten ab. Aber was sie erwarten müssen und dürfen, ist, dass vor aller Öffentlichkeit Schuld festgestellt wird. Und dass diese Verbrechen gesühnt werden.
Bisher war es ja so, dass diejenigen, die leiden mussten, die Väter, die ermordet wurden, die Angehörigen, die Opfer, die schwer verletzt wurden in Köln – sie alle hatten mit ihrem Leben unendlich zu kämpfen. Sie sind entgleist, sie mussten sich wieder hochrappeln. Während die Täter, und hier sind ja jetzt nur vier angeklagt, viele der Täter sind, stehen ja auch gar nicht auf der Anklagebank, mit denen ist bisher gar nichts passiert.
Und es muss nun wirklich klar werden, dass das eines der schwersten Verbrechen war, die wir erlebt haben, und dass wir nun zusammenstehen müssen. Und ich denke, dass das die Opfer von dem Prozess erhoffen, dass das auch zu einem stärkeren Zusammenhalt in der Gesellschaft führt.
Hatting: Der Auftakt des NSU-Prozesses ist verschoben worden. Über die Folgen für die Angehörigen der Opfer habe ich mit Barbara John gesprochen. Sie ist Ombudsfrau der Bundesregierung für die betroffenen Familien. Ich danke Ihnen, Frau John!
John: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.