"Es ist völlig klar, dass er kein Rechtsradikaler üblichen Zuschnitts ist"

Götz Aly im Gespräch mit Dieter Kassel |
Der Historiker Götz Aly warnt nach den Anschlägen von Norwegen vor der Einordnung des Täters als "Wahnsinnigen". Aly sagte, die Wirklichkeit folge einer solchen Kategorisierung nicht. Anders Behring Breivik sei ein fundamentalistischer Gewalttäter.
Dieter Kassel: Ich gebe zu, auch ich war voreilig, auch ich habe es gemacht: Als wir vorgestern genau an dieser Stelle auch schon über die beiden Anschläge in Norwegen gesprochen haben, da habe ich auch ich den Mann, der für beide Anschläge verantwortlich ist, als Wahnsinnigen bezeichnet, nicht mal das Wörtchen "mutmaßlich" habe ich vorher noch eingebaut. Das war nicht ganz korrekt, und sicherlich ist auch die Frage, ob er denn nun wahnsinnig ist oder nicht, dieser Anders Behring Breivik, gar nicht so leicht zu beantworten.

Es gibt auf jeden Fall auch mehrere Ebenen, die psychologisch-kriminialistische, die können wir hier nicht klären, aber es gibt auch noch eine andere, und auf dieser Ebene hat der Historiker Götz Aly deutliche Worte gefunden, indem er gestern es formuliert hat, in der "Berliner Zeitung" und in der "Frankfurter Rundschau" war es zu lesen: Für ihn ist dieser Mann kein Wahnsinniger. Was er damit meint und was dahintersteckt, darüber wollen wir jetzt live mit dem Historiker Götz Aly sprechen. Einen schönen guten Morgen!

Götz Aly: Guten Morgen!

Kassel: Klare Frage an Sie nach diesem Statement: Warum ist für Sie Breivik kein Wahnsinniger?

Aly: Wenn wir sagen, so ein Massenmörder, der aus politischen Motiven handelt, die ganz klar erkennbar sind, ist ein Wahnsinniger, dann machen wir es uns zu leicht. Wir gehen auf Distanz, sagen, der Mann ist krank, er hat mit uns nichts zu tun – und die Wirklichkeit, vor allem die geschichtliche Wirklichkeit ist meiner Ansicht nach ganz anders: Wir haben solche Menschen, solche Exemplare, zumal in Deutschland, im 20. Jahrhundert zu Hunderttausenden hervorgebracht.

Dieser ganze Komplex der Weltanschauungskrieger, dass alles sozusagen, was dem eigenen Volk, der eigenen Rasse, der eigenen Klasse, dem großen Ziel von Utopien dient, gerechtfertigt sei, dass man den inneren Feind bekämpfen muss, all das haben wir millionenfach erlebt. Insofern ist dieser Herr Breivik in Norwegen erst mal historisch gesehen keine Ausnahme, sondern sozusagen ein spätes Exemplar eines Denkens, das vollständig antipragmatisch war, das auf große ideologische, auch die Massen beglückende Ziele gerichtet war, und das muss man zur Kenntnis nehmen.

Kassel: Heißt denn "spätes Exemplar eines Weltanschauungskriegers, wie wir sie aus dem letzten Jahrhundert kennen" – heißt das für Sie, das ist so eine Art letztes Aufbäumen dieses Phänomens, oder heißt das einfach nur, die Geschichte geht weiter, so wie sie war?

Aly: Ich bin pessimistisch als Historiker, ich glaube, das kann immer wiederkommen, und auch die Einordnung erscheint mir sehr wichtig: So wird immer gesagt, es sei ein Rechtsradikaler, rechtsradikale Gefahr – es ist völlig klar, dass er kein Rechtsradikaler üblichen Zuschnitts ist. Er bewundert und integriert in sein Weltbild zum Beispiel Juden, er spricht ununterbrochen in seinem Internetauftritt vom jüdisch-christlichen Abendland.

Er tritt auf gegen all diejenigen, die zum Beispiel die palästinensischen Ansprüche gegen Israel unterstützen, ob es nun Palästinenser sind, deutsche, Links- oder Rechtsradikale, egal: Er steht für Israel. Er versteht sich als christlicher Fundamentalist. Seine Wurzeln für diesen christlichen Fundamentalismus sieht er am ehesten im radikalen christlichen Fundamentalismus in den USA.

Und das muss man auseinanderhalten: Wir haben es hier mit einem fundamentalistischen, vernagelten, gewalttätig, terroristisch gewordenen Christen zu tun. Sagen wir doch nicht einfach, er sei rechtsradikal! Nehmen wir erst mal die Tatsachen zur Kenntnis und versuchen, sie zu analysieren, was wir hier haben.

Kassel: Das ist sehr interessant, was Sie gerade gesagt haben, wir haben nämlich über diese Frage ... weil so wie Sie das auch noch mal geschildert haben: Wenn man den Fakten nachgeht, ist er formal alles andere als ein Rechtsradikaler, er ist zum Beispiel, Sie haben es ja beschrieben, kein Antisemit, und das ist ja ...

Aly: Ja, und warum sagen alle - und die ganzen Nachrichten heute sind davon voll: ein Rechtsradikaler, rechtsradikale Gefahr? Ich will nicht behaupten, dass er nichts mit Rechtsradikalen zu tun hat, aber zunächst ist es die Aufgabe von Journalisten, von Zeitdiagnostikern, zu gucken, was ist das für einer, und es sich nicht so einfach zu machen: Rechtsradikale sind böse, die wollen wir nicht, die haben wir nicht, also packen wir in die Schublade, weil es praktisch ist.

Kassel: Genau diese Frage nach dem Rechtsradikalismus, nach der Frage, ob man so einen wie Breivik als Neonazi bezeichnen kann und darf, haben wir Johan Galtung gefragt vorgestern, norwegischer Soziologe, gilt als Vater der Konflikt- und Friedensforschung, und den haben wir genau das deshalb gefragt, weil so vieles, was klassisch auf Neonazis zutreffen müsste, auf diesen Breivik nicht zutrifft, ob man ihn trotzdem so bezeichnen könnte.

Johan Galtung: Also, ich nenne, was wir gesehen haben, Neofaschismus, und ich könnte sagen, ich glaube, es ist eine Modernisierung, ein Updating von Rassismus – nicht Antisemitismus, sondern Antiislamismus, die Idee von Bürgerkriegen in Europa. Also, dieser Breivik ist ein Europäer in diesem Sinne mehr als ein Norweger.

Und dann hat er also eine Sache zusammengebastelt, die ganz ähnlich wie Rassismus ist in dem Sinne, dass Antiislamismus stellvertretend ist für Antisemitismus, und in dem Sinne, dass er Marxisten und Sozialdemokraten hasst, genau wie die Nazis das getan haben. Und statt gegen biologische Mischungen von Rassen ist er gegen Mischung von Kulturen, also, Multikulturalismus ist sein Hauptgegner. Und man könnte sagen, es ist eine Modernisierung, ein Updating von Rassismus. In diesem Sinne könnte man auch sagen: Es ist nicht 1920, 1930, wir sind hinten, 2011.

Kassel: Das hat Johan Galtung, der norwegische Friedensforscher, vorgestern hier im Deutschlandradio Kultur gesagt. Über den Attentäter von Oslo jetzt live bei uns im Studio ist der deutsche Historiker Götz Aly. Ich bin mir wirklich nicht sicher bei dem, was Galtung gesagt hat im Vergleich zu dem, was Sie gerade noch mal gesagt haben: Widerspricht Ihnen das, oder ist das in Ihren Augen eine ähnliche Auslegung des gleichen Phänomens?

Aly: Galtung hat Recht, und er hat Unrecht in meinen Augen, und zwar macht er es sich zu einfach: Er reduziert es auch, dieses Problem Breivik, auf Nationalsozialismus, auf rechtsradikale Strömungen. Aber womit Sie es zu tun haben in diesem Denken: Es ist ein hermetisches, geschlossenes, weltanschauliches Denken – das finden Sie genauso gut in den kommunistischen und anarchistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts, das finden Sie in der deutschen Roten Armee Fraktion.

Dieses Weltbild funktioniert so: Man sagt: Irgendeine große Gruppe ist besonders gut, eine Klasse, eine Rasse, eine Nation, edel, und ihr gehört die Zukunft. Und diese edle Gruppe ist bedroht von äußeren Feinden, im Falle von Breivik ist es der Islam, also eine religiöse Gruppe. Und gegenüber dieser sie bedrohenden, als minderwertig beschrieben Gruppe findet sich diese edle Großgruppe sozusagen in einer Notwehrsituation. Das haben Sie im Nationalsozialismus, das haben Sie im Kommunismus.

Und in Notwehr sind alle Mittel erlaubt. Und das Erste ist, wenn man sich in einer Festung sieht, auch in einer geistigen Festung, dass man den inneren Feind bekämpft, um innerhalb der Festung sozusagen ein Optimum an Verteidigungsfähigkeit zu erreichen – deswegen der Kampf gegen die inneren Marxisten. Er rechnet ja zu den Marxisten, die er bekämpft, ausdrücklich Angela Merkel, während er zum Beispiel Henryk M. Broder zu seinen Freunden rechnet. Und deswegen müssen diese Multikulti-Aktivitäten norwegischer Sozialdemokraten bekämpft werden, um innerlich sozusagen stramm zu werden für den Endkampf gegen den Islam.

Kassel: Nun haben Sie schon, Herr Aly, am Anfang unseres Gesprächs gesagt, man soll ihn auch deshalb nicht einfach als Wahnsinnigen abstempeln, weil man es sich damit zu leicht macht und es zu weit von sich wegschiebt. Was heißt aber nun Ihre Behauptung, der ist einer von uns – wer auch immer wir jetzt in diesem Zusammenhang sind –, was heißt das denn für uns als Gesellschaft für den Umgang zum einen jetzt mit Breivik, der sitzt im Knast, da wird er auch ’ne Weile sitzen, aber auch mit möglichen anderen Menschen dieser Gesinnung?

Aly: Ja, was heißt, für den Umgang – die meisten Menschen dieser Art von Gesinnung und mit geschlossenen Weltbildern, die die Welt in ein hartes Freund-Feind-Schema einteilen, tun Gott sei Dank solche Taten nicht. Aber auch jemand wie Mladić, wie Karadzić im Bosnienkrieg, die haben ja ganz ähnlich sozusagen gehandelt, die haben gesagt, hier müssen Leute vernichtet werden, um das serbische Volk zu retten.

Und wir werden immer wieder damit konfrontiert sein, es wird nicht aufhören, und wir können es auch nicht verhindern. Das Einzige, was wir tun können, ist sozusagen dem Pragmatismus der fairen, offenen Diskussion eine Chance und möglicherweise einen immer größeren Raum zu bieten. Aber das sind Möglichkeiten, die uns offenstehen in guten Zeiten, in relativ krisenfreien, in relativ reichen Zeiten. Es wird immer wieder ... Wir werden dieses Problem, das sich in Breivik darstellt, eines in sich geschlossenen, verhärteten Weltbilds, das zu militantem Terrorismus führt – wir werden es nie loswerden.

Kassel: Aber was heißt das für den Umgang mit zum Beispiel den vielen, sagen wir mal, nicht rechtsradikalen, aber islamfeindlichen Internetseiten, über die jetzt so viel diskutiert wird? "Politically Incorrect" ist die bekannte, ich habe viele andere jetzt kennengelernt, (…) und so weiter – haben die Mitschuld? Würden Sie sagen, man soll etwas besser kontrollieren? Meinen Sie, mit der offenen Debatte, die Sie gerade erwähnt haben, man soll eben eher diese Seiten integrieren? Was schlagen Sie da vor?

Aly: Man muss es immer wieder versuchen. Also man kann das nicht verbieten im Internet, es ist ganz unmöglich. Man kann Fundamentalismus in den USA, man kann einen fundamentalistischen Christen, der unbedingt öffentlich den Koran verbrennen will – das kann man nicht unbedingt verhindern. Es wird es immer wieder geben, es wird Leute geben, die in Moscheen um sich schießen.

Und wir können aufmerksam sein, wir können versuchen, der Toleranz, dem freien Denken weiterhin eine möglichst breite Basis, ein möglichst breites Feld zu geben und das vorzuleben, aber verhindern können wir das nicht, und ich glaube auch nicht, dass dieser Mordanschlag in Norwegen uns jetzt dazu zwingt, gesetzliche Maßnahmen im großen Stil zu ergreifen, überhaupt nicht.

Kassel: Sagt der Historiker Götz Aly. Ich danke Ihnen sehr, dass Sie für das Gespräch zu uns gekommen sind!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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