"Es ist weiterhin zum Kondomgebrauch geraten"
Das HIV-Ansteckungsrisiko könne zwar mit dem Medikament "Truvada" gesenkt werden, sagt der Infektionsmediziner Christoph Boesecke. Einen hundertprozentigen Schutz vor AIDS liefere das teure Präparat aber nicht und auch Nebenwirkungen könnten langfristig nicht ausgeschlossen werden.
Frank Meyer: "Dieses Medikament zuzulassen, das ist sportlich", das meint der Bonner Infektionsmediziner Christoph Boesecke zur Zulassung von "Truvada" in den USA. "Truvada" ist das erste Medikament, das AIDS-Infektionen verhindern kann, ein Medikament, auf das viele lange gewartet haben. Christoph Boesecke ist jetzt für uns im Studio, seien Sie herzlich willkommen!
Christoph Boesecke: Ja, hallo!
Meyer: Herr Boesecke, "Truvada" schützt vor der Ansteckung mit AIDS, aber das Medikament schützt nicht hundertprozentig sicher, das zeigen erste Studien. Wie sicher ist denn der Schutz durch "Truvada"?
Boesecke: Also man muss vielleicht vorwegsagen, dass das Medikament schon sehr lange auf dem Markt ist, das ist jetzt nicht für diesen Zweck neu erfunden oder neu komponiert worden, das wird schon lange eingesetzt in der HIV-Behandlung und ist seit acht Jahren in dieser Form auch erhältlich. Da sind zwei Wirkstoffe drin in dieser Tablette, das ist eine Kombinationstablette, die eben bei Männern, die Sex mit Männern haben, also schwulen Männern, zu 42 Prozent eine HIV-Risikosenkung herbeigeführt hat, und wenn man bei heterosexuellen Paaren guckt, war das so zu 75 Prozent, also etwas höhere Zahlen.
Meyer: Das sind aber deutliche Unterschiede. Warum ist der Schutz bei Heterosexuellen größer als bei Schwulen?
Boesecke: Eins der größeren Probleme ist – da werden wir auch gleich noch drauf eingehen –, ist tatsächlich, dass man die Tablette nehmen muss, damit sie eben wirkt. Das mag sich trivial anhören, das ist aber das Hauptproblem, warum eben dann nur bei den schwulen Männern zu 42 Prozent ein richtiger Schutz eintritt. Da hat man in den Nachanalysen sehr gut sehen können, ... Man kann ja dann tatsächlich im Blut der Patienten untersuchen, die teilgenommen haben, ob überhaupt genug von der Tablette im Blut aufgenommen worden ist, und in der Tat ist es so: Wenn die Leute das regelmäßig genommen haben, hatten die zu fast 87 Prozent einen Schutz, aber das haben eben in dieser Studie – das waren 2500 Männer – nur 10 Prozent geschafft. Das heißt eben, dass es offensichtlich in so einem Studiensetting, was ja noch mal kontrollierter ist als im echten Leben, es sehr schwierig ist offensichtlich, jeden Tag eine Tablette einzunehmen für eine Erkrankung, die man noch nicht hat.
Meyer: Wie funktioniert überhaupt dieses Mittel, können Sie das kurz skizzieren?
Boesecke: Der aktuelle Stand, HIV zu behandeln, ist, dass man an mindestens zwei verschiedenen Stellen das Virus versucht, in der Vermehrung zu behindern. Das macht man mit mindestens drei verschiedenen Medikamenten, und zwei davon wären zum Beispiel diese Kombinationstablette namens "Truvada". Da wird einfach ein Enzym blockiert, was das Virus braucht, um sich zu vermehren, sozusagen Nachkommen zu generieren.
Meyer: Das ist die Wirkungsweise. Jetzt heißt es, dass "Truvada" unter Umständen die Nieren und die Knochen schädigen kann. Was weiß man denn sicher über die Nebenwirkungen?
Boesecke: Ich hatte ja gesagt, das Kombinationspräparat gibt es so seit acht Jahren, das mag sich lang anhören, aber wir wissen von früheren Medikamenten, die jetzt zum Teil seit 15, 20 Jahren gegeben werden, dass so Langzeitnebenwirkungen häufig wirklich Zeit brauchen, bis man die adäquat charakterisieren kann. Beim "Truvada", da ist ein Bestandteil drin, von dem man zumindest weiß, dass die Nierenfunktion eingeschränkt sein kann und dass sich die Knochendichte vermindern kann. Das weiß man aber eben nur von Patienten, die auch HIV-infiziert sind. Man weiß, dass die HIV-Infektion selbst natürlich auch Organe und auch die Knochen angreifen kann, und man weiß aber eben noch nicht, wie das bei gesunden Personen ist, die, sagen wir, über Jahre zum Beispiel diese Tablette einnehmen, um sich vor einer Ansteckung zu schützen, wie dann die Nebenwirkungen sein werden. Und das war auch einer der größeren Kritikpunkte in den Diskussionen, die ja vor dieser Genehmigung stattgefunden haben.
Meyer: Und ist das auch der Grund, aus dem heraus Sie sagen, es ist "sportlich", vielleicht auch gewagt, dieses Medikament jetzt schon zuzulassen, wie es eben jetzt in den USA passiert ist?
Boesecke: Gewagt ist es vielleicht nicht, aber sehr interessant, wirklich im Sinne des Wortes, weil das sozusagen ein Bekenntnis ist einer großen Industrienation, dass wir es offensichtlich in der Prävention immer noch nicht geschafft haben, die Infektionszahlen adäquat runterzudrücken. HIV gibt es jetzt mittlerweile auch schon seit 30 Jahren, und wir haben ja in Deutschland – das Robert-Koch-Institut hat es diesen Monat gerade berichtet – endlich mal einen diskreten Rückgang in den Zahlen der Neuinfektionen. Das verhält sich in den USA ganz anders, die haben 50.000 Neuansteckungen jedes Jahr, und selbst wenn man das auf die größere Einwohnerzahl runterrechnet, haben die immer noch pro Kopf mehr Neuansteckungen als wir, und das quält natürlich die Behandler und die Leute in den internationalen Gesundheitsinstituten sehr, weil sich da einfach langfristig nichts tut und man sozusagen neue Strategien einfach aufgreifen muss, um wenigstens irgendwie mal diese Epidemie eingrenzen zu können.
Meyer: Die Europäer werden sich dann wohl mehr Zeit lassen, vielleicht auch viel mehr Zeit lassen für die Zulassung dieses Medikaments. Ist das nicht verschenkte Zeit, in der dieses Medikament schon Menschen schützen könnte?
Boesecke: Dann muss man glaube ich tatsächlich einmal auf die Kritikpunkte eingehen, die auch angebracht worden sind in den vielen Diskussionen vorher: Man muss klar sagen, dass diese Tablette momentan nur empfohlen wird, zugelassen ist, wenn man sie täglich einnimmt, das heißt, es müssen ansonsten vermutlich gesunde Menschen jeden Tag eine Tablette einnehmen. Die Therapie wird teuer sein, zumindest in den Industrienationen kostet so eine Schachtel – die bräuchte man im Monat – über 800 Euro, das sind so im Jahr dann 10.000 Euro. Dann kommt hinzu, dass, wenn Patienten sich trotzdem – wir haben ja keinen hundertprozentigen Schutz –, wenn sie sich trotzdem anstecken unter dieser Therapie das Virus resistent werden kann, also nicht mehr empfindlich ist für die Tabletten, die dann gegeben werden, und "Truvada" wird sehr gerne und sehr häufig bei HIV-Patienten gegeben, weil es generell gut toleriert wird, sodass diese Option den Patienten dann schon genommen ist.
Zusätzlich darf diese Tablette auch nur in einem sehr engen Rahmen gegeben werden, mit begleitenden HIV-Tests, es muss zu Beginn ein HIV-Test gemacht werden, die Patienten oder sagen wir mal, die Leute, die die Tabletten einnehmen, müssen regelmäßig alle drei Monate HIV-Tests machen, um eben zu verhindern, dass man eine HIV-Infektion schlecht mit diesem "Truvada" dann behandelt. Zusätzlich müssen sexuelle Beratungen stattfinden, es muss ... es ist weiterhin zum Kondomgebrauch geraten, weil – und das ist eine der größeren Befürchtungen – die Kondome natürlich nicht nur vor HIV schützen, übrigens auch viel besser als die Tablette, nämlich über 95 Prozent, sondern zusätzlich natürlich auch vor anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen wie zum Beispiel eine Syphilis, da haben wir ja einen akuten Anstieg gesehen in den letzten Jahren, und eben auch akute Hepatitis C, die gerade im Bereich der Männer, die Sex mit Männern haben, sehr zunimmt.
Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen mit dem Infektionsmediziner Christoph Boesecke über die Zulassung des ersten Medikaments, das vor einer AIDS-Infektion schützen kann. Und Sie machen jetzt so viele Einschränkungen beziehungsweise benennen Kritikpunkte, das heißt, der lang erwartete Durchbruch für ein Medikament, das vor HIV schützt, der ist nun doch nicht da mit "Truvada"?
Boesecke: "Truvada" wird ein Teil einer breiten Palette an Möglichkeiten sein, mit denen man sich dieser Epidemie weiterhin nähern muss. Das wird nicht sozusagen die einzige und die Methode der Wahl sein, um in Zukunft präventiv tätig zu sein. Das ist ein sehr interessanter Ansatz und es ist mit Sicherheit sehr gut, dass ein Land sich entschlossen hat, das jetzt auszuprobieren, und wir werden Langzeitdaten brauchen für die eben schon genannten Problemfelder, um zu sehen, dass es von gesunden Leuten regelmäßig eingenommen werden kann, dass es gut vertragen wird, dass es offensichtlich die Zahl der Neuinfektionen wirklich runterdrückt – das ist ja die Erwartung der Amerikaner, die wollen ihre Neuinfektionen runter bekommen –, und dann wird man vermutlich langfristig zum Teil einfach die Ergebnisse abwarten müssen, bevor wahrscheinlich andere Länder nachziehen. Die Europäer sind da etwas ... gehen mehr vom Individuum aus und nicht von der Gesamtbevölkerung, und sehen dann noch sehr viele ethische und rechtliche Bedenken, das sozusagen durchzuwinken.
Meyer: Es gibt ja Regionen in der Welt, in Afrika zum Beispiel, wo ein großer Teil der Gesamtbevölkerung betroffen ist von HIV, jeder vierte zum Beispiel in Südafrika etwa. Wäre für solche Regionen der Einsatz dieses Mittels ein Durchbruch, tatsächlich diese Katastrophe aufzuhalten?
Boesecke: Könnte ich mir vorstellen. Man muss die Entscheidung der FDA, das ist ja nichts, was niemand aus dem Bauch heraus trifft, ...
Meyer: Das ist die amerikanische Arzneimittelbehörde.
Boesecke: Genau. Dort haben sich über 20 Leute getroffen, die haben im Mai schon mal diskutiert, über zwölf Stunden lang, sozusagen eingeschlossen in einem Zimmer, und haben alles Für und Wider beraten und haben ihre Entscheidung letzten Endes auf zwei große Studien sich da gestützt. Die eine hatte ich schon erwähnt, die andere ist eine große Studie, die in Afrika gelaufen ist, also eben die Länder, die Sie gerade ansprachen, 4700 Patienten, heterosexuelle Patienten, wo eben der eine Mensch positiv ist und der andere noch nicht, und da ist eben diese Reduktion von 75 Prozent aufgetreten. In der Tat ist es so, dass es da effektiv sein wird, man muss aber auch dazu sagen, dass es auch in afrikanischen Ländern eine Studie gegeben hat, wo nur Frauen behandelt worden sind, weil die häufiger auch eben Opfer von Vergewaltigungen sind und kulturell sich sozusagen, ich drücke das mal etwas salopp aus, sich gegen Geschlechtsverkehr sich nicht so adäquat wehren können und dann leider eben HIV-infiziert sind, sodass man den Frauen natürlich eine Maßnahme an die Hand geben wollen würde, die sich unabhängig von ihren Sexualpartnern durchführen können. Und diese Studie musste vorzeitig abgebrochen werden, weil sich eben kein Schutz gezeigt hat. Also die Datenlage ist in der Tat gemischt, aber man wird es natürlich nur rausfinden, wenn man es tatsächlich dann auch durchführt und macht. Insofern ist es ein gutes Signal.
Meyer: Das Ganze ist natürlich immer auch eine Geldfrage, und Sie haben schon vorhin ja zusammengerechnet, 10.000 Euro im Jahr würde das kosten für einen Patienten. Die Firma, die dieses neue Mittel herstellt, Gilead, hat schon angekündigt, dass sie Lizenzen abgeben wird zur günstigeren Produktion dieses Mittels. Könnte das unter Umständen dazu führen, dass dieses Mittel dann wenigstens zur Verfügung steht wie ärmere Länder wie die in Afrika?
Boesecke: Ja, absolut. Man muss sich vorstellen, wenn wir so knapp 33 Millionen Infizierte haben weltweit, ist so die Schätzung, dass ungefähr neun Millionen immer noch keine Zugang zu HIV-Therapie haben. Das ist ja fast ein knappes Drittel, was eine wahnsinnige Zahl ist. Und das liegt zum Teil auch daran, dass die Therapie einfach für die Gesundheitssysteme der betroffenen Länder nicht finanzierbar ist. Und da muss sich dringend etwas tun.
Meyer: "Truvada" ist jetzt auf dem Markt das erste Medikament, das vor einer Ansteckung mit AIDS schützen soll. Darüber haben wir mit dem Bonner Infektionsmediziner Christoph Boesecke gesprochen. Ganz herzlichen Dank!
Boesecke: Ja!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Christoph Boesecke: Ja, hallo!
Meyer: Herr Boesecke, "Truvada" schützt vor der Ansteckung mit AIDS, aber das Medikament schützt nicht hundertprozentig sicher, das zeigen erste Studien. Wie sicher ist denn der Schutz durch "Truvada"?
Boesecke: Also man muss vielleicht vorwegsagen, dass das Medikament schon sehr lange auf dem Markt ist, das ist jetzt nicht für diesen Zweck neu erfunden oder neu komponiert worden, das wird schon lange eingesetzt in der HIV-Behandlung und ist seit acht Jahren in dieser Form auch erhältlich. Da sind zwei Wirkstoffe drin in dieser Tablette, das ist eine Kombinationstablette, die eben bei Männern, die Sex mit Männern haben, also schwulen Männern, zu 42 Prozent eine HIV-Risikosenkung herbeigeführt hat, und wenn man bei heterosexuellen Paaren guckt, war das so zu 75 Prozent, also etwas höhere Zahlen.
Meyer: Das sind aber deutliche Unterschiede. Warum ist der Schutz bei Heterosexuellen größer als bei Schwulen?
Boesecke: Eins der größeren Probleme ist – da werden wir auch gleich noch drauf eingehen –, ist tatsächlich, dass man die Tablette nehmen muss, damit sie eben wirkt. Das mag sich trivial anhören, das ist aber das Hauptproblem, warum eben dann nur bei den schwulen Männern zu 42 Prozent ein richtiger Schutz eintritt. Da hat man in den Nachanalysen sehr gut sehen können, ... Man kann ja dann tatsächlich im Blut der Patienten untersuchen, die teilgenommen haben, ob überhaupt genug von der Tablette im Blut aufgenommen worden ist, und in der Tat ist es so: Wenn die Leute das regelmäßig genommen haben, hatten die zu fast 87 Prozent einen Schutz, aber das haben eben in dieser Studie – das waren 2500 Männer – nur 10 Prozent geschafft. Das heißt eben, dass es offensichtlich in so einem Studiensetting, was ja noch mal kontrollierter ist als im echten Leben, es sehr schwierig ist offensichtlich, jeden Tag eine Tablette einzunehmen für eine Erkrankung, die man noch nicht hat.
Meyer: Wie funktioniert überhaupt dieses Mittel, können Sie das kurz skizzieren?
Boesecke: Der aktuelle Stand, HIV zu behandeln, ist, dass man an mindestens zwei verschiedenen Stellen das Virus versucht, in der Vermehrung zu behindern. Das macht man mit mindestens drei verschiedenen Medikamenten, und zwei davon wären zum Beispiel diese Kombinationstablette namens "Truvada". Da wird einfach ein Enzym blockiert, was das Virus braucht, um sich zu vermehren, sozusagen Nachkommen zu generieren.
Meyer: Das ist die Wirkungsweise. Jetzt heißt es, dass "Truvada" unter Umständen die Nieren und die Knochen schädigen kann. Was weiß man denn sicher über die Nebenwirkungen?
Boesecke: Ich hatte ja gesagt, das Kombinationspräparat gibt es so seit acht Jahren, das mag sich lang anhören, aber wir wissen von früheren Medikamenten, die jetzt zum Teil seit 15, 20 Jahren gegeben werden, dass so Langzeitnebenwirkungen häufig wirklich Zeit brauchen, bis man die adäquat charakterisieren kann. Beim "Truvada", da ist ein Bestandteil drin, von dem man zumindest weiß, dass die Nierenfunktion eingeschränkt sein kann und dass sich die Knochendichte vermindern kann. Das weiß man aber eben nur von Patienten, die auch HIV-infiziert sind. Man weiß, dass die HIV-Infektion selbst natürlich auch Organe und auch die Knochen angreifen kann, und man weiß aber eben noch nicht, wie das bei gesunden Personen ist, die, sagen wir, über Jahre zum Beispiel diese Tablette einnehmen, um sich vor einer Ansteckung zu schützen, wie dann die Nebenwirkungen sein werden. Und das war auch einer der größeren Kritikpunkte in den Diskussionen, die ja vor dieser Genehmigung stattgefunden haben.
Meyer: Und ist das auch der Grund, aus dem heraus Sie sagen, es ist "sportlich", vielleicht auch gewagt, dieses Medikament jetzt schon zuzulassen, wie es eben jetzt in den USA passiert ist?
Boesecke: Gewagt ist es vielleicht nicht, aber sehr interessant, wirklich im Sinne des Wortes, weil das sozusagen ein Bekenntnis ist einer großen Industrienation, dass wir es offensichtlich in der Prävention immer noch nicht geschafft haben, die Infektionszahlen adäquat runterzudrücken. HIV gibt es jetzt mittlerweile auch schon seit 30 Jahren, und wir haben ja in Deutschland – das Robert-Koch-Institut hat es diesen Monat gerade berichtet – endlich mal einen diskreten Rückgang in den Zahlen der Neuinfektionen. Das verhält sich in den USA ganz anders, die haben 50.000 Neuansteckungen jedes Jahr, und selbst wenn man das auf die größere Einwohnerzahl runterrechnet, haben die immer noch pro Kopf mehr Neuansteckungen als wir, und das quält natürlich die Behandler und die Leute in den internationalen Gesundheitsinstituten sehr, weil sich da einfach langfristig nichts tut und man sozusagen neue Strategien einfach aufgreifen muss, um wenigstens irgendwie mal diese Epidemie eingrenzen zu können.
Meyer: Die Europäer werden sich dann wohl mehr Zeit lassen, vielleicht auch viel mehr Zeit lassen für die Zulassung dieses Medikaments. Ist das nicht verschenkte Zeit, in der dieses Medikament schon Menschen schützen könnte?
Boesecke: Dann muss man glaube ich tatsächlich einmal auf die Kritikpunkte eingehen, die auch angebracht worden sind in den vielen Diskussionen vorher: Man muss klar sagen, dass diese Tablette momentan nur empfohlen wird, zugelassen ist, wenn man sie täglich einnimmt, das heißt, es müssen ansonsten vermutlich gesunde Menschen jeden Tag eine Tablette einnehmen. Die Therapie wird teuer sein, zumindest in den Industrienationen kostet so eine Schachtel – die bräuchte man im Monat – über 800 Euro, das sind so im Jahr dann 10.000 Euro. Dann kommt hinzu, dass, wenn Patienten sich trotzdem – wir haben ja keinen hundertprozentigen Schutz –, wenn sie sich trotzdem anstecken unter dieser Therapie das Virus resistent werden kann, also nicht mehr empfindlich ist für die Tabletten, die dann gegeben werden, und "Truvada" wird sehr gerne und sehr häufig bei HIV-Patienten gegeben, weil es generell gut toleriert wird, sodass diese Option den Patienten dann schon genommen ist.
Zusätzlich darf diese Tablette auch nur in einem sehr engen Rahmen gegeben werden, mit begleitenden HIV-Tests, es muss zu Beginn ein HIV-Test gemacht werden, die Patienten oder sagen wir mal, die Leute, die die Tabletten einnehmen, müssen regelmäßig alle drei Monate HIV-Tests machen, um eben zu verhindern, dass man eine HIV-Infektion schlecht mit diesem "Truvada" dann behandelt. Zusätzlich müssen sexuelle Beratungen stattfinden, es muss ... es ist weiterhin zum Kondomgebrauch geraten, weil – und das ist eine der größeren Befürchtungen – die Kondome natürlich nicht nur vor HIV schützen, übrigens auch viel besser als die Tablette, nämlich über 95 Prozent, sondern zusätzlich natürlich auch vor anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen wie zum Beispiel eine Syphilis, da haben wir ja einen akuten Anstieg gesehen in den letzten Jahren, und eben auch akute Hepatitis C, die gerade im Bereich der Männer, die Sex mit Männern haben, sehr zunimmt.
Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen mit dem Infektionsmediziner Christoph Boesecke über die Zulassung des ersten Medikaments, das vor einer AIDS-Infektion schützen kann. Und Sie machen jetzt so viele Einschränkungen beziehungsweise benennen Kritikpunkte, das heißt, der lang erwartete Durchbruch für ein Medikament, das vor HIV schützt, der ist nun doch nicht da mit "Truvada"?
Boesecke: "Truvada" wird ein Teil einer breiten Palette an Möglichkeiten sein, mit denen man sich dieser Epidemie weiterhin nähern muss. Das wird nicht sozusagen die einzige und die Methode der Wahl sein, um in Zukunft präventiv tätig zu sein. Das ist ein sehr interessanter Ansatz und es ist mit Sicherheit sehr gut, dass ein Land sich entschlossen hat, das jetzt auszuprobieren, und wir werden Langzeitdaten brauchen für die eben schon genannten Problemfelder, um zu sehen, dass es von gesunden Leuten regelmäßig eingenommen werden kann, dass es gut vertragen wird, dass es offensichtlich die Zahl der Neuinfektionen wirklich runterdrückt – das ist ja die Erwartung der Amerikaner, die wollen ihre Neuinfektionen runter bekommen –, und dann wird man vermutlich langfristig zum Teil einfach die Ergebnisse abwarten müssen, bevor wahrscheinlich andere Länder nachziehen. Die Europäer sind da etwas ... gehen mehr vom Individuum aus und nicht von der Gesamtbevölkerung, und sehen dann noch sehr viele ethische und rechtliche Bedenken, das sozusagen durchzuwinken.
Meyer: Es gibt ja Regionen in der Welt, in Afrika zum Beispiel, wo ein großer Teil der Gesamtbevölkerung betroffen ist von HIV, jeder vierte zum Beispiel in Südafrika etwa. Wäre für solche Regionen der Einsatz dieses Mittels ein Durchbruch, tatsächlich diese Katastrophe aufzuhalten?
Boesecke: Könnte ich mir vorstellen. Man muss die Entscheidung der FDA, das ist ja nichts, was niemand aus dem Bauch heraus trifft, ...
Meyer: Das ist die amerikanische Arzneimittelbehörde.
Boesecke: Genau. Dort haben sich über 20 Leute getroffen, die haben im Mai schon mal diskutiert, über zwölf Stunden lang, sozusagen eingeschlossen in einem Zimmer, und haben alles Für und Wider beraten und haben ihre Entscheidung letzten Endes auf zwei große Studien sich da gestützt. Die eine hatte ich schon erwähnt, die andere ist eine große Studie, die in Afrika gelaufen ist, also eben die Länder, die Sie gerade ansprachen, 4700 Patienten, heterosexuelle Patienten, wo eben der eine Mensch positiv ist und der andere noch nicht, und da ist eben diese Reduktion von 75 Prozent aufgetreten. In der Tat ist es so, dass es da effektiv sein wird, man muss aber auch dazu sagen, dass es auch in afrikanischen Ländern eine Studie gegeben hat, wo nur Frauen behandelt worden sind, weil die häufiger auch eben Opfer von Vergewaltigungen sind und kulturell sich sozusagen, ich drücke das mal etwas salopp aus, sich gegen Geschlechtsverkehr sich nicht so adäquat wehren können und dann leider eben HIV-infiziert sind, sodass man den Frauen natürlich eine Maßnahme an die Hand geben wollen würde, die sich unabhängig von ihren Sexualpartnern durchführen können. Und diese Studie musste vorzeitig abgebrochen werden, weil sich eben kein Schutz gezeigt hat. Also die Datenlage ist in der Tat gemischt, aber man wird es natürlich nur rausfinden, wenn man es tatsächlich dann auch durchführt und macht. Insofern ist es ein gutes Signal.
Meyer: Das Ganze ist natürlich immer auch eine Geldfrage, und Sie haben schon vorhin ja zusammengerechnet, 10.000 Euro im Jahr würde das kosten für einen Patienten. Die Firma, die dieses neue Mittel herstellt, Gilead, hat schon angekündigt, dass sie Lizenzen abgeben wird zur günstigeren Produktion dieses Mittels. Könnte das unter Umständen dazu führen, dass dieses Mittel dann wenigstens zur Verfügung steht wie ärmere Länder wie die in Afrika?
Boesecke: Ja, absolut. Man muss sich vorstellen, wenn wir so knapp 33 Millionen Infizierte haben weltweit, ist so die Schätzung, dass ungefähr neun Millionen immer noch keine Zugang zu HIV-Therapie haben. Das ist ja fast ein knappes Drittel, was eine wahnsinnige Zahl ist. Und das liegt zum Teil auch daran, dass die Therapie einfach für die Gesundheitssysteme der betroffenen Länder nicht finanzierbar ist. Und da muss sich dringend etwas tun.
Meyer: "Truvada" ist jetzt auf dem Markt das erste Medikament, das vor einer Ansteckung mit AIDS schützen soll. Darüber haben wir mit dem Bonner Infektionsmediziner Christoph Boesecke gesprochen. Ganz herzlichen Dank!
Boesecke: Ja!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.