"Es ist zärtlicher, es ist langsamer, es ist schöner"

Oswalt Kolle im Gespräch mit Matthias Hanselmann |
Der "Aufklärer der Nation" Oswald Kolle hält die Alterssexualität für ein großes Thema in der Gesellschaft. Er wolle den Leuten, die gerne noch Sexualität und Erotik im Alter erleben wollten, Mut machen, sagte der 79-Jährige. Allerdings müsste auch aufgepasst werden, alte Menschen nicht unter Druck zu setzen.
Matthias Hanselmann: Er ist der Mann, der die sogenannte sexuelle Revolution in die deutschen Schlafzimmer brachte, den man den Aufklärer der Nation nennt seit er in den 60er- und 70er-Jahren endlich offen über das sprach, worüber man damals verschämt schwieg: Sexualität. Zu einer Zeit, als Eltern ihren pubertierenden Kindern noch verschämt das Buch "Woher kommen die kleinen Buben und Mädchen?" auf das Kopfkissen legten, da schrieb er "Dein Kind, das unbekannte Wesen". Das war sein erstes und erfolgreichstes Aufklärungsbuch.

1968 kam der Film "Das Wunder der Liebe" in die Kinos, es folgten viele unglaublich erfolgreiche Bücher, Filme, Artikel rund um das Thema Sexualität. Natürlich wurde er auch angegriffen. So einer verstößt gegen gute Sitte und Moral, hieß es damals. Oswalt Kolle wird in wenigen Tagen 80 Jahre alt und hat jetzt seine Autobiografie veröffentlicht. Titel: "Ich bin so frei. Mein Leben". Und wir begrüßen ihn jetzt am Telefon. Guten Tag, Herr Kolle.

Oswalt Kolle: Schönen guten Tag aus Amsterdam.

Hanselmann: Sagen Sie, regt sich eigentlich heute noch irgendjemand über Sie und Ihre Meinung zur Sexualität auf?

Kolle: Na, über einzelne Dinge immer wieder, dass ich eine gewisse Freiheit auch in der Ehe hatte mit meiner Frau und so. Das ist immer noch ein Diskussionsthema. Aber das Thema Alterssexualität ist ein großes Thema. Ich höre gerade, dass in Deutschland ein Film, "Wolke 9", anläuft, der alte Menschen im Bett zeigt und da gibt es schon wieder zwei Auffassungen. Und das ist mein Thema heute, Sexualität im Alter.

Die jungen Leute, die haben wir frei gemacht mit unserer Arbeit, ich ja nicht alleine, sondern mit vielen Wissenschaftlern zusammen. Und die jungen Leute wollen uns jetzt missgönnen zum Teil, dass wir auch noch Sex haben, sondern sie wollen lieber, dass Oma und Opa auf einer Parkbank sitzen und Hand in Hand in den Himmel schauen.

Hanselmann: Natürlich wollte ich den Film auch ansprechen, "Wolke 9" von Andreas Dresen. Soweit ich weiß, wird zum ersten Mal gezeigt, wie alte Menschen körperlich sich lieben. Wundert Sie das nicht, dass es bis zum Jahr 2008 gedauert hat?

Kolle: Ja, das ist leider ein ganz kleiner Irrtum. Vor 10, 15 Jahren hat Klaus Pacharzina im ZDF eine Serie über Sexualität begonnen damit, dass er alte Menschen im Bett zeigte. Das hat eine solche Empörung hervorgerufen, dass die Serie sofort abgesetzt wurde. Das war eine sechsteilige Serie, die dann fortgesetzt wurde unter der Ägide eines katholischen ehemaligen Kultusministers, der den Satz gebracht hat: "Gott hat uns leider diesen schrecklichen Unterleib geschenkt."

Hanselmann: Erleben Sie denn, Herr Kolle, Sexualität heute mit fast 80 Jahren anders, als, sagen wir, vor 20 Jahren? Und wenn ja, wie?

Kolle: Na ja, natürlich. Es ist zärtlicher, es ist langsamer, es ist schöner, es ist intensiver in vielen Richtungen. Und wir müssen immer aufpassen, dass wir alte Menschen jetzt nicht unter Druck setzen, dass sie müssen unbedingt. Nein, nein. Wenn sie wollen und den Leuten, die gerne noch Sexualität, Erotik im Alter erleben wollen, denen will ich Mut machen. Und dieser Film offenbar, "Wolke 9", auch.

Hanselmann: Jetzt haben Sie Ihre Autobiografie vorgelegt. Und lassen Sie uns ein bisschen sprechen über Ihr Leben. Wann haben Sie denn das Thema Sexualität bei sich persönlich entdeckt? Was waren denn Ihre ersten Erfahrungen damit?

Kolle: Na ja, eigentlich sehr früh. Das hat mich immer fasziniert das Thema und ich habe dann mit 20, also das waren die ersten eigenen Erlebnisse, vielfach noch unter Schuldgefühlen, weil man nicht wusste, ist das gut, ist das richtig, was ich jetzt mache. Und das wurde auch meistens sofort abgestraft. Ich erinnere mich an mein erstes Erlebnis mit einem jungen Mädchen auf einem Pommerschen Gutshof.

Also, das hat irgendjemand entdeckt, dass wir so ein bisschen gefummelt haben und dann wurde das Mädchen sofort, wurden die Pferde angespannt, sie wurde zum nächsten, richtig Vertreibung aus dem Paradies, zum nächsten Bahnhof gebracht, das Mädchen musste sofort weg. Ich wurde gestraft damit, dass ich zwei Tage, ich habe das in meiner Biografie ja geschrieben, dass ich zwei Tage lang mit einer, weiß ich nicht, mit einer Nagelschere irgendwie den Hofeingang säubern musste von Gräsern. Also, das war ...

Hanselmann: Kann man sich kaum mehr vorstellen.

Kolle: Ja, aber das war so. Und eine ganz wichtige Erfahrung für mich war 1948. Da hat ein Freund aus Amerika meinem Vater den ersten Kinsey-Report in Englisch, die Sexualität des Mannes, mitgebracht. Und mein Vater sprach nicht gut Englisch, ich habe ganz wesentliche Passagen für ihn übersetzt und da habe ich diesen sogenannten Kinsey-Effekt bei mir selbst erlebt. All die Dinge, die man gemacht hat, die man, die Fantasien, ich war gar nicht allein. Es gab unendlich viele Menschen, die auch so fühlten.

Hanselmann: Und es gehörten wohl auch sehr früh schon homoerotische Erfahrungen zu Ihrem Leben.

Kolle: Ja, ja. Das war meine erste.

Hanselmann: Wir können natürlich nicht Ihr Leben in diesen zehn Minuten umfangreich beleuchten. Nach dem Krieg haben Sie erstmal Landwirtschaft studiert, wollten auch wirklich Landwirt werden. Aber dann war es der Journalismus, das Schreiben, das Sie am meisten faszinierte und packte. Sie waren richtig gut im Geschäft, bezeichnen sich selbst in Ihrem Buch auch als Newspaper Boy. Was war es, dass Sie so liebten an diesem Job und worüber haben Sie am liebsten geschrieben?

Kolle: Na ja, ich habe in den jungen Jahren am liebsten geschrieben über Film und Theater, alles, was mit Film und Theater. Ich war fasziniert von dieser Welt, ich habe mit vielen, vielen Schauspielern Interviews gehabt, erste Begegnung mit Hildegard Knef, eine ganz wichtige Figur in meinem Leben, und dann war ich viel bei den Filmfestspielen in Cannes, habe die Größen der Welt kennengelernt und interviewt. Also, das hat mich damals fasziniert. Aber es war, nebenbei war immer dieses Thema unterschwellig Sexualität natürlich.

Hanselmann: Sie schreiben in Ihrem Buch auch über eine kurze, aber heftige Affäre mit Romy Schneider.

Kolle: Ja.

Hanselmann: Ist es Ihnen peinlich, darauf angesprochen zu werden? Dürfte es eigentlich gar nicht, weil Sie haben es ja selber geschrieben.

Kolle: Nein, überhaupt nicht, das ist mir überhaupt nicht peinlich. Es war eine wunderschöne Liebesgeschichte und eine kurze, heftige, gute Liebesgeschichte, die für beide gut ausgegangen ist.

Hanselmann: Wunderbar. Man kann das prima nachlesen in diesem Buch.

Kolle: Ja.

Hanselmann: Bekannt, berühmt und auch reich geworden sind Sie dann aber als der eben schon erwähnte Aufklärer der Nation. "Dein Kind, das unbekannte Wesen" war Ihr erster großer Erfolg als Serie für die Zeitschrift "Quick". Und dann als Buch dabei war das Ganze aber glaube ich gar nicht Ihre eigene Idee, oder?

Kolle: Natürlich war das, mein, was heißt die Idee, erster großer Erfolg, das war "Dein Kind, das unbekannte Wesen". Das war vom Chefredakteur der "Quick", dessen Frau erwartete ein Kind und er hat zu mir ganz kurz gesagt: "Ich will eine Serie von dir. Erklär mir das Kind." Und das habe ich mit Wissenschaftlern zusammen geschrieben, das war ein großer Erfolg. Und in diesem Buch kam natürlich, erst Serie, dann Buch, kam natürlich auch das Thema Sexualität des Kindes auf und Aufklärung.

Und da habe ich geschrieben, man sollte die Kinder früh aufklären. Aufgeklärte Eltern haben aufgeklärte Kinder, habe ich geschrieben. Und man sollte dann aber zunächst mal damit anfangen, die Geschlechtsorgane so zu benennen, wie sie heißen, nämlich Glied und Penis, Vagina und Scheide. Und daraufhin hat der damalige Familienminister an den "Quick"-Chefredakteur geschrieben, wenn solche schweinischen Wörter noch einmal in der "Quick" erscheinen würden, würde er persönlich für ein Verbot der "Quick" sorgen. Da haben Sie die ganze Zeit in einem Satz. So war die Zeit.

Hanselmann: Das war die Atmosphäre, in der dann Ihre Werke eingeschlagen haben erfolgsmäßig, aber auch Riesenproteste hervorgerufen haben. Herr Kolle, es wird Ihnen auch immer wieder vorgeworfen, dass Sie nichts als Sex im Kopf hätten, dass Sie die Liebe auf das Sexuelle reduziert hätten, Sie wurden ja auch "Sexpapst" genannt.

Kolle: Ja, das ist ein schreckliches Wort. Der Mann, der nichts als Sex im Kopf hat, ist übrigens der Papst. Also, der redet mehr über Sex als ich. Nein, meine Filme, meine Bücher gehen über Beziehungen. Nur habe ich etwas gemacht, was vorher nicht üblich war. Ich habe nämlich gesagt, zu Beziehungen zwischen Männern und Frauen gehört auch Sexualität. Die wurde vorher verschwiegen, ich habe sie ans Licht geholt. Das ist der Unterschied. Wenn Sie meine Filme sehen, da ist gar nicht so viel Sex drin, da ist auch Sexualität offen gezeigt. Aber Beziehungen waren mein Thema und sind mein Thema bis heute.

Hanselmann: Damit sind wir bei einem anderen Thema, das ich ansprechen muss, nämlich, was bedeutet Ihnen eigentlich Treue?

Kolle: Ja, ich finde es außerordentlich wichtig. Das ist ein ganz, ganz wichtiges Thema in meinem Leben gewesen. Wir waren 50 Jahre zusammen, außerordentlich treu, aber wir hatten auch Flirts außerhalb der Beziehung, wir beide.

Hanselmann: Also, Ihre Frau Marlies und Sie.

Kolle: Ja, so ist es. Aber Treue ist unglaublich wichtig, und zwei Menschen müssen das miteinander ausmachen. Ich bin jetzt in einer neuen Beziehung absolut 100 Prozent monogam, das muss man klarmachen. Man muss es miteinander ausmachen. Und das rate ich auch allen Paaren. Wenn Sie die Menschen angucken, da gibt es von rechts nach links eine ganze Skala von Menschen, die sagen "ja, ich bin absolut treu" oder "man kann ab und zu mal neben rausgehen, aber man will davon dann nichts wissen, genieße und schweig", bis zu den Leuten, die zusammen in Paarclubs gehen und sich dabei zuschauen, wie sie mit anderen Partnern. Das ist die ganze Skala. Macht es miteinander aus. Das ist meine Philosophie.

Hanselmann: Eine letzte Frage, Herr Kolle: Wie erleben Sie eigentlich unsere heutige Welt, unsere Gesellschaft in Deutschland und drum herum, Sie leben ja in Holland, in Bezug auf Sexualität? Hat all die Offenheit, der freiere Umgang mit Sex, den Sie ja propagiert haben, nicht auch zum Teil zu Schamlosigkeit und Respektlosigkeit geführt? Denken Sie an die Werbung, an Bücher von Prominenten über ihre Sexerlebnisse und so weiter.

Kolle: Nein, es gibt keine öffentliche Schamlosigkeit. Wo finden Sie die? Wenn ich ins Fernsehen gucke heute, sehe ich immer Kochrezepte. Also, da wird unentwegt gekocht, schamlos gekocht, als gäbe es nichts anderes als Essen in der Welt.

Hanselmann: Herr Kolle, ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch, wünsche Ihnen noch viel Freude auch in Ihrer nicht mehr ganz so jungen monogamen Beziehung und einen schönen Tag nach Amsterdam.

Kolle: Ich danke Ihnen schön.