"Es passiert einfach etwas wunderbar Schönes in diesem Film"
Ein Schuhputzer, ein Gemüsehändler, ein Polizist und ein alternder Rockstar helfen einem Jungen, der als Illegaler in Frankreich lebt, zur Weiterflucht nach London. Kaurismäki hat seinen jüngsten Film im Stil des französischen Kinos der 1930er-Jahre gedreht.
Liane von Billerbeck: Und über diesen Mann und seinen Film wollen wir jetzt sprechen, Kaurismäki, einen der ganz großen Autorenfilmer, und einer der wenigen Regisseure, denen es immer noch gelingt, ein ganz eigenes und vor allem eigensinniges Kinouniversum zu erschaffen und damit ein großes Publikum zu erreichen. Aki Kaurismäki, die Filmtitel, einige haben Sie eben schon gehört, "Hamlet goes Business", "Das Mädchen aus der Streichholzfabrik" und "Der Mann ohne Vergangenheit" - wenn man diese Filmtitel hört, dann ist man eigentlich schon mittendrin in Kaurismäkis Welt, die bevölkert ist von großen Schweigern und liebenswerten Losern. Nun hat also Kaurismäki nach fast fünf Jahren Pause wieder einen Film gedreht, "Le Havre", so der Titel. Bei uns im Studio ist jetzt die Filmkritikerin Katja Nicodemus, die hat Aki Kaurismäki getroffen. Zunächst mal die Frage: Hat denn auch dieser neue Film den ganz unverwechselbaren und typischen Kaurismäki-Touch?
Katja Nicodemus: Na, das Schönste im Kino ist ja eigentlich, wenn Regisseure, die man mag, wenn die sich einerseits treu bleiben und sich dabei trotzdem neu erfinden, und das ist wirklich auch der Fall bei Kaurismäkis neuem Film. Der Film wurde eben komplett in Frankreich und auf Französisch gedreht, und wir haben es ja eben schon gehört, er erzählt auf gewohnt komische und lakonische Weise von einem Thema unserer Zeit, einem Ehepaar, das eben seinen kargen Lebensunterhalt bestreitet, er ist Schuhputzer am Bahnhof von Le Havre und sie stellt abends das Essen auf dem Tisch, das er dann eben auch postwendend noch ein bisschen vertrinkt, und dazu, zu diesen beiden und diesem Schuhputzer, gesellt sich nun dieser halbwüchsige afrikanische Junge, der illegal nach Le Havre kam.
Und es passiert einfach etwas wunderbar Schönes in diesem Film, dass nämlich das ganze Personal des Films sich zusammentut zu dieser Solidargemeinschaft, um dem Jungen, dem Illegalen, dem Flüchtling die Weiterflucht nach London zu seiner Mutter zu ermöglichen. Also das sind dann Schuhputzer, Gemüsehändler, ein Polizist, ein alternder Rockstar - die alle bilden wirklich so eine utopische Minigesellschaft. Und das Ganze ist eben erzählt im nostalgischen Stil des französischen Kinos vor allem der 30er-Jahre, und ich habe natürlich Kaurismäki gefragt, ob diese Verbindung für ihn, auch neuartige Verbindung von Utopie und Poesie und politischem Thema, ob das jetzt für ihn eine Herausforderung war.
Aki Kaurismäki: Nie zuvor in meinem Leben war ich so nervös wie beim Drehen dieses verdammten Films, weil ich nicht sicher war, ob ich es hinkriegen würde, denn es ist nicht so einfach, den Neorealismus aus Italien nach Frankreich zu bringen. Er musste aber dorthin gebracht werden, und dank des Schengener Abkommens war es nicht allzu schwer.
von Billerbeck: Kaurismäki spricht ja ziemlich leise, wenn man das eben gehört hat, und es ist ja bekannt, dass er bei Interviews gerne und häufig den geistigen Getränken zuspricht. Wie haben Sie ihn denn erlebt?
Nicodemus: Na ja, er mag es ja wirklich nicht, über seine Filme zu sprechen, er hat Angst vor solchen Situationen, er hat Angst davor, seine Filme auf Festivals vorzustellen, Angst vor öffentlichen Auftritten überhaupt. Und auch während unseres Gesprächs in einem Hotelgarten in Berlin-Mitte hat er, ja, ich würde mal sagen, nicht wenig Weißwein getrunken - es muss jetzt der Phantasie überlassen bleiben, wie viel -, und im Hintergrund plätscherte eben noch dazu ein Brunnen, und er sprach so leise, dass ich ihn manchmal kaum verstehen konnte. Der Brunnen war dann wie ein Wasserfall. Und obwohl er da einem gegenüber manchmal wie so ein finnischer Fels sitzt, hat er etwas sehr Zartes und auch Verletzliches, also man hat das Gefühl, dass in ihm wirklich eine ganz große Angst sitzt. Und er hat zum Beispiel auch über die Angst beim Drehen gesprochen, über die Angst, das Bild nicht wirklich kontrollieren zu können, weil immer etwas schieflaufen kann.
Kaurismäki: Erst arbeitet man wie ein Irrer, und dann macht man einen Fehler, alle Arten von Fehlern, die in diesem Leben möglich sind. Die Kameraposition ist falsch, das Licht sieht scheiße aus, die Schauspieler spielen schlecht. Kino ist ein einziger großer Fehler. Alles, was im Inneren des Bildes geschieht, ist letztlich ein Fehler, wenn man ein Perfektionist ist.
Nicodemus: Ja, wenn Filme Fehler sind, dann macht natürlich Aki Kaurismäki wundervolle Fehler, würde ich mal sagen, jedenfalls bessere und schönere Fehler als viele, die vielleicht alles richtig machen.
von Billerbeck: Sie haben ja schon erwähnt, dass "Le Havre" eine schöne und nostalgische Hommage an das französische Kino früherer Jahre sei. Wie müssen wir uns das stilistisch vorstellen?
Nicodemus: Na, eigentlich ist "Le Havre" eine einzige Verbeugung vor diesem Kino, vor dem poetischen Realismus von Marcel Carné, Julien Duvivier und Jean Renoir, und wenn man an dieses Kino gerade in den 30er-Jahren denkt, dann eben an ein bestimmtes Gaslaternenlicht, an diese Schwarz-Weiß-Bilder, an Nebel, an Häfen, an die Verbindung von poetischer Atmosphäre und randständigen Gestalten vom unteren Teil der Gesellschaft, und genau diese leicht entrückte Atmosphäre, die herrscht auch eben in den Bildern von Kaurismäkis "Le Havre". Und manchmal glaubt man wirklich, dass jetzt gleich der junge Jean Gabin um die Ecke biegen könnte, und seine Bardame sieht aus wie Arleti, und sein Held, der Schuhputzer, Marcel Marx, übrigens ein schöner Name, der zündet sich seine Zigarette eben wie die Helden des Film noir an. Und Kaurismäki dreht ja eben auch auf Zelluloid, daher haben diese warmen und satten Farben seiner Filme eben auch dieses von innen heraus entstehende nostalgische Leuchten.
Kaurismäki: Es kommt nicht darauf an, ob man auf Zelluloid dreht oder nicht, sondern wie man sich der Kamera bedient. Ich verabscheue die moderne Kameratechnologie, aber die Frage ist nie die Technologie, sondern ihr Gebrauch. Im Grunde ist alles eine Frage des Stils.
von Billerbeck: Kaurismäki hat ja auch in diesem Film wieder mit Kati Outinen gedreht, seiner Lieblingsdarstellerin, die quasi zum Gesicht seines Kinos geworden ist. Wie wirkt sie denn nun? Weil sie muss ja hier Französisch sprechen.
Nicodemus: Ja, sie spricht ein ganz wunderbar einfaches Französisch mit einem leichten finnischen Akzent, und sie ist einfach großartig. Man möchte einfach vor ihr niederknien, obwohl ihr Partner, Filmpartner André Wilms auch ganz toll ist, eigentlich alle Darsteller dieses Films. Und Sie haben auch ganz recht, wenn Sie auch "die Darstellerin" sagen, denn Kaurismäki mag es ja nicht, wenn seine Darsteller schauspielern. Er hat auch mal im Scherz gesagt, am liebsten würde er ihnen die Arme und Beine abschneiden, damit sie noch reduzierter, noch fokussierter, noch stiller, noch regungsloser im Bild sind.
Und auch in "Le Havre" verströmen eben alle Schauspieler oder alle Darsteller diese stummfilmhafte Intensität, eben ganz besonders Kati Outinen, und um mal so ein Beispiel zu geben: Sie bekommt ja in dem Film eine schwere Krankheit, und wenn sie sich dann nur einmal an den Bauch fasst und dann so zusammenkauert, dann ist wirklich alles über diese Krankheit gesagt, dann muss nichts mehr beschrieben oder besprochen werden. Und ich wollte natürlich von Aki Kaurismäki auch wissen, wie denn diese Intensität, diese Reduziertheit oder diese fast spirituelle Aura bei seinen Darstellern entsteht.
Kaurismäki: Es ist immer eine Frage der Würde: Wenn man die Crew, die Schauspieler und alle um sich herum würdevoll behandelt, dann sehen sie auch im Bild würdevoll aus, und irgendwie spirituell. Sie sind in der Lage, im Bild das Gewicht des menschlichen Lebens zu tragen.
von Billerbeck: Kaurismäki soll ja genauso schweigsam und lakonisch sein wie die Figuren in seinen Filmen. Das sind nicht die besten Voraussetzungen für ein Interview. Offenbar ließ sich aber ihm doch irgendwas entlocken. War das schwer, oder hat da der Weißwein das Übrige dazu getan?
Nicodemus: Na, teilweise kommt man sich schon wie jemand vor, der immer neue Kohlen ins Feuer schaufeln muss, wenn man ihm gegenübersitzt, ja, und es ging dann schon, und ich habe eben auch solidarisch auch ein bisschen mitgetrunken. Das war dann so nicht schlecht, dann war man so auf einer Ebene. Ich konnte das nicht mehr einholen, was er schon so vorgelegt hatte, aber es war so ganz schön.
Und ja, am einfachsten ist es übrigens, wenn man Kaurismäki zum Sprechen bringen will, wenn man ihm dann über die Filme der Regisseure spricht, die er bewundert, also nicht über sich selbst, sondern über seine Kollegen, Jean-Luc Godard gehört dazu, Douglas Sirk, Rainer Werner Fassbinder, Robert Bresson - da kann er richtig schwärmen. Da redet er dann auch ein bisschen lauter und übertönt mal den Brunnen im Hintergrund, und da geht er auch ein bisschen aus sich heraus, was man so auf Finnisch aus sich herausgehen nennen könnte. Und er hat auch einen wunderbaren Satz gesagt über sich und Jean-Luc Godard, weil nämlich Godards jüngste Filme ja immer als hochkompliziert gelten und Kaurismäkis Filme hingegen als so klar und einfach.
Kaurismäki: Jean-Luc Godards Kunst besteht darin, sofort zum Punkt zu kommen, und zwar auf so clevere Weise, dass ihn niemand versteht. Und ich bin so verdammt blöd, dass ich nicht verstehe, was ich meine. Letztlich verstehen die Leute meine Filme, weil ich selbst sie nicht verstehe.
von Billerbeck: Das war Aki Kaurismäki, sein neuer Film "Le Havre" kommt ab Donnerstag in die Kinos und war mein Thema im Gespräch mit der Filmkritikerin Katja Nicodemus. Danke Ihnen!
Nicodemus: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Eine Bilanz des Moskaufilmfestivals und die Preisträger
Melancholische Klassiker
Nicht nur der Himmel von Le Havre ist berühmt
Katja Nicodemus: Na, das Schönste im Kino ist ja eigentlich, wenn Regisseure, die man mag, wenn die sich einerseits treu bleiben und sich dabei trotzdem neu erfinden, und das ist wirklich auch der Fall bei Kaurismäkis neuem Film. Der Film wurde eben komplett in Frankreich und auf Französisch gedreht, und wir haben es ja eben schon gehört, er erzählt auf gewohnt komische und lakonische Weise von einem Thema unserer Zeit, einem Ehepaar, das eben seinen kargen Lebensunterhalt bestreitet, er ist Schuhputzer am Bahnhof von Le Havre und sie stellt abends das Essen auf dem Tisch, das er dann eben auch postwendend noch ein bisschen vertrinkt, und dazu, zu diesen beiden und diesem Schuhputzer, gesellt sich nun dieser halbwüchsige afrikanische Junge, der illegal nach Le Havre kam.
Und es passiert einfach etwas wunderbar Schönes in diesem Film, dass nämlich das ganze Personal des Films sich zusammentut zu dieser Solidargemeinschaft, um dem Jungen, dem Illegalen, dem Flüchtling die Weiterflucht nach London zu seiner Mutter zu ermöglichen. Also das sind dann Schuhputzer, Gemüsehändler, ein Polizist, ein alternder Rockstar - die alle bilden wirklich so eine utopische Minigesellschaft. Und das Ganze ist eben erzählt im nostalgischen Stil des französischen Kinos vor allem der 30er-Jahre, und ich habe natürlich Kaurismäki gefragt, ob diese Verbindung für ihn, auch neuartige Verbindung von Utopie und Poesie und politischem Thema, ob das jetzt für ihn eine Herausforderung war.
Aki Kaurismäki: Nie zuvor in meinem Leben war ich so nervös wie beim Drehen dieses verdammten Films, weil ich nicht sicher war, ob ich es hinkriegen würde, denn es ist nicht so einfach, den Neorealismus aus Italien nach Frankreich zu bringen. Er musste aber dorthin gebracht werden, und dank des Schengener Abkommens war es nicht allzu schwer.
von Billerbeck: Kaurismäki spricht ja ziemlich leise, wenn man das eben gehört hat, und es ist ja bekannt, dass er bei Interviews gerne und häufig den geistigen Getränken zuspricht. Wie haben Sie ihn denn erlebt?
Nicodemus: Na ja, er mag es ja wirklich nicht, über seine Filme zu sprechen, er hat Angst vor solchen Situationen, er hat Angst davor, seine Filme auf Festivals vorzustellen, Angst vor öffentlichen Auftritten überhaupt. Und auch während unseres Gesprächs in einem Hotelgarten in Berlin-Mitte hat er, ja, ich würde mal sagen, nicht wenig Weißwein getrunken - es muss jetzt der Phantasie überlassen bleiben, wie viel -, und im Hintergrund plätscherte eben noch dazu ein Brunnen, und er sprach so leise, dass ich ihn manchmal kaum verstehen konnte. Der Brunnen war dann wie ein Wasserfall. Und obwohl er da einem gegenüber manchmal wie so ein finnischer Fels sitzt, hat er etwas sehr Zartes und auch Verletzliches, also man hat das Gefühl, dass in ihm wirklich eine ganz große Angst sitzt. Und er hat zum Beispiel auch über die Angst beim Drehen gesprochen, über die Angst, das Bild nicht wirklich kontrollieren zu können, weil immer etwas schieflaufen kann.
Kaurismäki: Erst arbeitet man wie ein Irrer, und dann macht man einen Fehler, alle Arten von Fehlern, die in diesem Leben möglich sind. Die Kameraposition ist falsch, das Licht sieht scheiße aus, die Schauspieler spielen schlecht. Kino ist ein einziger großer Fehler. Alles, was im Inneren des Bildes geschieht, ist letztlich ein Fehler, wenn man ein Perfektionist ist.
Nicodemus: Ja, wenn Filme Fehler sind, dann macht natürlich Aki Kaurismäki wundervolle Fehler, würde ich mal sagen, jedenfalls bessere und schönere Fehler als viele, die vielleicht alles richtig machen.
von Billerbeck: Sie haben ja schon erwähnt, dass "Le Havre" eine schöne und nostalgische Hommage an das französische Kino früherer Jahre sei. Wie müssen wir uns das stilistisch vorstellen?
Nicodemus: Na, eigentlich ist "Le Havre" eine einzige Verbeugung vor diesem Kino, vor dem poetischen Realismus von Marcel Carné, Julien Duvivier und Jean Renoir, und wenn man an dieses Kino gerade in den 30er-Jahren denkt, dann eben an ein bestimmtes Gaslaternenlicht, an diese Schwarz-Weiß-Bilder, an Nebel, an Häfen, an die Verbindung von poetischer Atmosphäre und randständigen Gestalten vom unteren Teil der Gesellschaft, und genau diese leicht entrückte Atmosphäre, die herrscht auch eben in den Bildern von Kaurismäkis "Le Havre". Und manchmal glaubt man wirklich, dass jetzt gleich der junge Jean Gabin um die Ecke biegen könnte, und seine Bardame sieht aus wie Arleti, und sein Held, der Schuhputzer, Marcel Marx, übrigens ein schöner Name, der zündet sich seine Zigarette eben wie die Helden des Film noir an. Und Kaurismäki dreht ja eben auch auf Zelluloid, daher haben diese warmen und satten Farben seiner Filme eben auch dieses von innen heraus entstehende nostalgische Leuchten.
Kaurismäki: Es kommt nicht darauf an, ob man auf Zelluloid dreht oder nicht, sondern wie man sich der Kamera bedient. Ich verabscheue die moderne Kameratechnologie, aber die Frage ist nie die Technologie, sondern ihr Gebrauch. Im Grunde ist alles eine Frage des Stils.
von Billerbeck: Kaurismäki hat ja auch in diesem Film wieder mit Kati Outinen gedreht, seiner Lieblingsdarstellerin, die quasi zum Gesicht seines Kinos geworden ist. Wie wirkt sie denn nun? Weil sie muss ja hier Französisch sprechen.
Nicodemus: Ja, sie spricht ein ganz wunderbar einfaches Französisch mit einem leichten finnischen Akzent, und sie ist einfach großartig. Man möchte einfach vor ihr niederknien, obwohl ihr Partner, Filmpartner André Wilms auch ganz toll ist, eigentlich alle Darsteller dieses Films. Und Sie haben auch ganz recht, wenn Sie auch "die Darstellerin" sagen, denn Kaurismäki mag es ja nicht, wenn seine Darsteller schauspielern. Er hat auch mal im Scherz gesagt, am liebsten würde er ihnen die Arme und Beine abschneiden, damit sie noch reduzierter, noch fokussierter, noch stiller, noch regungsloser im Bild sind.
Und auch in "Le Havre" verströmen eben alle Schauspieler oder alle Darsteller diese stummfilmhafte Intensität, eben ganz besonders Kati Outinen, und um mal so ein Beispiel zu geben: Sie bekommt ja in dem Film eine schwere Krankheit, und wenn sie sich dann nur einmal an den Bauch fasst und dann so zusammenkauert, dann ist wirklich alles über diese Krankheit gesagt, dann muss nichts mehr beschrieben oder besprochen werden. Und ich wollte natürlich von Aki Kaurismäki auch wissen, wie denn diese Intensität, diese Reduziertheit oder diese fast spirituelle Aura bei seinen Darstellern entsteht.
Kaurismäki: Es ist immer eine Frage der Würde: Wenn man die Crew, die Schauspieler und alle um sich herum würdevoll behandelt, dann sehen sie auch im Bild würdevoll aus, und irgendwie spirituell. Sie sind in der Lage, im Bild das Gewicht des menschlichen Lebens zu tragen.
von Billerbeck: Kaurismäki soll ja genauso schweigsam und lakonisch sein wie die Figuren in seinen Filmen. Das sind nicht die besten Voraussetzungen für ein Interview. Offenbar ließ sich aber ihm doch irgendwas entlocken. War das schwer, oder hat da der Weißwein das Übrige dazu getan?
Nicodemus: Na, teilweise kommt man sich schon wie jemand vor, der immer neue Kohlen ins Feuer schaufeln muss, wenn man ihm gegenübersitzt, ja, und es ging dann schon, und ich habe eben auch solidarisch auch ein bisschen mitgetrunken. Das war dann so nicht schlecht, dann war man so auf einer Ebene. Ich konnte das nicht mehr einholen, was er schon so vorgelegt hatte, aber es war so ganz schön.
Und ja, am einfachsten ist es übrigens, wenn man Kaurismäki zum Sprechen bringen will, wenn man ihm dann über die Filme der Regisseure spricht, die er bewundert, also nicht über sich selbst, sondern über seine Kollegen, Jean-Luc Godard gehört dazu, Douglas Sirk, Rainer Werner Fassbinder, Robert Bresson - da kann er richtig schwärmen. Da redet er dann auch ein bisschen lauter und übertönt mal den Brunnen im Hintergrund, und da geht er auch ein bisschen aus sich heraus, was man so auf Finnisch aus sich herausgehen nennen könnte. Und er hat auch einen wunderbaren Satz gesagt über sich und Jean-Luc Godard, weil nämlich Godards jüngste Filme ja immer als hochkompliziert gelten und Kaurismäkis Filme hingegen als so klar und einfach.
Kaurismäki: Jean-Luc Godards Kunst besteht darin, sofort zum Punkt zu kommen, und zwar auf so clevere Weise, dass ihn niemand versteht. Und ich bin so verdammt blöd, dass ich nicht verstehe, was ich meine. Letztlich verstehen die Leute meine Filme, weil ich selbst sie nicht verstehe.
von Billerbeck: Das war Aki Kaurismäki, sein neuer Film "Le Havre" kommt ab Donnerstag in die Kinos und war mein Thema im Gespräch mit der Filmkritikerin Katja Nicodemus. Danke Ihnen!
Nicodemus: Gerne!
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