"Es sind mehr Männer als Frauen auf der Straße"

Christine Heinrichs im Gespräch mit Liane von Billerbeck |
In Deutschland gibt es zwischen 200.- und 300.000 Obdachlose. Wieso landen in einem Land wie der Bundesrepublik immer noch viele Menschen auf der Straße? Sozialarbeiterin Christine Heinrichs vom "Verein für soziale Heimstätten" in Frankfurt hat Erklärungen – und sieht Unterschiede zwischen den Geschlechtern.
Liane von Billerbeck: Novembernächte können sehr kalt sein. Besonders kalt sind sie für diejenigen, die keine feste Bleibe haben, also nicht mal fix die Heizung höher stellen können. In Rostock erfror vorige Woche ein 54-jähriger obdachloser Mann, und Schätzungen zufolge gibt es zwischen 200.000 und 300.000 Obdachlose in Deutschland, von denen, auch wieder nur geschätzt, bis zu 30.000 auf der Straße leben.

Wieso aber landen in einem so reichen Land wie dem Unseren noch immer Menschen auf der Straße? Darüber habe ich mit Christine Heinrichs gesprochen. Sie leitet in Frankfurt am Main beim Verein für soziale Heimstätten den Bereich Hilfen für soziale Notlagen und ist seit 25 Jahren in der Obdachlosenhilfe tätig. Frau Heinrichs: Wann gilt ein Mensch als obdachlos?

Christine Heinrichs: Ich glaube, wir müssen von der Begrifflichkeit her zwei Dinge voneinander trennen, und zwar die Menschen, die aus ihren Wohnungen geräumt werden, weil es dort Schwierigkeiten gab wegen fehlender Mietzahlungen oder wegen Verhaltensauffälligkeiten innerhalb der Mietergemeinschaft, und den Menschen, die dann tatsächlich wohnungslos und obdachlos auf der Straße landen.

Die Menschen, die vorübergehend ohne Wohnung sind, werden in der Regel relativ schnell auch wieder untergebracht. Die Menschen, die wirklich dann auf der Straße landen, die dann ihr Leben auf der Straße fortsetzen, das ist eine ganz andere Gruppe. Also zum Vergleich: Wir haben in Frankfurt circa zweieinhalbtausend Personen, die wohnungslos sind, das heißt, die von einem Wohnraum in den nächsten Wohnraum wechseln, die aber in Zwischenunterkünften sind, die jetzt nicht auf der Straße, auf der Parkbank leben.

Die Menschen, die auf der Parkbank leben, die sind eine ganz andere Zahl. Da haben wir in Frankfurt circa 40, die wir zu den originär obdachlosen Personen zählen. Wir haben noch zugereiste Osteuropäer, die hier keine Hilfen in Anspruch nehmen dürfen. Aber der Originäre, sag’ ich mal, unsere Zielgruppe der Obdachlosen, das sind im Moment 40 Personen, die in Frankfurt auf der Straße leben.

von Billerbeck: Was können denn Sie und Ihre Kolleginnen tun, um zu verhindern, dass jemand obdachlos wird, also zeitweise oder dauerhaft?

Heinrichs: Die Probleme bahnen sich ja in der Regel in der Wohnung an. Und es gibt in Frankfurt jetzt eine zentrale Stelle, die sich darum bemüht, diesen Wohnraumverlust zu vermeiden. In der Regel ist es so, dass, wenn jemand von einer Räumungsklage bedroht ist, dann ist es ja beim Gericht anhängig.

Das Gericht informiert in der Regel auch die Sozialbehörden. Zumindest ist es in Frankfurt so geregelt. Und dort wird man dann tätig und geht auf die Personen zu. Bislang ist dieses Zugehen eben postalisch erfolgt, also man dann hin geschrieben und zweimal hin geschrieben und dreimal hin geschrieben – und wenn sich die Personen nicht gemeldet haben, ist der Fall dann irgendwann geräumt worden.

von Billerbeck: Das heißt, das Sozialamt könnte auch anders eingreifen, indem es einfach jemanden vorbeischickt?

Heinrichs: Das ist das, was jetzt gemacht wird, weil man eben festgestellt hat, dass genau diese Personen, die eine sehr umfangreiche Problemlage haben, also, die nicht einfach nur kein Geld haben, um ihre Miete zu bezahlen, sondern die durchaus vielfältige andere Probleme haben, dass man auf die eben persönlich zugehen muss.

Und dass da auch der Faktor Zeit, also wie lange habe ich eigentlich, um mit jemandem Kontakt herzustellen und zu erfahren, was ist denn eigentlich die Problemlage, was führt denn dazu, dass diese Person im Moment nicht reagieren kann, dass es da einen längeren Vorlauf braucht. Das ist jetzt in Frankfurt als Projekt umgesetzt worden, und wir haben ganz gute Erfolge.

von Billerbeck: Werden eigentlich mehr Männer als Frauen obdachlos?

Heinrichs: Also, es sind mehr Männer als Frauen auf der Straße. Die Obdachlosigkeit von Frauen oder die Wohnungslosigkeit von Frauen, die sieht sehr anders aus. Frauen haben immer noch die Gelegenheit, ich sage es mal in Anführungsstrichen, "Gelegenheit", sich über persönliche Bezüge zu versorgen. Also wir nennen das bei den Frauen eine latente Wohnungslosigkeit, weil sie dann mal bei diesem und bei jenem wohnen und da zu Diensten sind.

Sexuelle Dienstleistungen oder Dienstleistungen im Haushalt – das sind in der Regel immer Ausbeutungsverhältnisse. Es ist keine verbesserte Situation für die Frauen. Obdachlose in Frankfurt haben wir sehr wenige Frauen, die tatsächlich auf den Straßen unterwegs sind. Das sind dann Frauen, die sehr schwer psychisch krank sind und die auch auf der Straße versorgt werden müssen, weil sie andere Hilfen gar nicht in Anspruch nehmen können.

von Billerbeck: Thomas Specht von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, der hat in einem Artikel zwei Gründe für die Obdachlosigkeit genannt. Erstens Armut und zweitens der immer knapper werdende Wohnraum. Wenn ich Ihnen zuhöre, dann klingt das ein bisschen anders.

Heinrichs: Das ist auch anders, weil das zu kurz greift. Also die Zahl der Wohnungslosen, die wird tatsächlich höher. Die Zahl der Obdachlosen aus unserer Sicht stagniert eher, zumindest kann ich das für Frankfurt sagen, es ist eher rückläufig. Die Zahl der Wohnunglosen steigt an. Das nehmen wir hier in Frankfurt auch wahr, das heißt aber nicht, dass diese Menschen auf der Straße landen. Also keine Wohnung haben, heißt nicht, als Nächstes schlafe ich unter der Brücke, sondern ...

von Billerbeck: Wo landen sie denn?

Heinrichs: Also, es gibt ja Auffangsysteme. In Hessen ist es so, es ist ein Landesgesetz, das hessische Gesetz für Sicherheit und Ordnung. Danach dürfen Sie gar nicht obdachlos sein, weil Sie damit sozusagen eine Gefahr darstellen. Deshalb muss innerhalb von Hessen immer ein Wohnraum zur Verfügung gestellt werden durch die Stadt oder durch die Kommune.

Deshalb gibt es eine ganze Reihe von zwischengenutztem Wohnraum – da gibt es in Frankfurt eine zentrale Vergabe für diese Unterkünfte. Wenn jetzt zum Beispiel eine Familie aus einer Wohnung geräumt wird, weil es dort Mietrückstände gegeben hat, und diese Mietrückstände – der Vermieter nicht mehr gewonnen werden kann, auch wenn das Sozialamt diese Mietrückstände übernimmt, weil, das ist natürlich immer die erste Maßnahme, dann ist es so, dass diese Personen in einen zwischengenutzten Wohnraum umziehen.

Das heißt also, die werden dann nicht mit der Polizei aus der Wohnung gezerrt, sondern es findet ein Übergang statt in einen anderen Wohnraum. Diese Menschen schlafen dann mitnichten unter der Brücke, sondern sie sind in einer Auffangwohnung und werden dann wieder mit Wohnraum versorgt. Kritisch ist es bei den Fällen, die eine lange Geschichte von Mietrückständen bei allen Wohnungsbaugesellschaften nach sich ziehen und einen Schufa-Eintrag haben.

Dann wird es problematisch, aber diese Personen werden alle wieder mit Wohnraum versorgt. Also das Obdachloswerden, das eigentliche, das, was wir unter Obdachlosen verstehen, das ist eine völlig andere Problematik. Die hat auch mit Armut zu tun, aber eher mit der Armut oder der Unfähigkeit, Hilfen in Anspruch zu nehmen und sich helfen zu lassen.

von Billerbeck: Christine Heinrichs ist meine Gesprächspartnerin vom Verein für soziale Heimstätten in Frankfurt am Main, Obdachlosigkeit in Deutschland unser Thema. Die Bezahlung der Wohnungslosigkeit ist sieben mal teurer als die Prävention der Wohnungslosigkeit. So steht es in einer Studie des Deutschen Städtetages. Da fragt man sich: Warum bauen die Städte nicht einfach mehr günstige, bezahlbare Wohnungen?

Heinrichs: Ja, weil auch das nicht so einfach ist. Also wenn Sie heute Grundbesitz haben, dann muss es ja nicht heißen, dass Sie den billig hergeben, dass da ganz viel preiswerter Wohnraum entstehen kann. Das ist ja auch eine politische Frage. Also auch in Hessen weiß man, dass der bezahlbare Wohnraum umfangreicher werden muss. Wir nehmen in der Stadt wahr, dass mehr Menschen in die Stadt kommen, mehr Menschen in der Stadt leben wollen. Und das macht den Wohnraum teurer für alle, die in der Stadt leben ...

von Billerbeck: Vor allem aber für die, die ganz billigen Wohnraum suchen.

Heinrichs: Ja, für alle, die sehr bezahlbaren Wohnraum suchen. Tatsache ist aber, dass, wie gesagt, also die – wohnsitzlos wird deshalb erst mal noch niemand. Also wer eine Wohnung hat, der kann auch erst mal bleiben, weil die Kosten der Unterkunft werden ja bei den sogenannten Hartz-IV-, also bei den SGB-II-Empfängern durchaus von der Bundesagentur für Arbeit dann finanziert. Und wenn klar ist, dass kein bezahlbarer Wohnraum erreichbar ist und die Familie aber in einer Wohnung ist, dann werden diese Kosten auch übernommen.

von Billerbeck: Im Magazin "brand eins" las ich, dass im "Pik As", in Hamburgs ältester Notunterkunft ein Mann seit 38 Jahren lebt. Heißt das, es wird immer, selbst wenn es ausreichend bezahlbare Wohnungen gäbe, einen bestimmten Teil Menschen geben, die obdachlos sind, also nicht im Sinne von auf der Straße leben, aber wohnungslos?

Heinrichs: Ja, diese Menschen wird es immer geben. Wir haben eine vergleichbare Einrichtung, da ist es auch so, dass wir sozusagen die Heimat sind für Menschen, die ein besonderes Wohnumfeld brauchen. Denen wäre auch nicht geholfen mit einer Wohnung, also sozusagen, wenn wir jetzt für die 40 Obdachlosen in der Stadt Frankfurt, wenn wir da 40 schöne 1-Zimmer-Wohnungen hätten, dann ist das Problem gelöst. Das ist nicht der Fall. Es sind oft Menschen, die sich in geschlossenen Räumen nicht mehr selber aushalten können. Es sind oft Menschen, die Stimmen hören, wenn sie in einer verkehrsumtosten Umgebung aufhalten ...

von Billerbeck: Die also psychisch krank sind?

Heinrichs: Die psychisch krank sind. Dann hören sie ihre inneren Stimmen nicht. Also das würde ihnen nicht helfen, wenn sie dann alleine in einer schönen Ein-Zimmer-Wohnung sitzen. Das würde ihnen nicht helfen. Deshalb haben wir in unserer Einrichtung, in der auch Menschen da länger untergebracht sind, also insofern andere Regeln. Also die Anforderungen, die an die Menschen gestellt sind, sind deutlich niedriger als in einem Wohnumfeld.

von Billerbeck: Das heißt, was dürfen sie alles, was man in einer Wohnung nicht darf?

Heinrichs: Na ja, also wenn Sie sich mal vorstellen, jemand hat eine Schizophrenie und er hat die Vorstellung, dass sein Nachbar ihn bestrahlt und dass es hilft, wenn er seinen Staubsauger die Nacht über an lässt, weil der die Strahlen aufsaugt - dann können Sie sich vorstellen, dass in einem normalen Wohnumfeld diese Lärmbelastung in der ruhigen Nacht für die Nachbarn unerträglich sind. Das sind Menschen, die in einer Wohnung nicht mehr ausgehalten werden können und die auch schwer im Wohnraum dann zu halten sind.

Wir haben Menschen, die Müll sammeln, wo wir alle vier Wochen den Wohnbereich mit der Person oder gegen die Person dann räumen müssen. Wir räumen da schon mal 1,4 Tonnen aus einem 9-Quadratmeter-Bereich. Wir haben Menschen, die ihre Identität darüber erkennen, indem sie sich selber riechen können, das heißt, sie riechen sehr streng. Es gibt Menschen, die nachtaktiv sind. Alleine die Nachtaktivität ist für eine Nachbarschaft nicht zum Aushalten.

Es ist oft auch für die Person selber nicht auszuhalten, weil die Nachbarn sprechen sie dann an. Das ist für die Leute, die eben sehr mit sich selber beschäftigt sind, sowieso ganz schwierig. Also von daher wird es einen Teil der Menschen geben, die sich an diese Regeln in dieser Form nicht halten können. Und es sind niedrige soziale Regeln, die aber massive Auswirkungen haben. Also schlecht riechen, nachtaktiv zu sein und zu sammeln, das sind Dinge, die in einer normalen Wohnumgebung schwer aushaltbar sind.

von Billerbeck: Das sagt Christine Heinrichs. In Frankfurt am Main leitet sie den Bereich Hilfen in sozialen Notlagen beim dortigen Verein für Soziale Heimstätten. Herzlichen Dank für das Gespräch!

Heinrichs: Vielen Dank!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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