Es singt und seufzt und träumt die Stadt
Einst haben sie uns ihre Städte erzählt. Die sie liebten und sich ergingen in ihnen -bedächtig gelassenen Schrittes. Nicht als akribische Chronisten berichteten sie, sondern als wandelnde Poeten, als spazierende Philosophen. Flaneure nannte man sie, die so gemächlich wie klug durch Straßen und Passagen oder über Boulevards schlenderten, wenn sich denn das französische "flanieren" mit dem Wort "schlendern" übersetzen lassen mag. Denn Schlendern ist eher ein fauler Gang. Das Flanieren dagegen ein so bedachtsames wie waches Gehen - und auch Verweilen. Ein Müßiggang und auch doch wieder nicht. Der Flaneur ist nicht wirklich untätig, während er geht. Und auch nicht träge. Aber Muße braucht er in der Tat. Ein Flaneur ohne Zeit ist wie Musik ohne Ton.
Mitte des 19. Jahrhunderts galt es als elegant, beim Promenieren eine Schildkröte mit sich zu führen. So konnte keine Hast aufkommen. Kein zu schneller Schritt die Kunst zerstören, zu der der Flaneur das Spazierengehen machte.
Der Flaneur schaut nicht dem Volk aufs Maul, sondern der Stadt ins Gesicht. Und liest darin. Vergangenheit und Gegenwart, Steingeschichte und Menschendasein, Ethik und Verfall. Die Stadt ist die Muse, die den Flaneur, wenn er Glück hat, küsst. Und wird doch selber erst lebendig in seinem Blick. Die Stadt braucht den Stadtgänger, der so sacht und nachdenklich in ihr streift. Sie kann messen an ihm, ein wie bewohnbarer Ort sie auch für kühnere Geister ist. Denn nicht in jeder Stadt lässt es sich flanieren. Die Architektur der Straßen muss einladen dazu; und es kann kaum verwundern, dass in verwinkelten Gässchen keine Flaneure sich finden. Es stockt der Schritt, es kann der Blick nicht schweifen, da können Gang und Gedanken das nötige rhythmische Gleichmaß nicht finden.
Geboren wurde der Flaneur im 19. Jahrhundert in Paris. Sein berühmtester Vater war der Dichter Baudelaire. Der Flaneur, so schrieb er, genieße es, "in der Masse zu hausen, im Wogenden, in der Bewegung, im Flüchtigen und Unendlichen."
Mal ist Eros sein Wegbegleiter (Frauen besieht er mit großem Vergnügen), dann wieder ist es die Ironie. Und hin und wieder gesellt sich die Melancholie ihm zu, weil er der Flüchtigkeit des Gehens, Sehens und Seins eingedenk ist.
Heute sieht man ihn selten. Kennt ihn kaum noch. Selbst der Spaziergänger verkommt oft zum banalen Straßenbegeher. Die meisten Gänger durchhasten die Stadt ohne Blick, ohne Ohr für sie und sich in ihr. Sie sprechen nicht zu der Stadt. Und so bleibt auch sie stumm, kein zärtliches Lispeln nirgends. Sie benimmt sich wie eine bockige Schöne: Wer sie nicht anschaut, wird von ihr nicht gesehen. Und so ersterben sie beide. Der Flaneur und die Stadt.
Kann der moderne Mensch überhaupt noch flanieren oder haben Hast und Unrast der Moderne den Flaneur zum Relikt einer vergangenen Zeit werden lassen? Haben Einkaufsstraßen und Fußgängerzonen und Schnellimbissbuden den Flaneur vertrieben? Was ist das für eine Gesellschaft, in der nicht mehr flaniert wird? Was braucht man in einer Stadt, um in ihr flanieren zu können? Was braucht man in sich, um flanieren zu wollen? Ist der Flaneur immer ein Einzelgänger - kann man überhaupt zu zweit flanieren? Über diese und andere Fragen wollen wir reden in der Langen Nacht der Flaneure mit Wilhelm Genazino, dem flanierenden Dichter; der Schriftstellerin Elke Schmitter, die die Kunst des Flanierens für Frauen entdeckt (erst die emanzipierte Frau durfte allein auf die Straße), und Achatz von Müller, dem Architekturhistoriker, der uns erzählen wird, ob Städte verkümmern ohne Flaneure und Flaneure vertrieben werden aus modernen Städten.
Wilhelm Genazino
Kurzbiographien über Wilhelm Genazino:
Perlentaucher
Hanser Verlag: Kennen Sie schon unsere deutschsprachigen Autoren?
Text + Kritik
Zeitschrift für Literatur, Herausgeber: Arnold, Heinz L..
H.162 Wilhelm Genazino
2004 Edition Text und Kritik
ISBN 3-88377-755-2
Wilhelm Genazino
Die Belebung der toten Winkel.
Frankfurter Poetik-Vorlesungen.
2006 Hanser
"Genazinos Romane suchen in Frankfurter Seitenstraßen das Poetische auf. Dort, wo normalerweise jeder hinwegsieht, entdecken sie kleine Kostbarkeiten, Kunstwerke des Verborgenen", so Helmut Böttiger über den Büchner-Preisträger 2004. Seine Erfahrungen bei dieser Suche nach dem Poetischen teilt Genazino in den berühmten Frankfurter Poetikvorlesungen mit dem Zuhörer - die Erzählung über das Schreiben selbst wird hier zu einem Abenteuer für die Leser.
Anja Hirsch
Schwebeglück der Literatur
Der Erzähler Wilhelm Genazino
2006 Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren
ISBN 3-935025-88-2
Wilhelm Genazino
Leise singende Frauen
Wo können wir verweilen? Was können wir uns anschauen? Wessen können wir uns erfreuen? Ein Mann durchstreift seine Stadt. Der Anlass, die Suche nach einem verlorenen Kreisel, bleibt nicht mehr als ein Vorwand, der es der Hauptfigur wie dem Erzähler ermöglicht, seine Blicke über die Stadt und ihre Menschen schweifen zu lassen und zu beobachten. Was er beobachtet sind die kleinen Alltäglichkeiten des Lebens, Dinge, die in der Hast des Alltags dem Blick nur allzu leicht entgehen, kleine Details, die seine Augen einfangen und aus denen sich ihm Gefühle, Stimmungen, ganze Geschichten erschließen.
Wilhelm Genazino
Ein Regenschirm für diesen Tag.
Roman. dtv Taschenbücher Nr.13072. 2003. 173 S. 19,5 cm. Kartoniert. 189gr.
ISBN: 3-423-13072-5, KNO-NR: 11 19 69 65
2003 -DTV-
Es gibt sie noch: Flaneure und Lustwandler, die sich Zeit nehmen, die Welt ganz genau zu betrachten. In seinem Roman beschreibt Genazino ein junges, modernes Exemplar dieser Spezies, auf leichte, witzig-ironische Weise. Geld verdienen kann man mit den unterschiedlichsten Tätigkeiten. Zum Beispiel, indem einer seinem Bedürfnis nach distanzierter Betrachtung der Welt folgt, als Probeläufer für Luxushalbschuhe. Er durchstreift die Stadt mit englischem Schuhwerk, trifft dabei zwangsläufig auf eine seiner offenbar zahlreichen früheren Freundinnen, verfasst Gutachten, für die er 200 Mark bekommt. Doch das Arrangement bröckelt. Seine letzte Freundin, Lisa, verlässt ihn, weil sie seine Weigerung, an der Welt mehr als nur flaneurhaften Anteil zu nehmen, nicht mehr erträgt. Und als das englische Schuhhonorar auf 50 Mark herabgesetzt wird, ist Not am Mann.
Wilhelm Genazino
Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman.
2003. -HANSER-
Mit einem ironischen Blick auf die sechziger Jahre beschreibt Genazino den Weg eines jungen Mannes: Ein Träumer, der immer an dasselbe denkt: ans Lesen und Schreiben. Und daran, endlich erwachsen zu werden und die drei Dinge zu haben, die es dazu braucht: eine Frau, eine Wohnung und einen eigenen, selbst geschriebenen Roman. Vorerst führt er jedoch ein Doppelleben zwischen Lokalblatt und Lieferscheinen...
Ein junger Mensch von siebzehn Jahren fliegt vom Gymnasium, das kommt vor. Soll er sich damit trösten, dass auch so mancher große Geist ein schlechter Schüler war, bevor dann doch etwas aus ihm wurde? Die Mutter sieht es praktischer und macht sich mit ihrem Sohn zunächst auf die Suche nach einer Lehrstelle: Gartenbau, Süßwaren, eine Reifenfabrik, eine Brauerei, alles kommt in Frage. Der Sohn aber interessiert sich weder für Schokolade noch für Bier, sondern nur für eines: für Bücher. Ein Träumer, wie er im Buche steht, denkt er immer an dasselbe: ans Lesen und Schreiben. Und daran, endlich erwachsen zu werden und die drei Dinge zu haben, die es dazu braucht: eine Frau, eine Wohnung und einen eigenen, selbst geschriebenen Roman. Dann aber, im gleichen Augenblick, da die Mutter ihn als kaufmännischen Lehrling in einer Spedition unterbringt, druckt der örtliche Lokalanzeiger zum ersten Mal einen seiner Texte. Ein wunderbares Doppelleben beginnt: Tagsüber schreibt der Lehrling Lieferscheine, abends kleine Artikel für den Lokalanzeiger. Und mit der Kollegin Linda scheint der junge Mann auch der anderen Seite seines Traumes näher zu kommen. Wilhelm Genazino hat einen klassischen Entwicklungsroman geschrieben - aber in seiner ganz eigenen, unverwechselbaren Art: leicht, komisch und von großem Einfallsreichtum und sprachlicher Originalität.
Wilhelm Genazino
Abschaffel. Die Vernichtung der Sorgen. Falsche Jahre.
dtv Taschenbücher Bd.13028.
2002 -DTV-
Komisches Meisterwerk um einen kläglichen Helden und Angestellten und seinen Zwang, Mücken in Elefanten zu verwandeln. Abschaffel, Flaneur und "Workaholic des Nichtstuns" streift durch eine Metropole der verwalteten Welt. Mit innerer Phantasietätigkeit kompensiert er die äußere Ereignisöde seines Angestellten-Daseins. Das Aufbegehren der 68er ist vorbei, geblieben ist nur mehr private Trauer: Abschaffel schlägt alle Zerstreuungsangebote der Freizeitindustrie aus. Ein ganzer Katalog häuslicher Empfindlichkeiten tritt an die Stelle des nicht stattfindenden Lebens, dessen Mikro-Abenteuer aus Angst vor Missdeutung vor anderen Personen geheimgehalten werden müssen. Im Verlauf der Trilogie unternimmt Abschaffel mehrere kläglich-komische Anläufe zum Ausbruch: Zum Beispiel versucht er sich selbst in der Rolle des Nutznießers von Ausbeutung: als Zuhälter nämlich. Zu guter Letzt jedoch zwingt ihn eine psychosomatische Krankheit zu einem mehrwöchigen Kuraufenthalt. Hier endlich eröffnet sich Abschaffel die Möglichkeit, das eigene innere Tricktheater zu reflektieren: In der letzten Szene des Romans sehen wir einen Abschaffel, der - immerhin - aus dem Fenster blickt.
Elke Schmitter
Veras Tochter
Roman
2006 Berlin Verlag
ISBN 3-8270-0642-2
Mit dieser kraftvollen hintergründigen Geschichte einer modernen jungen Frau knüpft Elke Schmitter an ihren Debütroman Frau Sartoris an, eines der erfolgreichsten Bücher der deutschen Gegenwartsliteratur - über 100 000 verkaufte Exemplare, in mehr als zwanzig Ländern übersetzt. Was, wenn die erste große Liebe schon die letzte war? Was, wenn der dunkle charismatische Geliebte plötzlich von der Bildfläche verschwindet und eine große Leere zurücklässt, eine Leere, die nun mit immerintensiveren, immer eindringlicheren Erinnerungsbildern gefüllt wird und das übrige Leben wie einen Nachklapp erscheinen lässt?
Aus dem provinziellen Alltag einer westdeutschen Kleinstadt, einer gewöhnlichen Kindheit, einer noch gewöhnlicheren Jugend verschlägt es Elke Schmitters neueste Protagonistin in die WG-Provinz des alten Westberlin, von dort zieht sie - es hält sie ja schließlich nichts - nach Köln, arbeitet bei einer Musikagentur, versucht sich als literarische Übersetzerin, sieht ohne größere Widerstände die nächste Beziehung schwinden ...
Was, wenn das größte Rätsel eines bislang nur wenig gelebten Lebens plötzlich in einem Roman gelöst zu werden scheint? Was, wenn man ein Buch aufschlägt und dort sich selbst entdeckt, die eigene Mutter - und vor allem den verschwundenen Geliebten, der anscheinend unter die Räder geraten ist, ganz wörtlich genommen. Was, wenn Leben und Literatur zusammenfallen, die Literatur dem Leben die Fakten liefert? Was, wenn ...
Elke Schmitter
Frau Sartoris
Roman.
2002. -BVT BERLINER TASCHENBUCH VERLAG-
Eine Liebesgeschichte aus der Provinz.
"Ich musste auf ihn warten wie ein Tier auf Nahrung." Frau Sartoris ist eine einfache Frau. Sie lebt in einer kleinen Stadt, respektiert ihren Ehemann, liebt ihre Schwiegermutter und hat eine Tochter. Auch wenn sie sich hochfliegende Erwartungen verbietet, ist ihr Verlangen nach Glück nicht erstickt. Als Frau Sartoris sich in einen anderen Mann verliebt, wird der träge Lebensfluss unterbrochen. Eine Amour fou beendet das provinzielle Einerlei. Und die Passion ist schon bald mehr als nur eine Flucht, sie soll der endgültige Aufbruch zu einem neuen Leben sein. Der Plan ist gefasst, alle Vorbereitungen getroffen, und am Ende wird Frau Sartoris keine einfache Frau mehr sein.
Elke Schmitter
Leichte Verfehlungen.
Roman.
2002. -BERLIN VERLAG-
Mit ihrem Roman "Frau Sartorius" hat Elke Schmitter im letzten Jahr großes Lob von der Kritik geerntet. Sprachliche Präzision, stilistische Eleganz und ein untrüglicher Sinn für das gesellschaftlich entlarvende Detail zeichnen auch ihren zweiten Roman aus. Ein witziges, intelligentes Buch über eine Gruppe von Frauen in ihren so genannten besten Jahren - eben jenen Jahren, die oftmals auch die verworrensten sind. Selma Craiss erwacht eines Morgens - und ist verliebt, und zwar nicht in ihren langjährigen Lebensgefährten Wolfgang. Als versierte Theoretikerin macht sie sich gleich daran, den Keimling dieser ungewohnten Empfindung unter einer dicken Deutungsdecke zu ersticken - und doch ergibt sie sich diesem lebendigen Gefühl, das wie ein Realitätsblitz in ihrer, der Vorstellungskraft geschuldeten Welt einschlägt. Und scheitert, natürlich. Der legendäre englische Gesellschaftsroman in all seinen Facetten stand wohl Pate für diese mit scharfem Blick und spitzer Feder geschriebene Großstadtromanze - die, so könnte man sagen, auf einem Wahrnehmungsfehler basiert und deshalb ihr tragikomisches Ende findet, bevor sie überhaupt begonnen hat. Freundlich spottend, aber niemals denunziatorisch, wird in Leichte Verfehlungen von der freischaffenden Journalistin Selma Craiss erzählt, einer gebildeten Frau von über vierzig, mit eleganter, gleichwohl dezenter Garderobe sowie einem ausgeprägten Faible für Rorty und Derrida. Begleitet wird Selma durch diese romantische Eskapade von einer Hand voll Freundinnen, alle auf ihre Weise traumatisierte Lebenskünstlerinnen.
Links zu Gesprächen und Artikeln von Achatz von Müller:
Achatz von Müller, Prodekan an der Universität Basel, Historisch-Philosophische Fakultät Ein Gespräch über Endzeitphänomene mit Achatz von Müller, Ordinarius für mittelalterliche Geschichte
Deutsches Seminar der Universität Basel
Alles Preußen - Was die Kopernikus-Gruppe mit Polen vorhat
Matthias Keidel
Die Wiederkehr der Flaneure
Literarische Flanerie und flanierendes Denken zwischen Wahrnehmung und Reflexion
2006 Königshausen & Neumann
Flanieren Sie! Sie sollen flanieren! So ruft es die Polizei per Megaphon in einer Karikatur den verdutzten Passanten zu, die in der Alltagshetze gar nicht wissen, wie ihnen geschieht. Als Sozialfigur hat es den Flaneur in Deutschland nie wirklich gegeben, im Unterschied zum Beispiel zu Paris, wo ihm anno 1830 die Geburtsstunde schlägt. Doch zumindest die Literaten flanieren in Deutschland wieder und lassen sich ihre Texte und Gedankengänge davon inspirieren. Bis 1933 ist dieses Phänomen bereits detailliert untersucht. In Die Wiederkehr der Flaneure zeigt der Autor anhand eingehender Textanalysen wie seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein das Flanieren als literarische Tätigkeit neu entdeckt wird. Dabei können sich mehrere Flanerien durchaus zu ganzen Romanen verknüpfen, was bei Richard Wagner, Bodo Morshäuser, Jochen Schimmang und Cees Nooteboom der Fall ist. Doch auch der scharfe, den Zeitgeist durchdringende Blick ist Sache des Flaneurs, so bei Botho Strauß, Peter Handke und Rolf Dieter Brinkmann. Dabei wird der Flaneur als literarische Funktionsform begriffen, deren emotionales Spektrum die oft beschriebene schwärmerische Melancholie bei weitem übersteigt.
...Die Flaneure des vorvergangenen Jahrhunderts stellten den räumlich-zeitlichen Hintersinn ihrer Tätigkeit sogar bewusst aus, als sie auf den Boulevards Schildkröten spazieren führten. Der eilfertige Rückschluss, alle Menschen, die müßig umherschlendern, seien deshalb Flaneure, widerspräche dagegen unseren Vorstellungen von der Flanerie. In der Uckermark gibt es keine Flaneure, obwohl man dort gewiss müßig umherschlendern kann. Dagegen in Paris und in Berlin mag man sie vielleicht finden. Denn Flaneure gehören in Orte metropolitaner Urbanität und Weltläufigkeit.....
aus: Magnus Schlette, Schwellenwesen SPAZIEREN GEHEN
Zymunt Bauman
Flaneure, Spieler und Touristen.
Essays zu postmodernen Lebensformen.
1997 -HAMBURGER EDITION-
Fluch und Chance der moralischen Person
Und es ist selbst eine moralische Frage, welches der beiden Gesichter sich als ihr bleibendes Ebenbild herausstellen wird. In den sechs Essays beleuchtet Bauman das fragmentarische Leben des postmodernen Menschen unter so verschiedenen Aspekten wie den Formen des Zusammenseins, dem Bild des Fremden, der Rolle der Gewalt und postmoderner Ängste. Der Garten Eden war der Ort ohne Moral, und bevor Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis aßen, waren sie keine moralischen Wesen. Dass Menschen "wesentlich moralische Wesen" sind, heißt nicht, dass sie gut sind, sondern dass sie vor der Wahl zwischen Gut und Böse stehen. Eine solche Situation ist immer ambivalent, jede Entscheidung birgt unabänderlich die Gefahr des Scheiterns.
In der Geschichte der Menschheit lassen sich bislang drei deutlich unterschiedene Strategien erkennen, mit dieser Ambivalenz fertig zu werden: Erstens die vormoderne Epoche der religiösen Systeme, die den Menschen Erleichterung durch Reue und Erlösung versprachen. Zweitens die Moderne, die eine von der Möglichkeit der falschen Entscheidung befreite Welt forderte, indem sie die Verantwortung durch Regeln, durch eine endliche Liste von Pflichten, kurz: durch eine ethische Gesetzgebung ersetzte. Drittens die Postmoderne, in der das ethische Monopol des Staates gebrochen ist und die Menschen vor der Wahl zwischen den verschiedenartigsten Angeboten auf dem Markt stehen.
Mithin zeigt die Postmoderne ein doppeltes Gesicht: Sie ist zugleich Fluch und Chance der moralischen Person. Die Verantwortung des Handelnden ist grundlegender und folgenreicher als jemals zuvor. Jetzt, da die Idee eines einzigen, einheitlichen Regelsystems aufgegeben wurde, ist die Verantwortung für die Wahl dem einzelnen überlassen. Wir haben deshalb ein schärferes Bewusstsein vom Charakter unserer Entscheidungen. Eine Untersuchung der postmodernen Moral(en) muss deshalb auch immer eine Untersuchung des postmodernen Lebens und der postmodernen Lebensstrategien sein. Um diese Situation der moralischen Ambivalenz im Zeitalter des Abschieds von den Prinzipien kreisen Baumans Essays. Welche Aspekte der Lebensbedingungen machen es unmöglich oder überflüssig, die Politik der Prinzipien zu verfolgen, welche die Moderne kennzeichnete? Nach Baumans Diagnose liegen die Wurzeln der postmodernen Moralprobleme in der Zerrissenheit des Menschen.
Taschenkalender für Flaneure in Berlin und anderswo:
Wochenkalendarium.
Mit Beitr. v. Franz J. Behnisch, August Endell, Arthur Eloesser u. a. Kalender.
Arsenal Verlag
Franz Hessel
Ein Flaneur in Berlin.
Mit Walter Benjamin's Skizze 'Die Wiederkehr des Flaneurs'.
Neuausg. 1984. -ARSENAL-
Franz Hessel
Mit Franz Hessel durch Berlin, 1929
1 Audio-CD.
Lesung mit Musik. ca. 62 Min.
Gelesen v. Gerd Grasse.
Hörreisen.
2000. -DER AUDIO VERLAG, DAV-
Berlin Flaneure
Stadt Lektüren in Roman und Feuilleton 1910-1930
Beiträge von Sprengel, Peter.
Herausgegeben von Peter Sprengel
Weidler Buchverlag Berlin
Rudolf Bind
Flaneure, Schmugglerinnen, Partisanen
Prosamen und Bagatellen
Zeichn. von Hofrichter, Gudrun
Verlag d. Kooperative Dürnau
Heidi Wiese
Rendezvous mit den Toten
Spaziergänge über Pariser Friedhöfe
1995 NEUES LITERATURKONTOR-
Wer Paris liebt, wer dem Charme dieser Stadt ein für allemal verfallen ist, den verbindet einiges mit den unterschiedlichsten Prominenten, die von überall her nach Paris gekommen sind, hier gelebt und geliebt haben und auf einem seiner malerisch-morbiden Friedhöfe begraben sind: Père Lachaise, Montmartre, Montparnasse, Saint Ouen, Passy... Heidi Wiese, Kulturredakteurin und nach eigenem Bekenntnis parissüchtig, schildert das Sterben und Leben der Kameliendame Alphonsine Plessis, des Begründers der Bohème, Henri Murger, des Saxophon-Erfinders Adolphe Sax, der heimatlosen Poeten Ludwig Börne und Heinrich Heine, des heiligen Trinkers Joseph Roth, der Mutter der Lost Generation, Gertrude Stein, des Tänzer-Gottes Waclaw Nijinsky, des Rock-Idols Jim Morrison und vieler anderer Paris-Flaneure. < (DIE dabeihaben? immer Büchlein das sollte Parisbesucher
Günter des Bruyn
Unter den Linden
2004 btb
Keine der Straßen Berlins verbindet man bis heute so sehr mit der Geschichte Preußens und seiner Hauptstadt wie Unter den Linden. Der "unheilbare Flaneur" (NZZ) Günter de Bruyn führt uns auf die ihm eigene, unnachahmliche Weise durch die bewegte Vergangenheit des Boulevards und seiner Bewohner. Der literarische Spaziergang führt vom Lustgarten über das Forum Fridericianum bis zum Hotel Adlon und zum Pariser Platz. Durch Geschichten, die sich mit Bauten und Bäumen verbinden, macht de Bruyn einige Jahrhunderte preußisch-deutscher Geschichte lebendig. "Eine herrliche Handreichung für alle, die nicht blind über die Linden tapern." Haug von Kuenheim, Die Zeit
Der Flaneur schaut nicht dem Volk aufs Maul, sondern der Stadt ins Gesicht. Und liest darin. Vergangenheit und Gegenwart, Steingeschichte und Menschendasein, Ethik und Verfall. Die Stadt ist die Muse, die den Flaneur, wenn er Glück hat, küsst. Und wird doch selber erst lebendig in seinem Blick. Die Stadt braucht den Stadtgänger, der so sacht und nachdenklich in ihr streift. Sie kann messen an ihm, ein wie bewohnbarer Ort sie auch für kühnere Geister ist. Denn nicht in jeder Stadt lässt es sich flanieren. Die Architektur der Straßen muss einladen dazu; und es kann kaum verwundern, dass in verwinkelten Gässchen keine Flaneure sich finden. Es stockt der Schritt, es kann der Blick nicht schweifen, da können Gang und Gedanken das nötige rhythmische Gleichmaß nicht finden.
Geboren wurde der Flaneur im 19. Jahrhundert in Paris. Sein berühmtester Vater war der Dichter Baudelaire. Der Flaneur, so schrieb er, genieße es, "in der Masse zu hausen, im Wogenden, in der Bewegung, im Flüchtigen und Unendlichen."
Mal ist Eros sein Wegbegleiter (Frauen besieht er mit großem Vergnügen), dann wieder ist es die Ironie. Und hin und wieder gesellt sich die Melancholie ihm zu, weil er der Flüchtigkeit des Gehens, Sehens und Seins eingedenk ist.
Heute sieht man ihn selten. Kennt ihn kaum noch. Selbst der Spaziergänger verkommt oft zum banalen Straßenbegeher. Die meisten Gänger durchhasten die Stadt ohne Blick, ohne Ohr für sie und sich in ihr. Sie sprechen nicht zu der Stadt. Und so bleibt auch sie stumm, kein zärtliches Lispeln nirgends. Sie benimmt sich wie eine bockige Schöne: Wer sie nicht anschaut, wird von ihr nicht gesehen. Und so ersterben sie beide. Der Flaneur und die Stadt.
Kann der moderne Mensch überhaupt noch flanieren oder haben Hast und Unrast der Moderne den Flaneur zum Relikt einer vergangenen Zeit werden lassen? Haben Einkaufsstraßen und Fußgängerzonen und Schnellimbissbuden den Flaneur vertrieben? Was ist das für eine Gesellschaft, in der nicht mehr flaniert wird? Was braucht man in einer Stadt, um in ihr flanieren zu können? Was braucht man in sich, um flanieren zu wollen? Ist der Flaneur immer ein Einzelgänger - kann man überhaupt zu zweit flanieren? Über diese und andere Fragen wollen wir reden in der Langen Nacht der Flaneure mit Wilhelm Genazino, dem flanierenden Dichter; der Schriftstellerin Elke Schmitter, die die Kunst des Flanierens für Frauen entdeckt (erst die emanzipierte Frau durfte allein auf die Straße), und Achatz von Müller, dem Architekturhistoriker, der uns erzählen wird, ob Städte verkümmern ohne Flaneure und Flaneure vertrieben werden aus modernen Städten.
Wilhelm Genazino
Kurzbiographien über Wilhelm Genazino:
Perlentaucher
Hanser Verlag: Kennen Sie schon unsere deutschsprachigen Autoren?
Text + Kritik
Zeitschrift für Literatur, Herausgeber: Arnold, Heinz L..
H.162 Wilhelm Genazino
2004 Edition Text und Kritik
ISBN 3-88377-755-2
Wilhelm Genazino
Die Belebung der toten Winkel.
Frankfurter Poetik-Vorlesungen.
2006 Hanser
"Genazinos Romane suchen in Frankfurter Seitenstraßen das Poetische auf. Dort, wo normalerweise jeder hinwegsieht, entdecken sie kleine Kostbarkeiten, Kunstwerke des Verborgenen", so Helmut Böttiger über den Büchner-Preisträger 2004. Seine Erfahrungen bei dieser Suche nach dem Poetischen teilt Genazino in den berühmten Frankfurter Poetikvorlesungen mit dem Zuhörer - die Erzählung über das Schreiben selbst wird hier zu einem Abenteuer für die Leser.
Anja Hirsch
Schwebeglück der Literatur
Der Erzähler Wilhelm Genazino
2006 Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren
ISBN 3-935025-88-2
Wilhelm Genazino
Leise singende Frauen
Wo können wir verweilen? Was können wir uns anschauen? Wessen können wir uns erfreuen? Ein Mann durchstreift seine Stadt. Der Anlass, die Suche nach einem verlorenen Kreisel, bleibt nicht mehr als ein Vorwand, der es der Hauptfigur wie dem Erzähler ermöglicht, seine Blicke über die Stadt und ihre Menschen schweifen zu lassen und zu beobachten. Was er beobachtet sind die kleinen Alltäglichkeiten des Lebens, Dinge, die in der Hast des Alltags dem Blick nur allzu leicht entgehen, kleine Details, die seine Augen einfangen und aus denen sich ihm Gefühle, Stimmungen, ganze Geschichten erschließen.
Wilhelm Genazino
Ein Regenschirm für diesen Tag.
Roman. dtv Taschenbücher Nr.13072. 2003. 173 S. 19,5 cm. Kartoniert. 189gr.
ISBN: 3-423-13072-5, KNO-NR: 11 19 69 65
2003 -DTV-
Es gibt sie noch: Flaneure und Lustwandler, die sich Zeit nehmen, die Welt ganz genau zu betrachten. In seinem Roman beschreibt Genazino ein junges, modernes Exemplar dieser Spezies, auf leichte, witzig-ironische Weise. Geld verdienen kann man mit den unterschiedlichsten Tätigkeiten. Zum Beispiel, indem einer seinem Bedürfnis nach distanzierter Betrachtung der Welt folgt, als Probeläufer für Luxushalbschuhe. Er durchstreift die Stadt mit englischem Schuhwerk, trifft dabei zwangsläufig auf eine seiner offenbar zahlreichen früheren Freundinnen, verfasst Gutachten, für die er 200 Mark bekommt. Doch das Arrangement bröckelt. Seine letzte Freundin, Lisa, verlässt ihn, weil sie seine Weigerung, an der Welt mehr als nur flaneurhaften Anteil zu nehmen, nicht mehr erträgt. Und als das englische Schuhhonorar auf 50 Mark herabgesetzt wird, ist Not am Mann.
Wilhelm Genazino
Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman.
2003. -HANSER-
Mit einem ironischen Blick auf die sechziger Jahre beschreibt Genazino den Weg eines jungen Mannes: Ein Träumer, der immer an dasselbe denkt: ans Lesen und Schreiben. Und daran, endlich erwachsen zu werden und die drei Dinge zu haben, die es dazu braucht: eine Frau, eine Wohnung und einen eigenen, selbst geschriebenen Roman. Vorerst führt er jedoch ein Doppelleben zwischen Lokalblatt und Lieferscheinen...
Ein junger Mensch von siebzehn Jahren fliegt vom Gymnasium, das kommt vor. Soll er sich damit trösten, dass auch so mancher große Geist ein schlechter Schüler war, bevor dann doch etwas aus ihm wurde? Die Mutter sieht es praktischer und macht sich mit ihrem Sohn zunächst auf die Suche nach einer Lehrstelle: Gartenbau, Süßwaren, eine Reifenfabrik, eine Brauerei, alles kommt in Frage. Der Sohn aber interessiert sich weder für Schokolade noch für Bier, sondern nur für eines: für Bücher. Ein Träumer, wie er im Buche steht, denkt er immer an dasselbe: ans Lesen und Schreiben. Und daran, endlich erwachsen zu werden und die drei Dinge zu haben, die es dazu braucht: eine Frau, eine Wohnung und einen eigenen, selbst geschriebenen Roman. Dann aber, im gleichen Augenblick, da die Mutter ihn als kaufmännischen Lehrling in einer Spedition unterbringt, druckt der örtliche Lokalanzeiger zum ersten Mal einen seiner Texte. Ein wunderbares Doppelleben beginnt: Tagsüber schreibt der Lehrling Lieferscheine, abends kleine Artikel für den Lokalanzeiger. Und mit der Kollegin Linda scheint der junge Mann auch der anderen Seite seines Traumes näher zu kommen. Wilhelm Genazino hat einen klassischen Entwicklungsroman geschrieben - aber in seiner ganz eigenen, unverwechselbaren Art: leicht, komisch und von großem Einfallsreichtum und sprachlicher Originalität.
Wilhelm Genazino
Abschaffel. Die Vernichtung der Sorgen. Falsche Jahre.
dtv Taschenbücher Bd.13028.
2002 -DTV-
Komisches Meisterwerk um einen kläglichen Helden und Angestellten und seinen Zwang, Mücken in Elefanten zu verwandeln. Abschaffel, Flaneur und "Workaholic des Nichtstuns" streift durch eine Metropole der verwalteten Welt. Mit innerer Phantasietätigkeit kompensiert er die äußere Ereignisöde seines Angestellten-Daseins. Das Aufbegehren der 68er ist vorbei, geblieben ist nur mehr private Trauer: Abschaffel schlägt alle Zerstreuungsangebote der Freizeitindustrie aus. Ein ganzer Katalog häuslicher Empfindlichkeiten tritt an die Stelle des nicht stattfindenden Lebens, dessen Mikro-Abenteuer aus Angst vor Missdeutung vor anderen Personen geheimgehalten werden müssen. Im Verlauf der Trilogie unternimmt Abschaffel mehrere kläglich-komische Anläufe zum Ausbruch: Zum Beispiel versucht er sich selbst in der Rolle des Nutznießers von Ausbeutung: als Zuhälter nämlich. Zu guter Letzt jedoch zwingt ihn eine psychosomatische Krankheit zu einem mehrwöchigen Kuraufenthalt. Hier endlich eröffnet sich Abschaffel die Möglichkeit, das eigene innere Tricktheater zu reflektieren: In der letzten Szene des Romans sehen wir einen Abschaffel, der - immerhin - aus dem Fenster blickt.
Elke Schmitter
Veras Tochter
Roman
2006 Berlin Verlag
ISBN 3-8270-0642-2
Mit dieser kraftvollen hintergründigen Geschichte einer modernen jungen Frau knüpft Elke Schmitter an ihren Debütroman Frau Sartoris an, eines der erfolgreichsten Bücher der deutschen Gegenwartsliteratur - über 100 000 verkaufte Exemplare, in mehr als zwanzig Ländern übersetzt. Was, wenn die erste große Liebe schon die letzte war? Was, wenn der dunkle charismatische Geliebte plötzlich von der Bildfläche verschwindet und eine große Leere zurücklässt, eine Leere, die nun mit immerintensiveren, immer eindringlicheren Erinnerungsbildern gefüllt wird und das übrige Leben wie einen Nachklapp erscheinen lässt?
Aus dem provinziellen Alltag einer westdeutschen Kleinstadt, einer gewöhnlichen Kindheit, einer noch gewöhnlicheren Jugend verschlägt es Elke Schmitters neueste Protagonistin in die WG-Provinz des alten Westberlin, von dort zieht sie - es hält sie ja schließlich nichts - nach Köln, arbeitet bei einer Musikagentur, versucht sich als literarische Übersetzerin, sieht ohne größere Widerstände die nächste Beziehung schwinden ...
Was, wenn das größte Rätsel eines bislang nur wenig gelebten Lebens plötzlich in einem Roman gelöst zu werden scheint? Was, wenn man ein Buch aufschlägt und dort sich selbst entdeckt, die eigene Mutter - und vor allem den verschwundenen Geliebten, der anscheinend unter die Räder geraten ist, ganz wörtlich genommen. Was, wenn Leben und Literatur zusammenfallen, die Literatur dem Leben die Fakten liefert? Was, wenn ...
Elke Schmitter
Frau Sartoris
Roman.
2002. -BVT BERLINER TASCHENBUCH VERLAG-
Eine Liebesgeschichte aus der Provinz.
"Ich musste auf ihn warten wie ein Tier auf Nahrung." Frau Sartoris ist eine einfache Frau. Sie lebt in einer kleinen Stadt, respektiert ihren Ehemann, liebt ihre Schwiegermutter und hat eine Tochter. Auch wenn sie sich hochfliegende Erwartungen verbietet, ist ihr Verlangen nach Glück nicht erstickt. Als Frau Sartoris sich in einen anderen Mann verliebt, wird der träge Lebensfluss unterbrochen. Eine Amour fou beendet das provinzielle Einerlei. Und die Passion ist schon bald mehr als nur eine Flucht, sie soll der endgültige Aufbruch zu einem neuen Leben sein. Der Plan ist gefasst, alle Vorbereitungen getroffen, und am Ende wird Frau Sartoris keine einfache Frau mehr sein.
Elke Schmitter
Leichte Verfehlungen.
Roman.
2002. -BERLIN VERLAG-
Mit ihrem Roman "Frau Sartorius" hat Elke Schmitter im letzten Jahr großes Lob von der Kritik geerntet. Sprachliche Präzision, stilistische Eleganz und ein untrüglicher Sinn für das gesellschaftlich entlarvende Detail zeichnen auch ihren zweiten Roman aus. Ein witziges, intelligentes Buch über eine Gruppe von Frauen in ihren so genannten besten Jahren - eben jenen Jahren, die oftmals auch die verworrensten sind. Selma Craiss erwacht eines Morgens - und ist verliebt, und zwar nicht in ihren langjährigen Lebensgefährten Wolfgang. Als versierte Theoretikerin macht sie sich gleich daran, den Keimling dieser ungewohnten Empfindung unter einer dicken Deutungsdecke zu ersticken - und doch ergibt sie sich diesem lebendigen Gefühl, das wie ein Realitätsblitz in ihrer, der Vorstellungskraft geschuldeten Welt einschlägt. Und scheitert, natürlich. Der legendäre englische Gesellschaftsroman in all seinen Facetten stand wohl Pate für diese mit scharfem Blick und spitzer Feder geschriebene Großstadtromanze - die, so könnte man sagen, auf einem Wahrnehmungsfehler basiert und deshalb ihr tragikomisches Ende findet, bevor sie überhaupt begonnen hat. Freundlich spottend, aber niemals denunziatorisch, wird in Leichte Verfehlungen von der freischaffenden Journalistin Selma Craiss erzählt, einer gebildeten Frau von über vierzig, mit eleganter, gleichwohl dezenter Garderobe sowie einem ausgeprägten Faible für Rorty und Derrida. Begleitet wird Selma durch diese romantische Eskapade von einer Hand voll Freundinnen, alle auf ihre Weise traumatisierte Lebenskünstlerinnen.
Links zu Gesprächen und Artikeln von Achatz von Müller:
Achatz von Müller, Prodekan an der Universität Basel, Historisch-Philosophische Fakultät Ein Gespräch über Endzeitphänomene mit Achatz von Müller, Ordinarius für mittelalterliche Geschichte
Deutsches Seminar der Universität Basel
Alles Preußen - Was die Kopernikus-Gruppe mit Polen vorhat
Matthias Keidel
Die Wiederkehr der Flaneure
Literarische Flanerie und flanierendes Denken zwischen Wahrnehmung und Reflexion
2006 Königshausen & Neumann
Flanieren Sie! Sie sollen flanieren! So ruft es die Polizei per Megaphon in einer Karikatur den verdutzten Passanten zu, die in der Alltagshetze gar nicht wissen, wie ihnen geschieht. Als Sozialfigur hat es den Flaneur in Deutschland nie wirklich gegeben, im Unterschied zum Beispiel zu Paris, wo ihm anno 1830 die Geburtsstunde schlägt. Doch zumindest die Literaten flanieren in Deutschland wieder und lassen sich ihre Texte und Gedankengänge davon inspirieren. Bis 1933 ist dieses Phänomen bereits detailliert untersucht. In Die Wiederkehr der Flaneure zeigt der Autor anhand eingehender Textanalysen wie seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein das Flanieren als literarische Tätigkeit neu entdeckt wird. Dabei können sich mehrere Flanerien durchaus zu ganzen Romanen verknüpfen, was bei Richard Wagner, Bodo Morshäuser, Jochen Schimmang und Cees Nooteboom der Fall ist. Doch auch der scharfe, den Zeitgeist durchdringende Blick ist Sache des Flaneurs, so bei Botho Strauß, Peter Handke und Rolf Dieter Brinkmann. Dabei wird der Flaneur als literarische Funktionsform begriffen, deren emotionales Spektrum die oft beschriebene schwärmerische Melancholie bei weitem übersteigt.
...Die Flaneure des vorvergangenen Jahrhunderts stellten den räumlich-zeitlichen Hintersinn ihrer Tätigkeit sogar bewusst aus, als sie auf den Boulevards Schildkröten spazieren führten. Der eilfertige Rückschluss, alle Menschen, die müßig umherschlendern, seien deshalb Flaneure, widerspräche dagegen unseren Vorstellungen von der Flanerie. In der Uckermark gibt es keine Flaneure, obwohl man dort gewiss müßig umherschlendern kann. Dagegen in Paris und in Berlin mag man sie vielleicht finden. Denn Flaneure gehören in Orte metropolitaner Urbanität und Weltläufigkeit.....
aus: Magnus Schlette, Schwellenwesen SPAZIEREN GEHEN
Zymunt Bauman
Flaneure, Spieler und Touristen.
Essays zu postmodernen Lebensformen.
1997 -HAMBURGER EDITION-
Fluch und Chance der moralischen Person
Und es ist selbst eine moralische Frage, welches der beiden Gesichter sich als ihr bleibendes Ebenbild herausstellen wird. In den sechs Essays beleuchtet Bauman das fragmentarische Leben des postmodernen Menschen unter so verschiedenen Aspekten wie den Formen des Zusammenseins, dem Bild des Fremden, der Rolle der Gewalt und postmoderner Ängste. Der Garten Eden war der Ort ohne Moral, und bevor Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis aßen, waren sie keine moralischen Wesen. Dass Menschen "wesentlich moralische Wesen" sind, heißt nicht, dass sie gut sind, sondern dass sie vor der Wahl zwischen Gut und Böse stehen. Eine solche Situation ist immer ambivalent, jede Entscheidung birgt unabänderlich die Gefahr des Scheiterns.
In der Geschichte der Menschheit lassen sich bislang drei deutlich unterschiedene Strategien erkennen, mit dieser Ambivalenz fertig zu werden: Erstens die vormoderne Epoche der religiösen Systeme, die den Menschen Erleichterung durch Reue und Erlösung versprachen. Zweitens die Moderne, die eine von der Möglichkeit der falschen Entscheidung befreite Welt forderte, indem sie die Verantwortung durch Regeln, durch eine endliche Liste von Pflichten, kurz: durch eine ethische Gesetzgebung ersetzte. Drittens die Postmoderne, in der das ethische Monopol des Staates gebrochen ist und die Menschen vor der Wahl zwischen den verschiedenartigsten Angeboten auf dem Markt stehen.
Mithin zeigt die Postmoderne ein doppeltes Gesicht: Sie ist zugleich Fluch und Chance der moralischen Person. Die Verantwortung des Handelnden ist grundlegender und folgenreicher als jemals zuvor. Jetzt, da die Idee eines einzigen, einheitlichen Regelsystems aufgegeben wurde, ist die Verantwortung für die Wahl dem einzelnen überlassen. Wir haben deshalb ein schärferes Bewusstsein vom Charakter unserer Entscheidungen. Eine Untersuchung der postmodernen Moral(en) muss deshalb auch immer eine Untersuchung des postmodernen Lebens und der postmodernen Lebensstrategien sein. Um diese Situation der moralischen Ambivalenz im Zeitalter des Abschieds von den Prinzipien kreisen Baumans Essays. Welche Aspekte der Lebensbedingungen machen es unmöglich oder überflüssig, die Politik der Prinzipien zu verfolgen, welche die Moderne kennzeichnete? Nach Baumans Diagnose liegen die Wurzeln der postmodernen Moralprobleme in der Zerrissenheit des Menschen.
Taschenkalender für Flaneure in Berlin und anderswo:
Wochenkalendarium.
Mit Beitr. v. Franz J. Behnisch, August Endell, Arthur Eloesser u. a. Kalender.
Arsenal Verlag
Franz Hessel
Ein Flaneur in Berlin.
Mit Walter Benjamin's Skizze 'Die Wiederkehr des Flaneurs'.
Neuausg. 1984. -ARSENAL-
Franz Hessel
Mit Franz Hessel durch Berlin, 1929
1 Audio-CD.
Lesung mit Musik. ca. 62 Min.
Gelesen v. Gerd Grasse.
Hörreisen.
2000. -DER AUDIO VERLAG, DAV-
Berlin Flaneure
Stadt Lektüren in Roman und Feuilleton 1910-1930
Beiträge von Sprengel, Peter.
Herausgegeben von Peter Sprengel
Weidler Buchverlag Berlin
Rudolf Bind
Flaneure, Schmugglerinnen, Partisanen
Prosamen und Bagatellen
Zeichn. von Hofrichter, Gudrun
Verlag d. Kooperative Dürnau
Heidi Wiese
Rendezvous mit den Toten
Spaziergänge über Pariser Friedhöfe
1995 NEUES LITERATURKONTOR-
Wer Paris liebt, wer dem Charme dieser Stadt ein für allemal verfallen ist, den verbindet einiges mit den unterschiedlichsten Prominenten, die von überall her nach Paris gekommen sind, hier gelebt und geliebt haben und auf einem seiner malerisch-morbiden Friedhöfe begraben sind: Père Lachaise, Montmartre, Montparnasse, Saint Ouen, Passy... Heidi Wiese, Kulturredakteurin und nach eigenem Bekenntnis parissüchtig, schildert das Sterben und Leben der Kameliendame Alphonsine Plessis, des Begründers der Bohème, Henri Murger, des Saxophon-Erfinders Adolphe Sax, der heimatlosen Poeten Ludwig Börne und Heinrich Heine, des heiligen Trinkers Joseph Roth, der Mutter der Lost Generation, Gertrude Stein, des Tänzer-Gottes Waclaw Nijinsky, des Rock-Idols Jim Morrison und vieler anderer Paris-Flaneure. < (DIE dabeihaben? immer Büchlein das sollte Parisbesucher
Günter des Bruyn
Unter den Linden
2004 btb
Keine der Straßen Berlins verbindet man bis heute so sehr mit der Geschichte Preußens und seiner Hauptstadt wie Unter den Linden. Der "unheilbare Flaneur" (NZZ) Günter de Bruyn führt uns auf die ihm eigene, unnachahmliche Weise durch die bewegte Vergangenheit des Boulevards und seiner Bewohner. Der literarische Spaziergang führt vom Lustgarten über das Forum Fridericianum bis zum Hotel Adlon und zum Pariser Platz. Durch Geschichten, die sich mit Bauten und Bäumen verbinden, macht de Bruyn einige Jahrhunderte preußisch-deutscher Geschichte lebendig. "Eine herrliche Handreichung für alle, die nicht blind über die Linden tapern." Haug von Kuenheim, Die Zeit