"Es sollte das Signal gesendet werden: Es lohnt sich, zu bleiben"
Der Politikwissenschaftler Wolfgang Seibel erinnert sich an die deutsch-deutsche Wirtschafts- und Währungsunion vor 20 Jahren. Eine solche sollte damals eine "beruhigende Wirkung" auf die DDR-Bevölkerung haben, sagte Seibel.
Jürgen König: 20 Jahre Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion – wie die Wirtschaft der DDR in die Marktwirtschaft transformiert wurde, welche Rolle die Treuhand dabei spielte, darüber hat der Politikwissenschaftler Prof. Wolfgang Seibel von der Universität Konstanz 2005 ein Buch veröffentlicht, ein sehr gut besprochenes Buch: "Verwaltete Illusionen: Die Privatisierung der DDR-Wirtschaft". Herr Seibel, ich grüße Sie!
Wolfgang Seibel: Hallo, Herr König!
König: Beginnen wir mit dem Winter 1989, 1990, mit den Reformversuchen der Regierung Hans Modrows. Sie stand ja im November 89 plötzlich unter sehr großem Reformdruck. Gab es Konzepte in den Reihen der SED-Eliten für so eine Art sozialistische Marktwirtschaft?
Seibel: Ja, diese Konzepte gab es durchaus. Das Interessante ist, dass im Herbst 1989 ja Teileliten der SED wieder an die Oberfläche gespült wurden, so könnte man sagen, die unter der Herrschaft von Honecker kaltgestellt worden waren. Also, ein Beispiel ist dann die spätere Wirtschaftsministerin Christa Luft, auch stellvertretende Ministerpräsidentin unter Modrow; die Präsidentin der Hochschule für Ökonomie (…) oder Wolfram Krause, früher stellvertretender Leiter der Plankommission der DDR, der ebenfalls kaltgestellt worden war. Krause und Luft sind Beispiele für loyale SED-Mitglieder, die nichtsdestotrotz versucht haben, Wirtschaftsreformen innerhalb der DDR in dem Moment wieder in Gang zu setzen, als das Honecker-Regime am Ende war und man, in weiten Teilen der SED jedenfalls, noch im November 1989 die Hoffnung hatte, es könne so etwas wie eine Reform der Partei, eine Reform der DDR geben.
König: Das wäre ja in den frühen 80er-Jahren eine Revolution in der DDR gewesen, und es wurde dann im Frühjahr 90, glaube ich, kann man sagen, von den Ereignissen überrollt?
Seibel: Ja, das, was man im Zusammenhang sehen muss, das ist eben die wirtschaftliche Situation, die desaströse wirtschaftliche Situation, auch die katastrophale Überschuldung des Staatshaushalts der DDR auf der einen Seite, die Abwanderung der DDR-Bevölkerung auf der anderen Seite - also, mit Zahlen, etwa im vierten Quartal 1989: 350.000 DDR-Bürger, die abgewandert waren, die meisten selbstverständlich in die Bundesrepublik oder nach Westberlin, also ein Aderlass, der durchaus zu vergleichen war mit dem, was sich vor dem 13. August 1961 abgespielt hatte - und die internationalen Rahmenbedingungen, etwas, was ja leicht vergessen wird, denn wir reden ja hier über nichts anderes als das Ende einer Epoche und damit auch das Ende einer geopolitischen Ordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden war. Und die große Sorge auch in den westlichen Hauptstädten war natürlich, dass das ganz unkalkulierbare Konsequenzen auch für die politische Stabilität in Zentraleuropa haben würde, was sich da in der DDR abspielte.
König: Das heißt, Sie meinen, Bundeskanzler Kohl hätte unter großem, politischem Druck vonseiten der Westmächte gestanden?
Seibel: Absolut, ja. Das ist ja mittlerweile aus den Dokumenten auch bekannt. Es ist ja nicht so, wie es manchmal in der deutschen Äußerung oder Kommentaren karikiert wurde, dass das nun lediglich Maggie Thatcher gewesen sei, sondern insbesondere François Mitterand, aber auch der damalige amerikanische Präsident George Hebert Walker Bush, die Kohl eines ganz unmissverständlich zu verstehen gegeben haben, nämlich, dass die Ereignisse in Deutschland - das hieß natürlich vor allem in der damaligen DDR - die Position Gorbatschows nicht gefährden dürften.
Denn mit dem Risiko, dass Gorbatschow unter Umständen durch Kräfte innerhalb der damaligen Sowjetunion gestürzt würde, bestand natürlich auch das Risiko, dass es zu einer unmittelbaren, unter Umständen auch militärischen Konfrontation in Europa wieder kommen würde. Das war im Grunde genommen das Szenario, was man sich im Hintergrund dazu denken muss.
König: Hatte dieser Druck der Westmächte eben auch zur Folge, dass dieser Staatsvertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion schon am 1. Juli 1990 in Kraft trat? Die D-Mark wurde dann offizielles Zahlungsmittel der DDR. Viele haben damals gesagt: Diese Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion sei überstürzt eingeführt worden. Waren auch da die Westmächte sozusagen im Hintergrund wirksam?
Seibel: Ja - das darf man sich nicht so vorstellen, dass die Westmächte Helmut Kohl und der damals in Bonn befindliche Bundesregierung diktiert hätten: Macht mal bitte eine Währungsunion, denn das nutzt unseren eigenen Zielen auf dem Gebiet der internationalen Politik.
Es war vielmehr Ende Januar, Anfang Februar 1990 eine Situation eingetreten, in der dieses Signal, mit der DDR in Verhandlungen einzutreten über eine Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion eine definitiv beruhigende Wirkung ausüben sollte auf die DDR-Bevölkerung.
Es sollte das Signal gesendet werden: Es lohnt sich, zu bleiben. Und das hat funktioniert. Es konnte allerdings nur funktionieren zu wirtschaftlichen Bedingungen, zu Bedingungen der Umstellungskurse insbesondere, die sich dann, nach dem 1. Juli 1990, für die Wirtschaft der DDR als katastrophal erwiesen haben.
König: Also, dieser Kurs: eine Mark der DDR gleich eine D-Mark?
Seibel: Ja, richtig, denn das bedeutete ja, dass die Betriebe der DDR ab dem 1. Juli Löhne und Gehälter in D-Mark eins zu eins bezahlen mussten - also, das, was sie vorher in Mark der DDR bezahlt hatten, mussten sie nun in D-Markt bezahlen, aber sie hatten natürlich mit ihrer Produktionstechnologie keinerlei Chance, Güter zu produzieren, die dann auch auf den Markt zu kostendeckenden Preisen in D-Mark, also in harter Währung, hätten abgesetzt werden können.
Das war das zentrale Dilemma, denn auf der anderen Seite hätte man ja der DDR-Bevölkerung, den Beschäftigen in der DDR, auch nicht zumuten können, nun etwa die Gehälter, die Gehaltszahlungen anzupassen an den Abstand der Arbeitsproduktivität, der ungefähr drei zu eins betrug.
Das heißt also: Wenn man danach gegangen wäre, hätten die Beschäftigten der DDR auf einmal nur noch ein Drittel des Geldes in D-Mark in der Tasche gehabt wie vorher in Mark der DDR, damit aber hätten sie dann sehr wahrscheinlich steigende Preise begleichen müssen. Allein das war völlig ausgeschlossen, sodass im Grunde genommen das ganze Dilemma hier offensichtlich wird.
König: Das heißt, man kann heute nicht sagen, dass die Bundesregierung zusammen mit der DDR-Regierung billigend in Kauf genommen hat, dass die DDR-Betriebe ruiniert würden?
Seibel: Ja, ich meine, das kann man, wenn man polemisch sein will, so kommentieren, nur: Man muss sich ja immer in die Situation hineinversetzen, die die Akteure damals - sowohl aufseiten der DDR, sprich also Lothar de Maizière mit seiner Regierung, eine Große Koalition unter Einschluss der Sozialdemokraten bekanntlich, und die westdeutsche Regierung unter der Führung von Helmut Kohl -, also, die Situation, die die vorgefunden haben und unter der sie agieren mussten. Es war ja völlig klar, das war ein Grundsatzbeschluss der Regierung de Maizière, gleich nach ihrer Konstituierung Anfang April: Umstellungskurs eins zu eins. Das war eine glasklare Botschaft, die nicht mehr hintergehbar war. Dahinter kam man nicht mehr zurück, das war eine politische Festlegung, die stammte in erster Linie aus der DDR, frisch ins Amt gelangte, erste demokratische Regierung der DDR.
König: Blühende Landschaften - dieses berühmte Bild -, blühende Landschaften hatte Kanzler Kohl versprochen, stattdessen waren zunächst Arbeitslosigkeit und allgemeine Verunsicherung die Folge, aber eben auch ein rasanter Ausbau der Infrastruktur. 20 Jahre danach - welche Bilanz ziehen Sie heute, auch mit Blick auf die Treuhandanstalt?
Seibel: Na ja, wie man so sagt, man kann das Glas halb leer, man kann es halb voll sehen, und ich denke, die Deutschen insgesamt haben allen Anlass, das Glas halb voll zu sehen in dem Sinne, dass man anerkennen muss, dass die Aufbauleistung, die in der früheren DDR ja eine Nachhol-Leistung war, weil die Menschen in diesem Landstrich, den man ganz früher Mitteldeutschland genannt hat, ja im Grunde genommen den Zweiten Weltkrieg, wenn man so will, alleine verloren hatten.
Jedenfalls hatten sie das subjektive Gefühl: Wir hier zahlen die Zeche für etwas, was im Grunde genommen wir Deutschen insgesamt zu verantworten hatten. Wenn man das an diesem historischen Maßstab misst und zum Vergleich heranzieht etwa die Situation in den Vereinigten Staaten nach dem Bürgerkrieg in den 1860er-Jahren oder die Situation in Italien mit dem bekannten Mezzogiorno-Problem, also der notorischen Unterentwicklung des italienischen Südens, dann muss man, wie ich finde, geradezu zu der Feststellung kommen, dass hier Aufbauleistungen vollzogen wurden – unter massiver Hilfe natürlich des Staates, der Länder, übrigens auch der Kommunen, durch Patenschaftsabkommen, und natürlich des Steuerzahlers insgesamt, wir alle bezahlen ja nach wie vor unseren Solidaritätszuschlag, Aufbauleistungen, die doch ganz bemerkenswert sind und die eines sicher fertiggebracht haben, nämlich, dass es eine sehr solide, ökonomische Perspektive gibt für Ostdeutschland. Davon konnte man ja 1990, 1991 nicht unbedingt ausgehen.
Wir haben es verhindert, dass Ostdeutschland deindustrialisiert wurde, es wurden neue Wirtschaftsstrukturen geschaffen. Zum Teil gibt es Betriebe in der DDR, auf dem Gebiet der Hochtechnologie, die nicht nur weltmarktfähig sind, sondern die zum Teil auch Nischen besetzt haben, in denen sie zur Weltmarktspitze gehören.
Also, das sind alles doch Vorgänge und Prozesse, auf die insbesondere eben die Ostdeutschen doch stolz sein dürfen, und es kommt manchmal etwas zu kurz in der öffentlichen Diskussion, dass das doch eine ganz bemerkenswerte Leistung auch der Menschen in Ostdeutschland ist.
Wenn man sich das vor Augen hält und die Tatsache, dass dann nach der Wiedervereinigung, nach der Währungsunion neuerlich doch ganz gewaltige Belastungen auf die ostdeutsche Bevölkerung zukamen und dass es darüber nicht zu politischen Destabilisierungen, sozialen Unruhen oder was auch immer gekommen ist, dann muss man doch vor allem auch mal anerkennen, dass das eine ganz erhebliche, psychologische, biografische, individuelle, auch robuste Leistung ist, die da von den Ostdeutschen vollbracht worden ist, und man könnte sich in der Tat wünschen, dass darauf vielleicht auch in der öffentlichen Kommunikation etwas mehr Bezug genommen wird.
König: 20 Jahre Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, eine Erfolgsgeschichte, sagt der Politikwissenschaftler Wolfgang Seibel. Sein Buch "Verwaltete Illusionen" ist im Campus Verlag erschienen. Herr Seibel, ich danke Ihnen!
Seibel: Ich danke Ihnen, Herr König!
Wolfgang Seibel: Hallo, Herr König!
König: Beginnen wir mit dem Winter 1989, 1990, mit den Reformversuchen der Regierung Hans Modrows. Sie stand ja im November 89 plötzlich unter sehr großem Reformdruck. Gab es Konzepte in den Reihen der SED-Eliten für so eine Art sozialistische Marktwirtschaft?
Seibel: Ja, diese Konzepte gab es durchaus. Das Interessante ist, dass im Herbst 1989 ja Teileliten der SED wieder an die Oberfläche gespült wurden, so könnte man sagen, die unter der Herrschaft von Honecker kaltgestellt worden waren. Also, ein Beispiel ist dann die spätere Wirtschaftsministerin Christa Luft, auch stellvertretende Ministerpräsidentin unter Modrow; die Präsidentin der Hochschule für Ökonomie (…) oder Wolfram Krause, früher stellvertretender Leiter der Plankommission der DDR, der ebenfalls kaltgestellt worden war. Krause und Luft sind Beispiele für loyale SED-Mitglieder, die nichtsdestotrotz versucht haben, Wirtschaftsreformen innerhalb der DDR in dem Moment wieder in Gang zu setzen, als das Honecker-Regime am Ende war und man, in weiten Teilen der SED jedenfalls, noch im November 1989 die Hoffnung hatte, es könne so etwas wie eine Reform der Partei, eine Reform der DDR geben.
König: Das wäre ja in den frühen 80er-Jahren eine Revolution in der DDR gewesen, und es wurde dann im Frühjahr 90, glaube ich, kann man sagen, von den Ereignissen überrollt?
Seibel: Ja, das, was man im Zusammenhang sehen muss, das ist eben die wirtschaftliche Situation, die desaströse wirtschaftliche Situation, auch die katastrophale Überschuldung des Staatshaushalts der DDR auf der einen Seite, die Abwanderung der DDR-Bevölkerung auf der anderen Seite - also, mit Zahlen, etwa im vierten Quartal 1989: 350.000 DDR-Bürger, die abgewandert waren, die meisten selbstverständlich in die Bundesrepublik oder nach Westberlin, also ein Aderlass, der durchaus zu vergleichen war mit dem, was sich vor dem 13. August 1961 abgespielt hatte - und die internationalen Rahmenbedingungen, etwas, was ja leicht vergessen wird, denn wir reden ja hier über nichts anderes als das Ende einer Epoche und damit auch das Ende einer geopolitischen Ordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden war. Und die große Sorge auch in den westlichen Hauptstädten war natürlich, dass das ganz unkalkulierbare Konsequenzen auch für die politische Stabilität in Zentraleuropa haben würde, was sich da in der DDR abspielte.
König: Das heißt, Sie meinen, Bundeskanzler Kohl hätte unter großem, politischem Druck vonseiten der Westmächte gestanden?
Seibel: Absolut, ja. Das ist ja mittlerweile aus den Dokumenten auch bekannt. Es ist ja nicht so, wie es manchmal in der deutschen Äußerung oder Kommentaren karikiert wurde, dass das nun lediglich Maggie Thatcher gewesen sei, sondern insbesondere François Mitterand, aber auch der damalige amerikanische Präsident George Hebert Walker Bush, die Kohl eines ganz unmissverständlich zu verstehen gegeben haben, nämlich, dass die Ereignisse in Deutschland - das hieß natürlich vor allem in der damaligen DDR - die Position Gorbatschows nicht gefährden dürften.
Denn mit dem Risiko, dass Gorbatschow unter Umständen durch Kräfte innerhalb der damaligen Sowjetunion gestürzt würde, bestand natürlich auch das Risiko, dass es zu einer unmittelbaren, unter Umständen auch militärischen Konfrontation in Europa wieder kommen würde. Das war im Grunde genommen das Szenario, was man sich im Hintergrund dazu denken muss.
König: Hatte dieser Druck der Westmächte eben auch zur Folge, dass dieser Staatsvertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion schon am 1. Juli 1990 in Kraft trat? Die D-Mark wurde dann offizielles Zahlungsmittel der DDR. Viele haben damals gesagt: Diese Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion sei überstürzt eingeführt worden. Waren auch da die Westmächte sozusagen im Hintergrund wirksam?
Seibel: Ja - das darf man sich nicht so vorstellen, dass die Westmächte Helmut Kohl und der damals in Bonn befindliche Bundesregierung diktiert hätten: Macht mal bitte eine Währungsunion, denn das nutzt unseren eigenen Zielen auf dem Gebiet der internationalen Politik.
Es war vielmehr Ende Januar, Anfang Februar 1990 eine Situation eingetreten, in der dieses Signal, mit der DDR in Verhandlungen einzutreten über eine Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion eine definitiv beruhigende Wirkung ausüben sollte auf die DDR-Bevölkerung.
Es sollte das Signal gesendet werden: Es lohnt sich, zu bleiben. Und das hat funktioniert. Es konnte allerdings nur funktionieren zu wirtschaftlichen Bedingungen, zu Bedingungen der Umstellungskurse insbesondere, die sich dann, nach dem 1. Juli 1990, für die Wirtschaft der DDR als katastrophal erwiesen haben.
König: Also, dieser Kurs: eine Mark der DDR gleich eine D-Mark?
Seibel: Ja, richtig, denn das bedeutete ja, dass die Betriebe der DDR ab dem 1. Juli Löhne und Gehälter in D-Mark eins zu eins bezahlen mussten - also, das, was sie vorher in Mark der DDR bezahlt hatten, mussten sie nun in D-Markt bezahlen, aber sie hatten natürlich mit ihrer Produktionstechnologie keinerlei Chance, Güter zu produzieren, die dann auch auf den Markt zu kostendeckenden Preisen in D-Mark, also in harter Währung, hätten abgesetzt werden können.
Das war das zentrale Dilemma, denn auf der anderen Seite hätte man ja der DDR-Bevölkerung, den Beschäftigen in der DDR, auch nicht zumuten können, nun etwa die Gehälter, die Gehaltszahlungen anzupassen an den Abstand der Arbeitsproduktivität, der ungefähr drei zu eins betrug.
Das heißt also: Wenn man danach gegangen wäre, hätten die Beschäftigten der DDR auf einmal nur noch ein Drittel des Geldes in D-Mark in der Tasche gehabt wie vorher in Mark der DDR, damit aber hätten sie dann sehr wahrscheinlich steigende Preise begleichen müssen. Allein das war völlig ausgeschlossen, sodass im Grunde genommen das ganze Dilemma hier offensichtlich wird.
König: Das heißt, man kann heute nicht sagen, dass die Bundesregierung zusammen mit der DDR-Regierung billigend in Kauf genommen hat, dass die DDR-Betriebe ruiniert würden?
Seibel: Ja, ich meine, das kann man, wenn man polemisch sein will, so kommentieren, nur: Man muss sich ja immer in die Situation hineinversetzen, die die Akteure damals - sowohl aufseiten der DDR, sprich also Lothar de Maizière mit seiner Regierung, eine Große Koalition unter Einschluss der Sozialdemokraten bekanntlich, und die westdeutsche Regierung unter der Führung von Helmut Kohl -, also, die Situation, die die vorgefunden haben und unter der sie agieren mussten. Es war ja völlig klar, das war ein Grundsatzbeschluss der Regierung de Maizière, gleich nach ihrer Konstituierung Anfang April: Umstellungskurs eins zu eins. Das war eine glasklare Botschaft, die nicht mehr hintergehbar war. Dahinter kam man nicht mehr zurück, das war eine politische Festlegung, die stammte in erster Linie aus der DDR, frisch ins Amt gelangte, erste demokratische Regierung der DDR.
König: Blühende Landschaften - dieses berühmte Bild -, blühende Landschaften hatte Kanzler Kohl versprochen, stattdessen waren zunächst Arbeitslosigkeit und allgemeine Verunsicherung die Folge, aber eben auch ein rasanter Ausbau der Infrastruktur. 20 Jahre danach - welche Bilanz ziehen Sie heute, auch mit Blick auf die Treuhandanstalt?
Seibel: Na ja, wie man so sagt, man kann das Glas halb leer, man kann es halb voll sehen, und ich denke, die Deutschen insgesamt haben allen Anlass, das Glas halb voll zu sehen in dem Sinne, dass man anerkennen muss, dass die Aufbauleistung, die in der früheren DDR ja eine Nachhol-Leistung war, weil die Menschen in diesem Landstrich, den man ganz früher Mitteldeutschland genannt hat, ja im Grunde genommen den Zweiten Weltkrieg, wenn man so will, alleine verloren hatten.
Jedenfalls hatten sie das subjektive Gefühl: Wir hier zahlen die Zeche für etwas, was im Grunde genommen wir Deutschen insgesamt zu verantworten hatten. Wenn man das an diesem historischen Maßstab misst und zum Vergleich heranzieht etwa die Situation in den Vereinigten Staaten nach dem Bürgerkrieg in den 1860er-Jahren oder die Situation in Italien mit dem bekannten Mezzogiorno-Problem, also der notorischen Unterentwicklung des italienischen Südens, dann muss man, wie ich finde, geradezu zu der Feststellung kommen, dass hier Aufbauleistungen vollzogen wurden – unter massiver Hilfe natürlich des Staates, der Länder, übrigens auch der Kommunen, durch Patenschaftsabkommen, und natürlich des Steuerzahlers insgesamt, wir alle bezahlen ja nach wie vor unseren Solidaritätszuschlag, Aufbauleistungen, die doch ganz bemerkenswert sind und die eines sicher fertiggebracht haben, nämlich, dass es eine sehr solide, ökonomische Perspektive gibt für Ostdeutschland. Davon konnte man ja 1990, 1991 nicht unbedingt ausgehen.
Wir haben es verhindert, dass Ostdeutschland deindustrialisiert wurde, es wurden neue Wirtschaftsstrukturen geschaffen. Zum Teil gibt es Betriebe in der DDR, auf dem Gebiet der Hochtechnologie, die nicht nur weltmarktfähig sind, sondern die zum Teil auch Nischen besetzt haben, in denen sie zur Weltmarktspitze gehören.
Also, das sind alles doch Vorgänge und Prozesse, auf die insbesondere eben die Ostdeutschen doch stolz sein dürfen, und es kommt manchmal etwas zu kurz in der öffentlichen Diskussion, dass das doch eine ganz bemerkenswerte Leistung auch der Menschen in Ostdeutschland ist.
Wenn man sich das vor Augen hält und die Tatsache, dass dann nach der Wiedervereinigung, nach der Währungsunion neuerlich doch ganz gewaltige Belastungen auf die ostdeutsche Bevölkerung zukamen und dass es darüber nicht zu politischen Destabilisierungen, sozialen Unruhen oder was auch immer gekommen ist, dann muss man doch vor allem auch mal anerkennen, dass das eine ganz erhebliche, psychologische, biografische, individuelle, auch robuste Leistung ist, die da von den Ostdeutschen vollbracht worden ist, und man könnte sich in der Tat wünschen, dass darauf vielleicht auch in der öffentlichen Kommunikation etwas mehr Bezug genommen wird.
König: 20 Jahre Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, eine Erfolgsgeschichte, sagt der Politikwissenschaftler Wolfgang Seibel. Sein Buch "Verwaltete Illusionen" ist im Campus Verlag erschienen. Herr Seibel, ich danke Ihnen!
Seibel: Ich danke Ihnen, Herr König!