"Es war ein Ehrenmord"

Matthias Blume im Gespräch mit Philipp Gessler |
Um Carlo Gesualdo ranken sich viele Mysterien. Fakt ist: Der Komponist hat seine Frau blutrünstig erstochen. Manch ein Experte will spätere Reue in der Musik Gesualdos erkennen. Und Ausdruck stehe bei ihm auch über allem, sagt der Musikwissenschaftler Matthias Blume.
Philipp Gessler: In der Nacht vom 16. auf den 17. Oktober 1590 ereignete sich im Palazzo San Severo in Neapel eine ungeheurer Bluttat. Der Fürst von Venosa, Carlo Gesualdo, erstach, rasend vor Wut, ja, offenbar in so etwas wie einem Blutrausch, seine hübsche und kluge Frau Donna Maria. Er hatte sie in flagranti mit ihrem Liebhaber erwischt. Auch dieser Liebhaber wurde dabei getötet – ob durch Gesualdos Hand oder durch die seiner Diener, ist unklar. Manche Quellen sprechen sogar davon, dass der Fürst von Venosa später auch einen Sohn und seinen Schwiegervater ermordet hat.

Der Musikwissenschaftler, Arzt und Chorleiter Matthias Blume aus Cottbus hat im vergangenen Jahr ein vor allem musikwissenschaftliches Buch über Carlo Gesualdo geschrieben. Er nennt es vorsichtig: "Eine Annäherung". Mit Matthias Blume habe ich vor der Sendung gesprochen. Meine erste Frage an ihn war, ob wir uns heute an Gesualdo erinnern, weil er ein wichtiger Komponist der Frühen Neuzeit war – oder weil er ein Mörder war?

Matthias Blume: Beides vielleicht. Also es ist schwer zu trennen, denn diese Bluttat, die der Fürst von Venosa, Carlo Gesualdo, damals an seiner Frau und ihrem Liebhaber verübt hat, ist natürlich sofort auch in die Legendenbildung eingegangen natürlich. Aber ich denke, das würde nicht reichen für eine so lange Zeit, eine lange Beschäftigung mit ihm und seiner Musik. Ich halte ihn sowohl in Hinsicht auf sein Leben, aber eben auch in Hinsicht auf seine Musik für sehr, sehr außergewöhnlich und sehr bahnbrechend.

Gessler: Was wissen wir denn über diese Bluttat, die ihn damals so berühmt gemacht hat?

Blume: Ja, was sich da in dieser Nacht abgespielt hat, ist deswegen auch schwer heute zu beurteilen, weil natürlich sofort Legenden sprossen. Wir haben einen Untersuchungsbericht, der offiziell angefertigt wurde von Untersuchungsbeamten, und auf den können wir uns heute stützen, und in dem steht auch recht genau und eigentlich auch sehr gut beschrieben, dass die beiden Leichen von Donna Maria, also seiner Frau, und ihrem Liebhaber unbekleidet und mit vielen Hieb-, Stich- und Schussverletzungen gefunden wurden.

Man muss also davon ausgehen, dass dort, ja, in hohem Affekt, in großer Raserei ein Carlo Gesualdo in dieses Zimmer gestürmt ist und eben diesen Mord – möglicherweise eigenhändig, aber möglicherweise auch mit Helfern – verübt hat. Eigentlich hatte er gesagt, er geht auf die Jagd, er hatte eine Jagdgesellschaft im Schloss, und hatte sich verabschiedet, das war also der Vorwand oder die Falle, die er da gestellt hat, und war jetzt zurückgekommen und hat eben die beiden in flagranti ertappt.

Gessler: Es gibt ja diese Quellen, die sagen, er habe in einer Art Blutrausch gehandelt, er habe so oft auf sie eingestochen und dabei immer wieder geschrien: "Ist sie immer noch nicht tot?"

Blume: Ja, auch dieses Zitat ist möglicherweise aus einer Legende entstanden. Wir kennen eben nur diesen Bericht, diesen Untersuchungsbericht, der sehr, sehr explizit aufführt, wo überall Verletzungen sind. Also die lassen den Schluss zu, dass es tatsächlich ein Rausch war, der da stattgefunden hat. Wir haben natürlich keinen Ohrenzeugen, der das irgendwann mal schriftlich niedergelegt hätte. Es gibt für diese Nacht noch viel mehr und auch viel blutrünstigere Einzelheiten, die dann erzählt wurden. Es fällt schwer, da heute noch objektiv etwas nachzuvollziehen, weil ja keiner dabei war.

Gessler: Das für uns heute Erstaunliche ist ja, dass er eine gewisse Immunität besaß als Adeliger und dieser Mord eben als eine Art Ehrenmord gewertet wurde und deswegen er nicht verfolgt wurde, zumindest nicht von staatlichen Stellen, wahrscheinlich aber von der Familie der Ermordeten.

Blume: Ehrlich gesagt, das erstaunte mich, als ich mich damit beschäftigt habe, auch sehr. Aber es waren wohl doch ganz andere Zeiten. Er hat tatsächlich eine gewisse Immunität, und es war unter seinen Standesgenossen durchaus auch überhaupt ganz üblich, dass man so etwas macht. Es war ein Ehrenmord, Sie haben es gesagt, er hatte auch in den Augen seiner Zeitgenossen durchaus das Recht, das zu machen, weil die Schuld ja der Betrügerin, der Ehefrau, ja erwiesen war.

Es gab tatsächlich meines Wissens keine Anklage seitens einer Staatsanwaltschaft, wie wir das heute erwarten würden, es gab auch keine Anklage der betroffenen Familie der Ehefrau, es gab tatsächlich natürlich Racheideen, Rachegelüste, das führte auch dazu, dass er sich nach dieser Bluttat dann auf sein Schloss, weg von Neapel, auf sein Schloss in Gesualdo zurückgezogen hatte, aus Angst vor Racheakten. Aber eine rechtstaatliche Verfolgung, wie wir sie heute erwarten, gab es in dieser Form so nicht, zumindest nicht für Personen seines Standes.

Gessler: Wie zuverlässig sind denn die Quellen, dass er vielleicht sogar einen Sohn auch noch ermordet hat, den er hatte, vielleicht sogar seinen Schwiegervater?

Blume: Auch das weiß man heute nicht. Es gibt keine offizielle Berichterstattung darüber. Also in diesem Bericht wird kein Kind erwähnt. Es gibt kein Dokument aus der Zeit, was ein weiteres Kind von Donna Maria mit ihm quasi bezeugt. Wir wissen also einfach nicht, ob es ein solches Kind gab. Allerdings sind diese Gerüchte, diese Behauptungen recht hartnäckig, sie sind sogar ausgeschmückt mit dem Hinweis, dass also das Gesicht des Kindes ihn an seinen Nebenbuhler erinnert und dass er es deswegen umbringen ließ oder umgebracht hat. Man kann hier nicht wirklich trennen zwischen Legende und Realität oder eben Historizität. Wir wissen es nicht. Möglich ist es durchaus.

Gessler: Kann man denn sagen, dass die Musik von Gesualdo geprägt ist in irgendeiner Weise von einem schlechten Gewissen? Also häufig kommt in seiner Musik beziehungsweise in den Texten, die er vertont, eben die Bitte um Vergebung bei Gott vor.

Blume: Das nehme ich auch ganz stark an, wenngleich natürlich auch hier Spekulationen an der Tagesordnung sind. Er hat ja vor allen Dingen in den Responsorien die Textzeilen, die also von Reue, von Schuld, von Tod handeln, sehr, sehr expressiv, in sehr grellen Farben ausgeleuchtet. Er hat sogar auch in seinen weltlichen Madrigalen, von denen es ja auch einige gibt, Textzeilen, die von Liebesschmerz, von Trauer, von Leid handeln, mit großer Kunst und sehr viel Expressivität gestaltet und komponiert.

Es gibt, was vielleicht diese These auch noch mehr unterstützt, es gibt auch von ihm ein Auftragswerk für ein Gemälde, was er von Balducci, das war ein zeitgenössischer Maler, für seine Hofkapelle in Auftrag gegeben hat. Darauf ist er zu sehen, links unten, wie er so ein bisschen in einer Sünder-, Bittstellung vor der Auferstehung Christi kniet, neben ihm sein Onkel Alfonso, der Kardinal geworden war noch und den er sehr verehrt hat. Er hat dieses Gemälde gestiftet und man weiß auch, dass er in seinem sehr umfangreichen Testament sehr viele Gaben an die Kirche und an Bedürftige verteilen ließ. Alles das führt wirklich zu der Schlussfolgerung, dass ihn das Ereignis mit sehr viel Reue erfüllt hat.

Es gibt auch Briefe von ihm, die das bestätigen. Sie sprechen seine Musik an. Man kann heute wirklich schlecht trennen: Was ist tatsächlich Ausdruck einer besonderen Kreativität oder einer Richtung, die ein Komponist nimmt, was ist tatsächlich Ausdruck seiner inneren Verfassung? Mir fällt es meist doch schwer, da so enge Verbindungen zu erkennen.

Man hat das bei vielen Komponisten oder Künstlern probiert. Man darf da, glaube ich, nicht zu schnelle Schlüsse ziehen zwischen dem realen Leben oder der Biografie eines Künstlers und eben dem Ausdruck in seinem entstandenen Werk. Aber der Gedanke liegt nah, einfach von den Themen, die Gesualdo wählt, von der Idee der Vertonung, von bestimmten Textzeilen, gehen wir heute davon aus, dass er tatsächlich das Thema Reue und Schuld besonders bearbeitet hat.

Gessler: Es gibt auch Quellen, die sagen, dass er sich sogar täglich geißeln ließ. Wie zuverlässig ist das?

Blume: Es gibt Briefe von ihm, die tatsächlich … oder Briefe über ihn, muss ich eher sagen, die tatsächlich diese Situation schildern, dass er also zum Ende seines Lebens einen Knecht angeblich beschäftigt hat, der ihn täglich ausgepeitscht hätte. Auch das muss man so ein bisschen mit Vorsicht genießen. Es gibt da eine Quelle, die das behauptet, wobei auch hier fraglich ist, was dort wirklich passiert ist. Es gibt noch mehr, ja, ich sage mal, eher skurrile Erlebnisse oder biografische Details aus seinem Leben, die in diese Richtung gehen. Man muss hier aufpassen, dass nicht zu viel Sensationslüsternheit, die natürlich auch damals schon vorhanden war wie auch heute, eine Rolle spielt. Historisch oder historisierend ist das sicher nicht. Aber man kann davon ausgehen, dass auch sicher davon einiges stimmte.

Gessler: Was ist denn das Bahnbrechende eigentlich seiner Musik?

Blume: Ja, schwierige Frage, aber für mich und sicherlich auch für einige andere unserer Zeit ist es die Unbedingtheit des Ausdrucks. Gesualdo war ja eigentlich lange nicht wirklich bekannt. Im 19. Jahrhundert wurde er eigentlich verschrien wegen seiner so komplizierten Satztechnik, wegen dieses ästhetisierenden Gestus. Eigentlich wurde er im 20. Jahrhundert wiederentdeckt von Strawinski oder von Hindemith, die seine Musik sehr schätzten, und das ist sicher auch kein Zufall.

Er hat tatsächlich den Ausdruck, also die Vertonung des Textes und seiner Emotion, über jede Satzregel gestellt, obwohl – und das ist nur scheinbar ein Widerspruch –, obwohl er jede Regel befolgt hat, jede Regel des Kontrapunktes. Er hat tatsächlich diese Regeln so weit gebogen und verschoben und bis ins Äußerste ausgedeutet, dass sie eigentlich nicht mehr erkennbar sind für den heute Hörenden. Die Musik von Gesualdo wirkt zerrissen, wirkt ohne ein tonales Zentrum, wirkt so, als ob sie keine Linie habe, der man folgen kann. Aber alle diese, ich sage mal, Zerrissenheiten der Struktur dienen dem Ausdruck, dienen der intensivsten Ausdeutung des zu Sagenden. Er hat ja auch fast nur tatsächlich textbezogene Musik komponiert und hat diese Strukturen, die er ja meisterhaft beherrscht hat, immer in den Dienst dieser Textausdeutung gestellt.

Und das macht ihn für mich, und nicht nur für mich, für die allermeisten, denke ich, die ihn heute hören, so einmalig, und hier schlage ich die Brücke zum 20. Jahrhundert, findet sich diese Idee des Musizierens oder der Komposition erst tatsächlich wieder in der atonalen Musik. Es gibt auch Musikwissenschaftler, die hier die Grenze der Tonalität erreicht sehen. Man kann wirklich bei ihm, wenn man ihn analysiert, kaum noch die normalen kadenziellen Abfolgen eines Musikstücks seiner Zeit erkennen, weil also immer wieder Veränderungen, Dissonanzen, ja, Akkorde erscheinen, die einfach nicht in die Hörgewohnheit oder überhaupt in die normale Abfolge eines Madrigals passen. Das erinnert dann eher an die Zwölftonmusik oder an die Musik des 20. Jahrhunderts allgemein, wobei nicht das unbedingt das für mich Ausschlaggebende ist, was ihn so zeitlos macht, sondern eben dieser Wille zum Ausdruck, diese Expressivität.

Gessler: Dies war ein Interview mit Matthias Blume. Sein Buch "Carlo Gesualdo. Exzentrischer Manierist oder Wegbereiter der Atonalität. Eine Annäherung." ist im vergangenen Jahr im Verlag Dohr Köln erschienen. Es hat 84 Seiten und kostet 19,80 Euro.

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