Es war einmal ein Mann

Nicht in einen Palast im fernen Osten, sondern in ein abgewracktes Hotel entführt Charles Lewinsky die Leser in seinem Erzählband "Zehnundeine Nacht". Die "Prinzessin" ist eine Prostituierte und der "König" ein regelmäßiger Kunde. Nichtsdestotrotz erweist sich der Schweizer Autor als pointierter Erzähler und guter Unterhalter.
Palast, König und Prinzessin gehören zur Grundausstattung von Märchen. In Charles Lewinskys "Zehnundeine Nacht" ist das "Palace" allerdings ein abgewracktes Hotel, dessen desolate Zimmer von der Mafia an fragwürdige Gäste vermietet werden. Die "Prinzessin" ist eine nicht mehr ganz junge Prostituierte, die sich hier eingerichtet hat. Und als "König" bezeichnet sich ein angeberischer Ganove, ihr treuester Kunde.

Zehnundeine Nacht lang liegt er stöhnend und schwitzend auf oder neben ihr, fragt gerne: "Na, wie war ich?" und neigt zu unberechenbarer Gewalttätigkeit, zu Schlägen und Tritten. Kein angenehmer Zeitgenosse also und auch kein angenehmer Kunde. Doch die "Prinzessin" braucht sein Geld für Miete und Lebensunterhalt.

Um sich den "König" ansonsten einigermaßen vom Leibe zu halten, erzählt sie ihm zehn und eine Nacht lang Geschichten, so wie man einem Kind etwas erzählt, um es in Schlaf zu lullen. Oder so wie Scheherazade in "Tausendundeiner Nacht" den König Scharyâr mit Geschichten in Bann schlug, um ihr Leben zu retten.
In den Geschichten der "Prinzessin" geht es immer wieder ums Überleben und um den Tod. So gleich in der ersten, in der ein Selbstmörder sich vor die einfahrende Bahn stürzen will, jedoch von einem Passanten daran gehindert wird. Weil er nun weiterleben muss, macht er seinen Retter dafür verantwortlich. Er besucht ihn zu Hause, richtet sich dort ein und verdrängt ihn allmählich aus Ehe und Beruf, bis er ganz und gar dessen Platz eingenommen hat. Der Retter, obdachlos geworden, möchte sich nun seinerseits umbringen.

In einer anderen Geschichte wird ein Mann beim Überqueren der Straße überfahren und stirbt so rasch, dass er es gar nicht bemerkt. Das andere, das ewige Leben ist für ihn nur die Ankunft auf der anderen Straßenseite. Doch die Welt hat sich zu einem Albtraum verändert, ohne dass er begreifen kann, was vor sich gegangen ist.

"Es war einmal ein Mann": So beginnen all diese Geschichten im klassischen Märchenton. Doch Lewinsky erzählt nicht einfach nur, sondern er führt das Erzählen im Prozess des Entstehens vor und erzählt das Erzählen immer gleich mit. Der "König" als Zuhörer ist mal aggressiv, mal interessiert, mal so schlecht gelaunt, dass er unbedingt ein Happy End braucht. Weil er der Kunde ist und außerdem immerzu besänftigt werden muss, richtet sich die "Prinzessin" zumeist nach seinen Wünschen.

Die Kurven, die ihre Geschichten nehmen, sind deshalb nicht immer abzusehen. Einmal erzählt sie von einem Zauberer, der alle Dinge, die er sich vorstellt, auch erscheinen lassen kann. Wenn er Hunger verspürt, ist das Hähnchen schon gebraten. Wenn er etwas zu schreiben braucht, muss er sich den Stift nur denken. So ähnlich funktioniert auch das Erzählen der "Prinzessin". Alles ist dabei möglich. Darin liegt ihre Freiheit.

Lewinskys Geschichten lesen sich wie Etüden, in denen der Autor seine Fantasietätigkeit erprobt. Das Lügen und Erfinden als Grundprinzip des Erzählens ist ein häufig wiederkehrendes Motiv. So zum Beispiel in der Geschichte über einen russischen Emigranten in New York, der Touristen, die Manhattan mit dem Schiff umrunden, mit fantastischen Anekdoten zu den einzelnen Gebäuden versorgt.

Der Zeitrahmen des Buches reicht vom Mittelalter, wo drei Brüder auf unterschiedliche Weise dem angekündigten Weltuntergang zum Ende des Jahres 999 entgegensehen, bis in eine unbestimmte Zukunft, in der die Identität der Menschen ausschließlich an ihrer Identitätskarte hängt. Die Sprache ist mal derb, mal vornehm. Die Prinzessin spricht jedenfalls sehr viel elaborierter, als es ihr Beruf und ihre Situation vermuten ließen, doch muss sie sich häufig dem Geschmack des Königs fügen. Wenn sie von "Unzucht und Völlerei" spricht, besteht er darauf, "Fressen und Ficken" zu sagen.

So unterhaltsam das Verfahren auch ist, nutzt es sich doch bald ab. Die Geschichten sind oft allzu skizzenhaft dahingeworfen, ohne dass es für ein richtiges Ende noch reichen würde. Die Einwürfe des "Königs" sind erwartbar, und in der Beziehung zwischen ihm und der "Prinzessin" entwickelt sich nichts. Die Stadt, in der das Hotel "Palace" steht, bleibt ausgeblendet und damit auch die konkrete historische Situation. Damit ist aber auch der Zusammenhalt der Geschichten ein bloß technischer: ein erzählerischer Kniff.

Der Schweizer Autor Charles Lewinsky, geboren 1946, zeigt jedoch einmal mehr, was er kann: Er ist ein pointierter Erzähler und guter Unterhalter. Das hat er nicht zuletzt auch als Autor von TV-Serien und einst als Ghostwriter für Harald Juhnke bewiesen. So ist es nicht erstaunlich, dass er auch die Techniken des Erzählens zum Gegenstand der Unterhaltung machen kann.

Rezensiert von Jörg Magenau

Charles Lewinsky: Zehnundeine Nacht
Nagel & Kimche, Zürich 2008
190 Seiten, 17,90 Euro