"Es war keine Wiedervereinigung, es war ein Beitritt"
Der Schriftsteller Ingo Schulze hätte sich gewünscht, dass die ersten freien Wahlen in der DDR nicht die letzten gewesen wären. Die DDR-Bürger hätten "an den Weihnachtsmann geglaubt, und Kohl hat den Weihnachtsmann gegeben".
Jan-Christoph Kitzler: Heute vor genau 20 Jahren wurde das schnelle Ende der DDR besiegelt, bei der Volkskammerwahl am 18. März 1990. Damals gewannen zur Überraschung vieler nicht etwa die Bürgerrechtsparteien, die der friedlichen Revolution eine Stimme gegeben hatten; es siegte das konservative Wahlbündnis "Allianz für Deutschland", das massive Wahlhilfe aus dem Westen bekommen hatte. Der Spitzenkandidat und zugleich der letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière von der CDU, sagte vor der Volkskammer, "unser Auftrag ist es, uns abzuschaffen".
Aufregende Zeiten waren das vor 20 Jahren. Der Fall der Mauer war gerade erst etwas mehr als vier Monate her, und weil die DDR-Bürger die freien Wahlen so sehr wollten, musste der eigentlich geplante Termin sogar vorverlegt werden. Es waren die ersten und es blieben die einzigen freien Wahlen in der DDR. - Darüber habe ich mit dem Schriftsteller Ingo Schulze gesprochen, er hat in seinen Texten immer wieder die Folgen des Mauerfalls thematisiert. Meine erste Frage an ihn war, wie er denn den Wahlabend am 18. März 1990 erlebt hat.
Ingo Schulze: Ich habe den Wahlabend erlebt, indem wir unsere Zeitung hergestellt haben. Die musste immer Montag früh fertig sein, und dadurch waren wir in Altenburg in einem klitzekleinen Raum, sehr viele Leute, es kamen immer mehr dazu. Und als die ersten Hochrechnungen kamen, gab es ein Riesengelächter, weil man das gar nicht geglaubt hätte. Die sagten, das sind ja Leute, die haben von gar nichts eine Ahnung. Und dann schien sich ja diese Hochrechnung, die bewahrheiteten sich immer mehr, und das war dann schon ein ziemlicher Schock, weil wir hatten gedacht, unser Neues Forum, oder dann vielleicht die neu gegründete SPD, das wären so die zwei bestimmenden Parteien oder Bewegungen werden. Aber dass das Neue Forum so völlig hinten runterfällt – ich glaube, wir hatten 2,9 Prozent – und dass die SPD auch nicht so gut abschneidet, dafür aber diese Blockflöten von der CDU, das war ein Schock. Die, die im Oktober '89 noch auf der anderen Seite gesessen haben, die waren plötzlich die Wahlsieger.
Kitzler: Die Volkskammerwahl 1990 war ja nicht nur die erste und letzte freie Wahl der DDR, sie war auch eine Abstimmung über den Weg zur Einheit. Viele Menschen in der DDR wollten die schnelle Einheit und die schnelle Einführung der D-Mark und haben die Parteien gewählt, die das versprochen haben. Sie auch?
Schulze: Nein. Ich habe wie gesagt das Neue Forum damals gewählt, und ich meine, auch diese CDU, die Kohl dann an sein Herz gedrückt hatte – auch de Maizière hatte, glaube ich, noch im Februar von einem wärmeren Sozialismus gesprochen -, das kam jetzt ziemlich überraschend, diese Verbindung, dass sich die West-CDU mit der Ost-CDU so arrangiert. Das war am Anfang gar nicht abzusehen. Das ist natürlich auch der Weg des geringsten Widerstands gewesen, wenn man so einer Bevölkerung, die jahrzehntelang Mangel gewöhnt war, praktisch die D-Mark schnell verspricht und eine Einheit, und das hat sich halt bitter gerächt.
Kitzler: Viele Menschen haben ja damals gesagt, viele Beobachter, dass nicht die Menschen in der DDR bei den Wahlen gewonnen haben und die neuen Politiker dort, sondern Helmut Kohl in Bonn. Stimmt das?
Schulze: Nein, nein. Es waren ja die Ostdeutschen, die gewählt haben. Es sind 93 Prozent zur Wahl gegangen. Aber man hat eben gerne an den Weihnachtsmann geglaubt, und Kohl hat den Weihnachtsmann gegeben.
Kitzler: "Wiedervereinigung – ein Wort, zwei Lügen", hat Ihr ostdeutscher Schriftstellerkollege Thomas Brussig im "Cicero" geschrieben, im Mai 2009, und damit meinte er auch die Volkskammerwahl. Würden Sie so weit gehen, das auch so zu sehen?
Schulze: Es war ja keine Wiedervereinigung, es war ein Beitritt. Das muss man einfach sagen. Das steht ja auch überall und Schäuble, der das damals ausgehandelt hat, sagt das ja auch. Es ist keine Vereinigung, es ist ein Beitritt. Und wenn man das unter diesem Gesichtspunkt sieht, dass der Osten dem Westen beitritt, dann ist das eine klare Sache. Aber das ist ja nicht das, was wir gewollt haben. Es ging ja schon um eine Vereinigung.
Kitzler: Viele Kritiker des Prozesses der Vereinigung sagen ja, das westdeutsche System sei den Ostdeutschen einfach übergestülpt worden. War das auch schon 1990 bei der Volkskammerwahl so und damals hatten die Menschen nur kein Problem damit?
Schulze: Es ist natürlich sehr vieles attraktiv, dass man eine Demokratie bekommt und natürlich auch einen sozialen Wohlstand. Nur es war natürlich sehr kurzsichtig zu sagen, wir führen die D-Mark ein und dann passiert das Wirtschaftswunder. Jeder hätte wissen können – und wir haben das auch versucht zu sagen, aber es hat einem ja keiner geglaubt -, der eigene Betrieb, der kann nicht einfach so in D-Mark weiterzahlen, das ist unrealistisch. Aber das hat man dann angefangen, ein paar Monate später irgendwie zu begreifen, aber dann war eigentlich schon so viel den Bach runtergegangen, es sind ja doch 70 bis 80 Prozent der Industrialisierung im Osten gewesen, und das hat nicht nur mit der maroden Industrie zu tun.
Kitzler: Im März 1990 – das war ja auch eine seltsame Situation, Sie haben das als Journalist erlebt -, damals 93 Prozent Wahlbeteiligung, das haben Sie angesprochen, und gleichzeitig haben die Meisten gehofft, dass es die letzte Wahl in der DDR ist. Das war doch seltsam, oder?
Schulze: Ich habe nicht gehofft, dass es die letzte Wahl in der DDR ist, weil ich dachte, man muss den Ostdeutschen einfach schon mal mehr abverlangen. Das wäre damals notwendig gewesen, dass man erst mal eine eigene Konsolidierung hinbekommt, dass man die Macht, die man sozusagen erobert hat, jetzt auch nutzt. Das wäre für beide Deutschlands gut gewesen. Ich sehe ja '89/'90 auch immer mehr als eine verpasste Chance des Westens, wirklich ein paar Reformen einzuleiten.
Kitzler: Spannend ist, wenn man sich das Ergebnis der linken Parteien damals anschaut. Die SPD kam im März 1990 auf 22 Prozent, der SED-Nachfolger PDS auf 14 Prozent. Das ist zumindest grob auch das Ergebnis, dass SPD und Die Linke bei der Bundestagswahl im September 2009 eingefahren haben. Sind das auch noch Nachwirkungen des Einheitsprozesses?
Schulze: Na ja, wie gesagt: Das ist ein Beitritt gewesen und damals wollte eigentlich keiner was mehr von der SED wissen. Das waren, glaube ich, damals so die Mitglieder, die da auch vielleicht noch gewählt haben. Aber ich fand schon verblüffend, dass die neu gegründete SPD hinter der alten CDU so zurückgefallen ist. Es scheint ja überhaupt in Deutschland so zu sein, dass es doch eine sehr polarisierte Gesellschaft ist, die eine Hälfte eher schwarz-gelb und die andere Hälfte rot-rot-grün. Das scheint eine Konstante zu sein.
Kitzler: Der Schriftsteller Ingo Schulze über die ersten freien Wahlen in der DDR, heute vor genau 20 Jahren. Vielen Dank fürs Gespräch und einen schönen Tag.
Schulze: Danke, gleichfalls.
Aufregende Zeiten waren das vor 20 Jahren. Der Fall der Mauer war gerade erst etwas mehr als vier Monate her, und weil die DDR-Bürger die freien Wahlen so sehr wollten, musste der eigentlich geplante Termin sogar vorverlegt werden. Es waren die ersten und es blieben die einzigen freien Wahlen in der DDR. - Darüber habe ich mit dem Schriftsteller Ingo Schulze gesprochen, er hat in seinen Texten immer wieder die Folgen des Mauerfalls thematisiert. Meine erste Frage an ihn war, wie er denn den Wahlabend am 18. März 1990 erlebt hat.
Ingo Schulze: Ich habe den Wahlabend erlebt, indem wir unsere Zeitung hergestellt haben. Die musste immer Montag früh fertig sein, und dadurch waren wir in Altenburg in einem klitzekleinen Raum, sehr viele Leute, es kamen immer mehr dazu. Und als die ersten Hochrechnungen kamen, gab es ein Riesengelächter, weil man das gar nicht geglaubt hätte. Die sagten, das sind ja Leute, die haben von gar nichts eine Ahnung. Und dann schien sich ja diese Hochrechnung, die bewahrheiteten sich immer mehr, und das war dann schon ein ziemlicher Schock, weil wir hatten gedacht, unser Neues Forum, oder dann vielleicht die neu gegründete SPD, das wären so die zwei bestimmenden Parteien oder Bewegungen werden. Aber dass das Neue Forum so völlig hinten runterfällt – ich glaube, wir hatten 2,9 Prozent – und dass die SPD auch nicht so gut abschneidet, dafür aber diese Blockflöten von der CDU, das war ein Schock. Die, die im Oktober '89 noch auf der anderen Seite gesessen haben, die waren plötzlich die Wahlsieger.
Kitzler: Die Volkskammerwahl 1990 war ja nicht nur die erste und letzte freie Wahl der DDR, sie war auch eine Abstimmung über den Weg zur Einheit. Viele Menschen in der DDR wollten die schnelle Einheit und die schnelle Einführung der D-Mark und haben die Parteien gewählt, die das versprochen haben. Sie auch?
Schulze: Nein. Ich habe wie gesagt das Neue Forum damals gewählt, und ich meine, auch diese CDU, die Kohl dann an sein Herz gedrückt hatte – auch de Maizière hatte, glaube ich, noch im Februar von einem wärmeren Sozialismus gesprochen -, das kam jetzt ziemlich überraschend, diese Verbindung, dass sich die West-CDU mit der Ost-CDU so arrangiert. Das war am Anfang gar nicht abzusehen. Das ist natürlich auch der Weg des geringsten Widerstands gewesen, wenn man so einer Bevölkerung, die jahrzehntelang Mangel gewöhnt war, praktisch die D-Mark schnell verspricht und eine Einheit, und das hat sich halt bitter gerächt.
Kitzler: Viele Menschen haben ja damals gesagt, viele Beobachter, dass nicht die Menschen in der DDR bei den Wahlen gewonnen haben und die neuen Politiker dort, sondern Helmut Kohl in Bonn. Stimmt das?
Schulze: Nein, nein. Es waren ja die Ostdeutschen, die gewählt haben. Es sind 93 Prozent zur Wahl gegangen. Aber man hat eben gerne an den Weihnachtsmann geglaubt, und Kohl hat den Weihnachtsmann gegeben.
Kitzler: "Wiedervereinigung – ein Wort, zwei Lügen", hat Ihr ostdeutscher Schriftstellerkollege Thomas Brussig im "Cicero" geschrieben, im Mai 2009, und damit meinte er auch die Volkskammerwahl. Würden Sie so weit gehen, das auch so zu sehen?
Schulze: Es war ja keine Wiedervereinigung, es war ein Beitritt. Das muss man einfach sagen. Das steht ja auch überall und Schäuble, der das damals ausgehandelt hat, sagt das ja auch. Es ist keine Vereinigung, es ist ein Beitritt. Und wenn man das unter diesem Gesichtspunkt sieht, dass der Osten dem Westen beitritt, dann ist das eine klare Sache. Aber das ist ja nicht das, was wir gewollt haben. Es ging ja schon um eine Vereinigung.
Kitzler: Viele Kritiker des Prozesses der Vereinigung sagen ja, das westdeutsche System sei den Ostdeutschen einfach übergestülpt worden. War das auch schon 1990 bei der Volkskammerwahl so und damals hatten die Menschen nur kein Problem damit?
Schulze: Es ist natürlich sehr vieles attraktiv, dass man eine Demokratie bekommt und natürlich auch einen sozialen Wohlstand. Nur es war natürlich sehr kurzsichtig zu sagen, wir führen die D-Mark ein und dann passiert das Wirtschaftswunder. Jeder hätte wissen können – und wir haben das auch versucht zu sagen, aber es hat einem ja keiner geglaubt -, der eigene Betrieb, der kann nicht einfach so in D-Mark weiterzahlen, das ist unrealistisch. Aber das hat man dann angefangen, ein paar Monate später irgendwie zu begreifen, aber dann war eigentlich schon so viel den Bach runtergegangen, es sind ja doch 70 bis 80 Prozent der Industrialisierung im Osten gewesen, und das hat nicht nur mit der maroden Industrie zu tun.
Kitzler: Im März 1990 – das war ja auch eine seltsame Situation, Sie haben das als Journalist erlebt -, damals 93 Prozent Wahlbeteiligung, das haben Sie angesprochen, und gleichzeitig haben die Meisten gehofft, dass es die letzte Wahl in der DDR ist. Das war doch seltsam, oder?
Schulze: Ich habe nicht gehofft, dass es die letzte Wahl in der DDR ist, weil ich dachte, man muss den Ostdeutschen einfach schon mal mehr abverlangen. Das wäre damals notwendig gewesen, dass man erst mal eine eigene Konsolidierung hinbekommt, dass man die Macht, die man sozusagen erobert hat, jetzt auch nutzt. Das wäre für beide Deutschlands gut gewesen. Ich sehe ja '89/'90 auch immer mehr als eine verpasste Chance des Westens, wirklich ein paar Reformen einzuleiten.
Kitzler: Spannend ist, wenn man sich das Ergebnis der linken Parteien damals anschaut. Die SPD kam im März 1990 auf 22 Prozent, der SED-Nachfolger PDS auf 14 Prozent. Das ist zumindest grob auch das Ergebnis, dass SPD und Die Linke bei der Bundestagswahl im September 2009 eingefahren haben. Sind das auch noch Nachwirkungen des Einheitsprozesses?
Schulze: Na ja, wie gesagt: Das ist ein Beitritt gewesen und damals wollte eigentlich keiner was mehr von der SED wissen. Das waren, glaube ich, damals so die Mitglieder, die da auch vielleicht noch gewählt haben. Aber ich fand schon verblüffend, dass die neu gegründete SPD hinter der alten CDU so zurückgefallen ist. Es scheint ja überhaupt in Deutschland so zu sein, dass es doch eine sehr polarisierte Gesellschaft ist, die eine Hälfte eher schwarz-gelb und die andere Hälfte rot-rot-grün. Das scheint eine Konstante zu sein.
Kitzler: Der Schriftsteller Ingo Schulze über die ersten freien Wahlen in der DDR, heute vor genau 20 Jahren. Vielen Dank fürs Gespräch und einen schönen Tag.
Schulze: Danke, gleichfalls.