"Es war nicht schön, der Sohn von Alice Miller zu sein"
Alice Miller gilt als die Kämpferin für die Würde des Kindes und gegen Misshandlungen. Ihr eigener Sohn Martin jedoch litt sehr unter ihrer Rücksichts- und Herzlosigkeit. Er erklärt es damit, dass sie ihre im Krieg gewählte Überlebensstrategie nicht ablegen und ihre Traumata nicht bewältigt habe.
Liane von Billerbeck: Die Psychotherapeutin Alice Miller gilt als eine der Vorreiterinnen im Kampf um die Würde des Kindes gegen Misshandlungen und sexualisierte Gewalt. Ihre Bücher, insbesondere "Das Drama des begabten Kindes" und "Die Suche nach dem wahren Selbst" wurden Weltbestseller und gingen hart ins Gericht mit der traditionellen Pädagogik. Alice Miller hat die heutige Idee von Erziehung beeinflusst und geprägt.
Einer breiten Öffentlichkeit viel weniger bekannt jedoch ist ihre eigene Biografie. 1923 in Polen geboren, in eine orthodoxe jüdische Familie, die Familie wurde von den Nazis verfolgt, der Vater ermordet, während Miller versteckt überlebte. Dennoch war von der Traumatisierung als Verfolgte und Überlebende Jüdin nach Millers Neuanfang in der Schweiz und nach ihrem Ruhm keine Rede.
Dass dieses Trauma dennoch weiter wirkte und ihrem eigenen Kind eine alles andere als glückliche Kindheit beschert hat, das erzählt jetzt der Sohn Martin Miller in seinem gerade erschienenen Buch "Das wahre Drama des begabten Kindes" heißt es, "Die Tragödie Alice Millers". Martin Miller ist jetzt bei uns im Studio, herzlich willkommen!
Martin Miller: Danke, dass ich kommen konnte!
von Billerbeck: "Es war nicht schön, der Sohn von Alice Miller zu sein, im Gegenteil, und trotzdem war meine Mutter eine große Kindheitsforscherin", habe ich da gelesen. Wenn der Sohn dieser großen Kindheitsforscherin ein Buch schreibt, da erwartet oder befürchtet man eine Abrechnung mit dieser vor drei Jahren gestorbenen Mutter. Vom Ton her ist das aber ein fast nüchternes Buch. Wie schwer ist Ihnen das gefallen?
Miller: Als ich das begonnen habe vom Konzept her, habe ich natürlich schon diese Rachegefühle, und die sind ganz spontan hochgekommen, hab ich diese Rachegefühle gehabt. Und ich habe dann zufälligerweise die Sendung der Kohl-Brüder mit Markus Lanz gesehen, und da bin ich erschrocken, als ich gesehen habe, wie die über ihren Vater und wie sie da in dieser Situation mit der Aufarbeitung ihres Erlebens gegenüber ihrem Vater umgegangen sind. Und ich habe mir gedacht, nein, das darf ich so nicht machen.
Und ich habe mir da, weil ich ja auch professionell als Therapeut arbeite und auch dank meiner Lektorin, die doch mich sehr gut geführt hat, würde ich heute sagen: Wenn man solche Rachegefühle hat und ein Abrechnungsbuch schreiben will, dann ist man immer noch in dieser kindlichen, wütenden Position steckengeblieben.
Und auf der anderen Seite der Skala geht es ja um die Lobhudelei. Das könnte nämlich auch passieren, nicht nur ein böses Buch. Sondern man könnte eigentlich seine Eltern nur gut sehen, idealisieren. Das sind beides eigentlich sehr kindliche, infantile Verhaltensmuster.
Und mir ist es gelungen, auf eine erwachsene Art, auf Augenhöhe mit meiner Mutter, dieses Buch zu schreiben. Und so konnte ich auch verschiedene Perspektiven einbringen, sei das als Therapeut, sei das als Fachmann, sei das auch als Sohn, der etwas erlebt hat, aber der Erwachsene vertritt das Kind. Das ist eigentlich auch ein Therapieziel.
von Billerbeck: Nun müsste man ja schildern, was da eigentlich geschehen ist. 1950 wird ein Kind geboren in Zürich, es nimmt die mütterliche Brust nicht, es wird weggegeben zu einer Bekannten. Als der Junge sechs ist, wird eine Schwester geboren mit Down-Syndrom. Er, der Sohn, der Bettnässer kommt ins Heim, wo die Eltern ihn nie besuchen, nicht mal am ersten Schultag. Mit acht kommt er zurück in die Familie, fühlt sich als Ausländer, die Eltern sprechen miteinander polnisch, und mit 17 bittet er darum, ins Internat zu kommen, das katholisch und hart ist, aber immer noch besser als die Familienhölle. Das könnte eine Fallgeschichte aus der Praxis der berühmten Psychologin Alice Miller sein, das war aber Ihr Leben, Herr Miller. Da müssen Sie sie doch gehasst haben.
Miller: Ich denke, wenn man von Hassgefühlen spricht, muss man sich immer klar bewusst sein, dass solche Gefühle jemanden auffressen. Und ich denke, das Gegenteil von Hass ist ja nicht Verzeihen, aber ich denke, wenn man im Prinzip die Stärke hat, sich mit den Realitäten, so wie sie sind, auseinanderzusetzen und die als Realität zu akzeptieren, kann man auch verstehen. Und ich denke, indem ich diese Biografie auch aus der Perspektive meiner Mutter verstanden habe, konnte ich mich distanzieren und ich konnte mich lösen.
Also, ich würde sagen, das Allerwichtigste ist, wenn man nicht in den Hassgefühlen stecken bleiben will, die unwahrscheinlich selbstdestruktiv sind, muss man in der Lage sein, sich zu lösen. Also das heißt, ich in meiner Erwachsenenfunktion und ich in meinem erwachsenen Selbstverständnis bin eigentlich der heutige liebevolle Ansprechpartner für das, was in meinem Inneren psychisch passiert. Und ich denke, dann habe ich auch diese Hassgefühle nicht.
Und im Übrigen: Ich habe eigentlich nie Hassgefühle gehabt meinen Eltern gegenüber, auch wenn die noch so schlimm waren. Aber ich bin stinkesauer geworden oder wütend, aber konnte diese Wut auch nicht artikulieren. Diese Verletzungen, die tun immer noch weh, aber man geht heute anders damit um.
von Billerbeck: In Ihrem Buch habe ich gelesen, dass Sie wussten, dass Ihre Mutter bis zu ihrem Tode peinlichst darauf geachtet hat, dass nichts Persönliches von ihr an die Öffentlichkeit dringt. Aber wenn man die Biografie Ihrer Mutter liest, und die kommt ja vor in Ihrem Buch, dann hat man doch das Gefühl, diese Alice Miller war ein Opfer, eine Überlebende der Verfolgung. Ihr Vater ist von den Nazis ermordet worden, viele Bekannte, Millionen Juden – was um alles in der Welt hat sie gefürchtet?
Miller: Man muss das von einer ganz anderen Seite her betrachten. Jemand, der in einer ganz bestimmten Art und Weise, ich will mal sagen, eine Strategie entwickelt hatte, zu überleben, der kann, wenn das vorüber ist, nicht einfach so aussteigen. Meine Mutter konnte nicht ihr Trauma verarbeiten. Heute haben wir Möglichkeiten, aber auch die werden noch viel zu wenig genutzt.
Und man muss es so verstehen, dass Menschen so in diesem Muster drinstecken und je mehr sie dann auch wieder im normalen Leben leben, sämtliche Impulse, die von der Außenwelt kommen, werden eigentlich immer mehr in dieses bekannte Muster eingewoben, und es wird eigentlich immer schlimmer. Also das heißt, meine Mutter konnte nie mehr später, bis zu ihrem Tod, aus diesem Muster aussteigen. Und das hat natürlich im Umgang mit mir oder mit anderen Menschen brutalste und schlimmste Konsequenzen.
Und solche Menschen werden dann auch mit der Zeit destruktiv. Und ich hab da schon eine ganze Portion davon mitbekommen. Aber ich denke, sie hat sicher ab und zu ein schlechtes Gewissen gehabt, aber dieses Verhaltensmuster war so stark, das heißt auch, die damit verbundenen Ängste, und das war eigentlich die Leitschnur, nach der sie gelebt hat.
von Billerbeck: Nun ist ja inzwischen Einiges erforscht, man weiß, welche Rolle verdrängte Traumata aus Verfolgung und Krieg spielen, und zwar auch für die nächste und sogar übernächste Generation, also die Kinder und Enkel. Ihre Mutter wusste ja auch um die Wirkung von Verdrängung solcher Traumata. Wieso hat sie das für sich selbst nicht erkennen können? Sie war ja eine Fachfrau.
Miller: Sie wissen ja, dass Theorie und Praxis oft nicht miteinander kompatibel sind. Verstehen Sie, meine Mutter hatte geistig eine gewisse Freiheit, konnte darüber sprechen, aber durch diese Abspaltung, das war für sie so normal, dass sie in diesem Schema drin lebte.
Es gab viele Möglichkeiten, wo sie auch dieses Verhalten oder dieses Leben, obwohl das mit früher was zu tun hatte, so für sie eigentlich normal war, dass es ihr nie aufgefallen ist, dass sie ein Trauma verdrängen würde. Und gegen Ende des Lebens, als dieses Trauma unter Umständen aktiviert wurde wie immer wieder, aber wo sie es hätte merken können, hat sie natürlich irrsinnig stark oder sehr stark ihre eigene Familie ins Visier genommen oder mich oder meinen Vater, mit dem sie eigentlich nichts mehr zu tun hatte. Der war schon '99 gestorben, und immer noch hat er nachgewirkt.
von Billerbeck: Es war ja so, dass einmal, als Sie selbst in eine Krise gerieten, Sie, der Sohn, und sich psychologische Hilfe holen wollten, da hat ihre Mutter eine Art psychologischen Guru empfohlen, Konrad Stettbacher, bei einer Schülerin waren Sie dann in Therapie, und die Tonbandaufzeichnungen, die dabei angefertigt wurden, die gingen dann an Stettbacher, und der besprach sie mit Ihrer Mutter. Das ist doch der doppelte Verrat. Da hat die Mutter verraten und die Therapeutin – konnten Sie damit leben?
Miller: Nein. Also ich habe im Nachhinein mich dann sehr intensiv mit Sekten und mit Sektenopfern beschäftigt. Und ich muss sagen, ich betrachte mich da eindeutig als Opfer in einer sektenähnlichen Organisation. Und ich verstehe viele Leute, jeder sagt, aber das ist doch eigentlich logisch, da kannst du doch aussteigen, da kannst du doch machen, was du willst - man ist dermaßen hilflos, man ist dermaßen gefangen, man hat keine Chance, da herauszukommen. Ich weiß selber nicht, wie es mir am Schluss gelungen ist, mich da noch durchzusetzen.
Und meine Mutter hat sich eigentlich nie echt entschuldigt, sie hat sich nie erkundigt, wie ist es dir eigentlich dort ergangen. Sie hat im Prinzip sich selber wieder den Kopf aus der Schlinge gezogen und ist wieder zur Tagesordnung übergegangen.
Ich selber habe Jahre gebraucht, bis ich dieses Verfolgungstrauma verarbeitet habe. Und ich muss sagen, also, ich verstehe heute viele Menschen, die Opfer von Sekten werden. Man wird das manchmal, ohne dass man es merkt. Und man kann auch nichts dagegen machen.
von Billerbeck: Das sagt Martin Miller, der Sohn der berühmten Psychologin Alice Miller, dessen Buch "Das wahre Drama des begabten Kindes. Die Tragödie Alice Millers" soeben im Kreuz-Verlag erschienen ist. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Miller: Gern geschehen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Einer breiten Öffentlichkeit viel weniger bekannt jedoch ist ihre eigene Biografie. 1923 in Polen geboren, in eine orthodoxe jüdische Familie, die Familie wurde von den Nazis verfolgt, der Vater ermordet, während Miller versteckt überlebte. Dennoch war von der Traumatisierung als Verfolgte und Überlebende Jüdin nach Millers Neuanfang in der Schweiz und nach ihrem Ruhm keine Rede.
Dass dieses Trauma dennoch weiter wirkte und ihrem eigenen Kind eine alles andere als glückliche Kindheit beschert hat, das erzählt jetzt der Sohn Martin Miller in seinem gerade erschienenen Buch "Das wahre Drama des begabten Kindes" heißt es, "Die Tragödie Alice Millers". Martin Miller ist jetzt bei uns im Studio, herzlich willkommen!
Martin Miller: Danke, dass ich kommen konnte!
von Billerbeck: "Es war nicht schön, der Sohn von Alice Miller zu sein, im Gegenteil, und trotzdem war meine Mutter eine große Kindheitsforscherin", habe ich da gelesen. Wenn der Sohn dieser großen Kindheitsforscherin ein Buch schreibt, da erwartet oder befürchtet man eine Abrechnung mit dieser vor drei Jahren gestorbenen Mutter. Vom Ton her ist das aber ein fast nüchternes Buch. Wie schwer ist Ihnen das gefallen?
Miller: Als ich das begonnen habe vom Konzept her, habe ich natürlich schon diese Rachegefühle, und die sind ganz spontan hochgekommen, hab ich diese Rachegefühle gehabt. Und ich habe dann zufälligerweise die Sendung der Kohl-Brüder mit Markus Lanz gesehen, und da bin ich erschrocken, als ich gesehen habe, wie die über ihren Vater und wie sie da in dieser Situation mit der Aufarbeitung ihres Erlebens gegenüber ihrem Vater umgegangen sind. Und ich habe mir gedacht, nein, das darf ich so nicht machen.
Und ich habe mir da, weil ich ja auch professionell als Therapeut arbeite und auch dank meiner Lektorin, die doch mich sehr gut geführt hat, würde ich heute sagen: Wenn man solche Rachegefühle hat und ein Abrechnungsbuch schreiben will, dann ist man immer noch in dieser kindlichen, wütenden Position steckengeblieben.
Und auf der anderen Seite der Skala geht es ja um die Lobhudelei. Das könnte nämlich auch passieren, nicht nur ein böses Buch. Sondern man könnte eigentlich seine Eltern nur gut sehen, idealisieren. Das sind beides eigentlich sehr kindliche, infantile Verhaltensmuster.
Und mir ist es gelungen, auf eine erwachsene Art, auf Augenhöhe mit meiner Mutter, dieses Buch zu schreiben. Und so konnte ich auch verschiedene Perspektiven einbringen, sei das als Therapeut, sei das als Fachmann, sei das auch als Sohn, der etwas erlebt hat, aber der Erwachsene vertritt das Kind. Das ist eigentlich auch ein Therapieziel.
von Billerbeck: Nun müsste man ja schildern, was da eigentlich geschehen ist. 1950 wird ein Kind geboren in Zürich, es nimmt die mütterliche Brust nicht, es wird weggegeben zu einer Bekannten. Als der Junge sechs ist, wird eine Schwester geboren mit Down-Syndrom. Er, der Sohn, der Bettnässer kommt ins Heim, wo die Eltern ihn nie besuchen, nicht mal am ersten Schultag. Mit acht kommt er zurück in die Familie, fühlt sich als Ausländer, die Eltern sprechen miteinander polnisch, und mit 17 bittet er darum, ins Internat zu kommen, das katholisch und hart ist, aber immer noch besser als die Familienhölle. Das könnte eine Fallgeschichte aus der Praxis der berühmten Psychologin Alice Miller sein, das war aber Ihr Leben, Herr Miller. Da müssen Sie sie doch gehasst haben.
Miller: Ich denke, wenn man von Hassgefühlen spricht, muss man sich immer klar bewusst sein, dass solche Gefühle jemanden auffressen. Und ich denke, das Gegenteil von Hass ist ja nicht Verzeihen, aber ich denke, wenn man im Prinzip die Stärke hat, sich mit den Realitäten, so wie sie sind, auseinanderzusetzen und die als Realität zu akzeptieren, kann man auch verstehen. Und ich denke, indem ich diese Biografie auch aus der Perspektive meiner Mutter verstanden habe, konnte ich mich distanzieren und ich konnte mich lösen.
Also, ich würde sagen, das Allerwichtigste ist, wenn man nicht in den Hassgefühlen stecken bleiben will, die unwahrscheinlich selbstdestruktiv sind, muss man in der Lage sein, sich zu lösen. Also das heißt, ich in meiner Erwachsenenfunktion und ich in meinem erwachsenen Selbstverständnis bin eigentlich der heutige liebevolle Ansprechpartner für das, was in meinem Inneren psychisch passiert. Und ich denke, dann habe ich auch diese Hassgefühle nicht.
Und im Übrigen: Ich habe eigentlich nie Hassgefühle gehabt meinen Eltern gegenüber, auch wenn die noch so schlimm waren. Aber ich bin stinkesauer geworden oder wütend, aber konnte diese Wut auch nicht artikulieren. Diese Verletzungen, die tun immer noch weh, aber man geht heute anders damit um.
von Billerbeck: In Ihrem Buch habe ich gelesen, dass Sie wussten, dass Ihre Mutter bis zu ihrem Tode peinlichst darauf geachtet hat, dass nichts Persönliches von ihr an die Öffentlichkeit dringt. Aber wenn man die Biografie Ihrer Mutter liest, und die kommt ja vor in Ihrem Buch, dann hat man doch das Gefühl, diese Alice Miller war ein Opfer, eine Überlebende der Verfolgung. Ihr Vater ist von den Nazis ermordet worden, viele Bekannte, Millionen Juden – was um alles in der Welt hat sie gefürchtet?
Miller: Man muss das von einer ganz anderen Seite her betrachten. Jemand, der in einer ganz bestimmten Art und Weise, ich will mal sagen, eine Strategie entwickelt hatte, zu überleben, der kann, wenn das vorüber ist, nicht einfach so aussteigen. Meine Mutter konnte nicht ihr Trauma verarbeiten. Heute haben wir Möglichkeiten, aber auch die werden noch viel zu wenig genutzt.
Und man muss es so verstehen, dass Menschen so in diesem Muster drinstecken und je mehr sie dann auch wieder im normalen Leben leben, sämtliche Impulse, die von der Außenwelt kommen, werden eigentlich immer mehr in dieses bekannte Muster eingewoben, und es wird eigentlich immer schlimmer. Also das heißt, meine Mutter konnte nie mehr später, bis zu ihrem Tod, aus diesem Muster aussteigen. Und das hat natürlich im Umgang mit mir oder mit anderen Menschen brutalste und schlimmste Konsequenzen.
Und solche Menschen werden dann auch mit der Zeit destruktiv. Und ich hab da schon eine ganze Portion davon mitbekommen. Aber ich denke, sie hat sicher ab und zu ein schlechtes Gewissen gehabt, aber dieses Verhaltensmuster war so stark, das heißt auch, die damit verbundenen Ängste, und das war eigentlich die Leitschnur, nach der sie gelebt hat.
von Billerbeck: Nun ist ja inzwischen Einiges erforscht, man weiß, welche Rolle verdrängte Traumata aus Verfolgung und Krieg spielen, und zwar auch für die nächste und sogar übernächste Generation, also die Kinder und Enkel. Ihre Mutter wusste ja auch um die Wirkung von Verdrängung solcher Traumata. Wieso hat sie das für sich selbst nicht erkennen können? Sie war ja eine Fachfrau.
Miller: Sie wissen ja, dass Theorie und Praxis oft nicht miteinander kompatibel sind. Verstehen Sie, meine Mutter hatte geistig eine gewisse Freiheit, konnte darüber sprechen, aber durch diese Abspaltung, das war für sie so normal, dass sie in diesem Schema drin lebte.
Es gab viele Möglichkeiten, wo sie auch dieses Verhalten oder dieses Leben, obwohl das mit früher was zu tun hatte, so für sie eigentlich normal war, dass es ihr nie aufgefallen ist, dass sie ein Trauma verdrängen würde. Und gegen Ende des Lebens, als dieses Trauma unter Umständen aktiviert wurde wie immer wieder, aber wo sie es hätte merken können, hat sie natürlich irrsinnig stark oder sehr stark ihre eigene Familie ins Visier genommen oder mich oder meinen Vater, mit dem sie eigentlich nichts mehr zu tun hatte. Der war schon '99 gestorben, und immer noch hat er nachgewirkt.
von Billerbeck: Es war ja so, dass einmal, als Sie selbst in eine Krise gerieten, Sie, der Sohn, und sich psychologische Hilfe holen wollten, da hat ihre Mutter eine Art psychologischen Guru empfohlen, Konrad Stettbacher, bei einer Schülerin waren Sie dann in Therapie, und die Tonbandaufzeichnungen, die dabei angefertigt wurden, die gingen dann an Stettbacher, und der besprach sie mit Ihrer Mutter. Das ist doch der doppelte Verrat. Da hat die Mutter verraten und die Therapeutin – konnten Sie damit leben?
Miller: Nein. Also ich habe im Nachhinein mich dann sehr intensiv mit Sekten und mit Sektenopfern beschäftigt. Und ich muss sagen, ich betrachte mich da eindeutig als Opfer in einer sektenähnlichen Organisation. Und ich verstehe viele Leute, jeder sagt, aber das ist doch eigentlich logisch, da kannst du doch aussteigen, da kannst du doch machen, was du willst - man ist dermaßen hilflos, man ist dermaßen gefangen, man hat keine Chance, da herauszukommen. Ich weiß selber nicht, wie es mir am Schluss gelungen ist, mich da noch durchzusetzen.
Und meine Mutter hat sich eigentlich nie echt entschuldigt, sie hat sich nie erkundigt, wie ist es dir eigentlich dort ergangen. Sie hat im Prinzip sich selber wieder den Kopf aus der Schlinge gezogen und ist wieder zur Tagesordnung übergegangen.
Ich selber habe Jahre gebraucht, bis ich dieses Verfolgungstrauma verarbeitet habe. Und ich muss sagen, also, ich verstehe heute viele Menschen, die Opfer von Sekten werden. Man wird das manchmal, ohne dass man es merkt. Und man kann auch nichts dagegen machen.
von Billerbeck: Das sagt Martin Miller, der Sohn der berühmten Psychologin Alice Miller, dessen Buch "Das wahre Drama des begabten Kindes. Die Tragödie Alice Millers" soeben im Kreuz-Verlag erschienen ist. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Miller: Gern geschehen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.