"Es war richtig, dass ich diesen Brief geschrieben habe"
Es gab helle Wut, heftige Anfeindungen und viel Unterstützung. Im Januar machte Pater Klaus Mertes den sexuellen Missbrauch von Lehrern an Schülern an seinem Gymnasium "Canisius-Kolleg" in Berlin publik. Heute ist er froh, dass er die Opfer aus ihrem Schweigen geholt hat.
Andreas Müller: "Mit tiefer Erschütterung und Scham habe ich diese entsetzlichen, nicht nur vereinzelten, sondern systematischen und jahrelangen Übergriffe zur Kenntnis genommen", schrieb Pater Klaus Mertes, amtierender Rektor des Berliner Canisius-Kollegs im Januar dieses Jahres in einem Brief an 600 ehemalige Schüler und machte damit den sexuellen Missbrauch von Lehrern an Schülern des Elitegymnasiums publik.
Was folgte, war ein gewaltiger Skandal, der die katholische Kirche hierzulande erschütterte, der den Augsburger Bischof Mixa das Amt kostete, und der eine neue heftige Debatte über den Umgang der katholischen Kirche mit Sexualität entfachte. Pater Mertes ist jetzt am Telefon. Ich grüße Sie, schönen guten Tag!
Klaus Mertes: Guten Tag!
Müller: Hat es Sie überrascht oder vielleicht erschreckt, als Sie merkten, was für eine Lawine Sie da losgetreten haben?
Mertes: Dass die Lawine so groß geworden ist, hat mich überrascht, aber nicht deswegen, weil ich überrascht gewesen wäre über die hohe Zahl von Missbräuchen, denn das ist ja schon seit Jahren bekannt, dass das Missbrauchsthema ein großes Thema ist, sondern eher, dass mein Brief ausgerechnet eine solche Wirkung dann haben würde.
Müller: Haben die Ereignisse und die Erkenntnisse des vergangenen Jahres Ihren Blick auf die katholische Kirche verändert?
Mertes: Ja, allein schon deswegen, weil natürlich es die katholische Kirche selbst doch gewaltig durchgerüttelt und verändert hat. Aber mein Blick hat sich auch dahingehend verändert, dass ich mehr begreife heute als vor einem Jahr, dass die Kirche nicht nur aus Hierarchie besteht, sondern eben wirklich aus der Gemeinschaft aller Gläubigen.
Müller: Hat der Blick auf die Jesuiten sich ebenfalls verändert?
Mertes: Ja, natürlich. Wenn Sie zum Beispiel wie in meinem Falle eben auch durch die Faszination von Jesuiten selbst Jesuit geworden sind und dann eben lesen, dass darunter eben auch Missbrauchstäter waren, dann bedeutet es etwas für Sie persönlich, und so ist es bei mir eben auch der Fall gewesen.
Müller: Im Bistum Augsburg, wo Bischof Mixa wirkte, hat es eine Verdoppelung der Austritte aus der katholischen Kirche gegeben. In Berlin hingegen hat sich die Zahl kaum erhöht. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Mertes: Also ich höre diese Zahlen jetzt zum ersten Mal, ehrlich gesagt, aber vielleicht, meine spontane Antwort darauf wäre, vielleicht deswegen, weil in einem klassischen katholischen Milieu wie in Augsburg die Erschütterung vielleicht noch größer ist, weil das Kirchenbild bis dahin doch noch ungefragter war als hier in einer Stadt wie Berlin, in der die Kirche sowieso eine sehr exponierte Stellung innerhalb einer säkularisierten Umwelt hat.
Müller: Wie sind Sie persönlich überhaupt mit dieser Welle des Grauens fertig geworden? Es gab ja stets neue Meldungen im Verlauf des Jahres über sexuelle Missbrauchsfälle, im Frühjahr wusste man dann, dass es in 20 von 27 deutschen Bistümern so etwas gegeben hat.
Mertes: Ja, wie bin ich selbst damit persönlich fertig geworden? Also zuerst einmal ist es natürlich das Allerwichtigste für mich gewesen, gute Freunde zu haben, mit denen ich über diese Dinge sprechen konnte. Das Zweite ist, zu verzichten auf schnelle Antworten, sondern einfach zuerst einmal die Realität wahrzunehmen, so wie sie ist, und dann den Schritt oder die Erkenntnis, die man hat, dann aufzugreifen und reifen zu lassen, wenn es denn eben soweit ist. Und ansonsten war es für mich wichtig, immer wieder zurückzukehren zur Ursprungssituation, um mir klar zu machen: Es war richtig, dass ich diesen Brief geschrieben habe, denn alles andere wäre unangemessen gewesen und hätte die Opfer wieder ins Schweigen gedrückt.
Müller: Es gab ja in der Öffentlichkeit viel Lob für Ihre Ehrlichkeit und Ihren Mut. Hat es denn aber auch Anfeindungen aus der Kirche heraus etwa gegeben?
Mertes: Also ich habe Lob gehört und Anfeindungen, beides. Ich habe auch nicht so viel Zeit gehabt, immer dauernd zu hören, was über mich gesagt wird, weil ich mitten in diesem Sturm natürlich vor allem das Wichtigste im Blick haben musste, nämlich auf der einen Seite die Missbrauchsopfer selbst, für die ich hier als Rektor des Canisius-kollegs Verantwortung trage, und dann natürlich die heutigen Schüler und die heutigen Eltern und die heutigen Lehrer.
Es hat Anfeindungen gegeben, sowohl hier in der Stadt selbst. Es hat ja Vorwürfe gegen meine Person gegeben, ich hätte viel zu spät reagiert, die … es hat sogar eine richtige Kampagne phasenweise gegen mich gegeben. Und es hat die Anfeindungen natürlich auch aus der Kirche gegeben, die mich für einen Nestbeschmutzer halten oder ähnliches.
Müller: Also da gab es dann gar kein Verständnis?
Mertes: Nein, helle Wut natürlich.
Müller: In Deutschlandradio Kultur spreche ich mit Pater Klaus Mertes vom Berliner Canisius-kolleg, wo im Januar dieses Jahres bekannt wurde, dass dort Schüler Opfer von sexuellem Missbrauch durch Lehrer geworden waren. Was ist mit Ihrer Schule passiert? Das ist ja ohne Frage eine Eliteeinrichtung, viele frühere Absolventen sind in führenden Positionen in Politik und Wirtschaft etwa tätig. Ist der gute Ruf nachhaltig beschädigt?
Mertes: Also erstens einmal mag ich das Wort Eliteschule überhaupt nicht, weil der Begriff in Deutschland sozial besetzt ist. Unsere Schule ist offen für alle Berliner und Berlinerinnen aus allen Schichten. Die Frage des Rufes der Schule ist eine sekundäre Frage. Die ist für mich in dem Augenblick nicht mehr zentral, wo es darum geht, Opfern die Möglichkeit geben, zu sprechen und sie auch anzuhören. Und wenn die Wahrheit, die sie zu sagen haben, eben bitter ist, dann ist sie eben bitter. Der Imageverlust kann nicht ein leitendes Kriterium sein für die Frage, wie ich mich in diesem Falle verhalten soll.
Müller: Wie haben Eltern und Schüler, die jetzt an der Schule sind, auf diesen Schock reagiert, auch so übers Jahr gesehen? Was hat sich da entwickelt?
Mertes: Also Eltern und Schüler waren natürlich am Anfang schockiert auf je unterschiedliche Weise. Ich habe dann aber von den Eltern und von den Schülern eine große Unterstützung für den Kurs des offenen Umgangs mit der Wahrheit gefunden. Natürlich verändert es auch die Schule, insbesondere deswegen, weil natürlich die Schule jetzt ein neues Thema hat, wie ja die gesamte schulische Öffentlichkeit in Deutschland inzwischen, nämlich: Wie steht es mit unserem Hinschauen auf Gewalt? Und insofern ist eine solche Aufdeckung natürlich auch eine riesige Chance für eine Schule, sich selbst innerlich noch mal zu erneuern und bei Schlüsselthemen der Beziehung zwischen Lehrern und Schülern eine neue Aufmerksamkeit zu finden und auch eine neue Sprache zu finden.
Müller: Wie gehen Sie damit um, was passiert dort? Ist das etwas, was als fließender Prozess stattfindet? Gibt es Gesprächsgruppen? Wie muss man sich das vorstellen?
Mertes: Also in der ersten Phase hat es natürlich unglaublich viele Gespräche gegeben, allein schon am ersten Tag musste ich ja die total überraschte Schülerschaft in unsere Turnhalle versammeln und dann vor 850 Schülerinnen und Schülern im Alter zwischen zehn bis 19 Jahren erklären, was ein sexueller Missbrauch ist. Das ist eine Situation, auf die man sich überhaupt gar nicht vorbereiten kann, wie sowieso das allermeiste, was wir jetzt erlebt haben in den letzten Monaten, etwas ist, worauf man sich nicht vorbereiten kann.
Im zweiten Schritt ist es dann ganz wichtig, sich schnelle Antworten zu verkneifen, also mit pädagogischen Schnellschüssen zu kommen, also mit schnell hervorgezauberten Präventionskonzepten, um dann zu meinen, damit sei die Sache erledigt. Dazu ist das Problem viel zu tief.
Der zweite Schritt ist natürlich insbesondere für ein Kollegium auch die Verunsicherung, das Thema verunsichert massiv, weil in dem Moment, wo solche Gewalttaten bekannt werden, Präventionsfragen aufkommen, bei denen Lehrer dann auch oft das Gefühl haben, dass sie jetzt als Lehrer einfach unter Generalverdacht gestellt werden, oder als katholische Priester unter Generalverdacht gestellt werden. Und das ist ein ganz wichtiger Prozess, Präventionsfragestellungen überhaupt zu akzeptieren als eine ganz wichtige pädagogische Fragestellung, die nichts mit einer Generalverdächtigung von ganzen Berufen zu tun hat. Das wäre ja unangemessen.
Und ansonsten entsteht dann ein Prozess, in dem man auch auf die tiefen Dimensionen dieser Fragestellung kommt: Wie steht es denn mit unserem Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen Lehrern und Schülern? Wie steht es denn mit dem Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen Schülern und Schülern, Gewalt zwischen Schülern? Wie reagieren wir als Schule, wenn ein Lehrer hört, dass ein Familienmissbrauch stattfindet? Was gibt es da für Verfahren? Unglaublich viele Fragestellungen, die natürlich dann auch in Fortbildungsmaßnahmen, in Konferenzen besprochen werden und die einen Prozess einleiten, mit dem wir erst gerade begonnen haben.
Müller: Und wie ist die Stimmung heute an der Schule?
Mertes: Die Stimmung an der Schule ist gut, wir sind froh über dieses Jahr. Wir sind insbesondere froh darüber, dass eben jetzt ganz viele ehemalige Schüler, die bisher geschwiegen haben, eben auch zurückgekehrt sind in die schulische Öffentlichkeit. Bei unserem Ehemaligentreffen sind eben auch ehemalige Schüler gewesen, die seit 30 Jahren die Schule nicht mehr betreten haben.
Zwischen ehemaligen Schülern, die betroffen sind, und solchen, die nicht betroffen sind, haben Gespräche stattgefunden, die auch sehr viel zur Vertiefung und Reflexion der eigenen Schulzeit beigetragen haben, wo sich ehemalige Schüler auch gefragt haben, warum haben wir denn damals nichts gesehen? Also das ist ein ganz großer Prozess, der, wenn man ihn angeht, eben auch wirklich unglaublich bereichernd ist, wenn auch zugleich natürlich unglaublich schmerzhaft.
Müller: Es gab ein Angebot der Jesuiten an Betroffene, dass es Schadenersatzzahlungen geben sollte. Daraus ist bislang noch nichts geworden. Es ist bislang nichts passiert. Warum ist das so?
Mertes: Also erstens einmal, der Schaden lässt sich ja gar nicht ersetzen, das wäre anmaßend, sondern wir haben uns entschlossen, eine pauschale Zahlung anzubieten, durch die das Leiden anerkannt wird, weil die Opfer ja zu Recht sagen, eine Entschuldigung allein reicht nicht, sondern die Entschuldigung muss auch irgendwie was kosten. Das ist richtig.
Wir sind jetzt so weit, dass wir damit vorgeprescht sind, von anderer Seite her sind wir dann ja auch massiv kritisiert worden dafür, dass wir vorgeprescht sind. Wir warten jetzt noch einmal auf die Sitzung, die im Januar in der Deutschen Bischofskonferenz stattfinden wird, weil wir natürlich ein großes Interesse daran haben, hier auch wirklich gemeinsam mit anderen Orden und der katholischen Kirche voranzuschreiten. Die staatlichen Institutionen schweigen ja noch vollkommen zu diesem Thema.
Müller: Das war der Rektor des Berliner Canisius-Kollegs Pater Klaus Mertes. Er hatte im Januar dieses Jahres Fälle von sexuellem Missbrauch von Lehrern an Schülern an der Schule öffentlich gemacht und damit eine Lawine losgetreten, die die katholische Kirche nachhaltig erschüttert hat. Haben Sie vielen Dank!
Was folgte, war ein gewaltiger Skandal, der die katholische Kirche hierzulande erschütterte, der den Augsburger Bischof Mixa das Amt kostete, und der eine neue heftige Debatte über den Umgang der katholischen Kirche mit Sexualität entfachte. Pater Mertes ist jetzt am Telefon. Ich grüße Sie, schönen guten Tag!
Klaus Mertes: Guten Tag!
Müller: Hat es Sie überrascht oder vielleicht erschreckt, als Sie merkten, was für eine Lawine Sie da losgetreten haben?
Mertes: Dass die Lawine so groß geworden ist, hat mich überrascht, aber nicht deswegen, weil ich überrascht gewesen wäre über die hohe Zahl von Missbräuchen, denn das ist ja schon seit Jahren bekannt, dass das Missbrauchsthema ein großes Thema ist, sondern eher, dass mein Brief ausgerechnet eine solche Wirkung dann haben würde.
Müller: Haben die Ereignisse und die Erkenntnisse des vergangenen Jahres Ihren Blick auf die katholische Kirche verändert?
Mertes: Ja, allein schon deswegen, weil natürlich es die katholische Kirche selbst doch gewaltig durchgerüttelt und verändert hat. Aber mein Blick hat sich auch dahingehend verändert, dass ich mehr begreife heute als vor einem Jahr, dass die Kirche nicht nur aus Hierarchie besteht, sondern eben wirklich aus der Gemeinschaft aller Gläubigen.
Müller: Hat der Blick auf die Jesuiten sich ebenfalls verändert?
Mertes: Ja, natürlich. Wenn Sie zum Beispiel wie in meinem Falle eben auch durch die Faszination von Jesuiten selbst Jesuit geworden sind und dann eben lesen, dass darunter eben auch Missbrauchstäter waren, dann bedeutet es etwas für Sie persönlich, und so ist es bei mir eben auch der Fall gewesen.
Müller: Im Bistum Augsburg, wo Bischof Mixa wirkte, hat es eine Verdoppelung der Austritte aus der katholischen Kirche gegeben. In Berlin hingegen hat sich die Zahl kaum erhöht. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Mertes: Also ich höre diese Zahlen jetzt zum ersten Mal, ehrlich gesagt, aber vielleicht, meine spontane Antwort darauf wäre, vielleicht deswegen, weil in einem klassischen katholischen Milieu wie in Augsburg die Erschütterung vielleicht noch größer ist, weil das Kirchenbild bis dahin doch noch ungefragter war als hier in einer Stadt wie Berlin, in der die Kirche sowieso eine sehr exponierte Stellung innerhalb einer säkularisierten Umwelt hat.
Müller: Wie sind Sie persönlich überhaupt mit dieser Welle des Grauens fertig geworden? Es gab ja stets neue Meldungen im Verlauf des Jahres über sexuelle Missbrauchsfälle, im Frühjahr wusste man dann, dass es in 20 von 27 deutschen Bistümern so etwas gegeben hat.
Mertes: Ja, wie bin ich selbst damit persönlich fertig geworden? Also zuerst einmal ist es natürlich das Allerwichtigste für mich gewesen, gute Freunde zu haben, mit denen ich über diese Dinge sprechen konnte. Das Zweite ist, zu verzichten auf schnelle Antworten, sondern einfach zuerst einmal die Realität wahrzunehmen, so wie sie ist, und dann den Schritt oder die Erkenntnis, die man hat, dann aufzugreifen und reifen zu lassen, wenn es denn eben soweit ist. Und ansonsten war es für mich wichtig, immer wieder zurückzukehren zur Ursprungssituation, um mir klar zu machen: Es war richtig, dass ich diesen Brief geschrieben habe, denn alles andere wäre unangemessen gewesen und hätte die Opfer wieder ins Schweigen gedrückt.
Müller: Es gab ja in der Öffentlichkeit viel Lob für Ihre Ehrlichkeit und Ihren Mut. Hat es denn aber auch Anfeindungen aus der Kirche heraus etwa gegeben?
Mertes: Also ich habe Lob gehört und Anfeindungen, beides. Ich habe auch nicht so viel Zeit gehabt, immer dauernd zu hören, was über mich gesagt wird, weil ich mitten in diesem Sturm natürlich vor allem das Wichtigste im Blick haben musste, nämlich auf der einen Seite die Missbrauchsopfer selbst, für die ich hier als Rektor des Canisius-kollegs Verantwortung trage, und dann natürlich die heutigen Schüler und die heutigen Eltern und die heutigen Lehrer.
Es hat Anfeindungen gegeben, sowohl hier in der Stadt selbst. Es hat ja Vorwürfe gegen meine Person gegeben, ich hätte viel zu spät reagiert, die … es hat sogar eine richtige Kampagne phasenweise gegen mich gegeben. Und es hat die Anfeindungen natürlich auch aus der Kirche gegeben, die mich für einen Nestbeschmutzer halten oder ähnliches.
Müller: Also da gab es dann gar kein Verständnis?
Mertes: Nein, helle Wut natürlich.
Müller: In Deutschlandradio Kultur spreche ich mit Pater Klaus Mertes vom Berliner Canisius-kolleg, wo im Januar dieses Jahres bekannt wurde, dass dort Schüler Opfer von sexuellem Missbrauch durch Lehrer geworden waren. Was ist mit Ihrer Schule passiert? Das ist ja ohne Frage eine Eliteeinrichtung, viele frühere Absolventen sind in führenden Positionen in Politik und Wirtschaft etwa tätig. Ist der gute Ruf nachhaltig beschädigt?
Mertes: Also erstens einmal mag ich das Wort Eliteschule überhaupt nicht, weil der Begriff in Deutschland sozial besetzt ist. Unsere Schule ist offen für alle Berliner und Berlinerinnen aus allen Schichten. Die Frage des Rufes der Schule ist eine sekundäre Frage. Die ist für mich in dem Augenblick nicht mehr zentral, wo es darum geht, Opfern die Möglichkeit geben, zu sprechen und sie auch anzuhören. Und wenn die Wahrheit, die sie zu sagen haben, eben bitter ist, dann ist sie eben bitter. Der Imageverlust kann nicht ein leitendes Kriterium sein für die Frage, wie ich mich in diesem Falle verhalten soll.
Müller: Wie haben Eltern und Schüler, die jetzt an der Schule sind, auf diesen Schock reagiert, auch so übers Jahr gesehen? Was hat sich da entwickelt?
Mertes: Also Eltern und Schüler waren natürlich am Anfang schockiert auf je unterschiedliche Weise. Ich habe dann aber von den Eltern und von den Schülern eine große Unterstützung für den Kurs des offenen Umgangs mit der Wahrheit gefunden. Natürlich verändert es auch die Schule, insbesondere deswegen, weil natürlich die Schule jetzt ein neues Thema hat, wie ja die gesamte schulische Öffentlichkeit in Deutschland inzwischen, nämlich: Wie steht es mit unserem Hinschauen auf Gewalt? Und insofern ist eine solche Aufdeckung natürlich auch eine riesige Chance für eine Schule, sich selbst innerlich noch mal zu erneuern und bei Schlüsselthemen der Beziehung zwischen Lehrern und Schülern eine neue Aufmerksamkeit zu finden und auch eine neue Sprache zu finden.
Müller: Wie gehen Sie damit um, was passiert dort? Ist das etwas, was als fließender Prozess stattfindet? Gibt es Gesprächsgruppen? Wie muss man sich das vorstellen?
Mertes: Also in der ersten Phase hat es natürlich unglaublich viele Gespräche gegeben, allein schon am ersten Tag musste ich ja die total überraschte Schülerschaft in unsere Turnhalle versammeln und dann vor 850 Schülerinnen und Schülern im Alter zwischen zehn bis 19 Jahren erklären, was ein sexueller Missbrauch ist. Das ist eine Situation, auf die man sich überhaupt gar nicht vorbereiten kann, wie sowieso das allermeiste, was wir jetzt erlebt haben in den letzten Monaten, etwas ist, worauf man sich nicht vorbereiten kann.
Im zweiten Schritt ist es dann ganz wichtig, sich schnelle Antworten zu verkneifen, also mit pädagogischen Schnellschüssen zu kommen, also mit schnell hervorgezauberten Präventionskonzepten, um dann zu meinen, damit sei die Sache erledigt. Dazu ist das Problem viel zu tief.
Der zweite Schritt ist natürlich insbesondere für ein Kollegium auch die Verunsicherung, das Thema verunsichert massiv, weil in dem Moment, wo solche Gewalttaten bekannt werden, Präventionsfragen aufkommen, bei denen Lehrer dann auch oft das Gefühl haben, dass sie jetzt als Lehrer einfach unter Generalverdacht gestellt werden, oder als katholische Priester unter Generalverdacht gestellt werden. Und das ist ein ganz wichtiger Prozess, Präventionsfragestellungen überhaupt zu akzeptieren als eine ganz wichtige pädagogische Fragestellung, die nichts mit einer Generalverdächtigung von ganzen Berufen zu tun hat. Das wäre ja unangemessen.
Und ansonsten entsteht dann ein Prozess, in dem man auch auf die tiefen Dimensionen dieser Fragestellung kommt: Wie steht es denn mit unserem Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen Lehrern und Schülern? Wie steht es denn mit dem Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen Schülern und Schülern, Gewalt zwischen Schülern? Wie reagieren wir als Schule, wenn ein Lehrer hört, dass ein Familienmissbrauch stattfindet? Was gibt es da für Verfahren? Unglaublich viele Fragestellungen, die natürlich dann auch in Fortbildungsmaßnahmen, in Konferenzen besprochen werden und die einen Prozess einleiten, mit dem wir erst gerade begonnen haben.
Müller: Und wie ist die Stimmung heute an der Schule?
Mertes: Die Stimmung an der Schule ist gut, wir sind froh über dieses Jahr. Wir sind insbesondere froh darüber, dass eben jetzt ganz viele ehemalige Schüler, die bisher geschwiegen haben, eben auch zurückgekehrt sind in die schulische Öffentlichkeit. Bei unserem Ehemaligentreffen sind eben auch ehemalige Schüler gewesen, die seit 30 Jahren die Schule nicht mehr betreten haben.
Zwischen ehemaligen Schülern, die betroffen sind, und solchen, die nicht betroffen sind, haben Gespräche stattgefunden, die auch sehr viel zur Vertiefung und Reflexion der eigenen Schulzeit beigetragen haben, wo sich ehemalige Schüler auch gefragt haben, warum haben wir denn damals nichts gesehen? Also das ist ein ganz großer Prozess, der, wenn man ihn angeht, eben auch wirklich unglaublich bereichernd ist, wenn auch zugleich natürlich unglaublich schmerzhaft.
Müller: Es gab ein Angebot der Jesuiten an Betroffene, dass es Schadenersatzzahlungen geben sollte. Daraus ist bislang noch nichts geworden. Es ist bislang nichts passiert. Warum ist das so?
Mertes: Also erstens einmal, der Schaden lässt sich ja gar nicht ersetzen, das wäre anmaßend, sondern wir haben uns entschlossen, eine pauschale Zahlung anzubieten, durch die das Leiden anerkannt wird, weil die Opfer ja zu Recht sagen, eine Entschuldigung allein reicht nicht, sondern die Entschuldigung muss auch irgendwie was kosten. Das ist richtig.
Wir sind jetzt so weit, dass wir damit vorgeprescht sind, von anderer Seite her sind wir dann ja auch massiv kritisiert worden dafür, dass wir vorgeprescht sind. Wir warten jetzt noch einmal auf die Sitzung, die im Januar in der Deutschen Bischofskonferenz stattfinden wird, weil wir natürlich ein großes Interesse daran haben, hier auch wirklich gemeinsam mit anderen Orden und der katholischen Kirche voranzuschreiten. Die staatlichen Institutionen schweigen ja noch vollkommen zu diesem Thema.
Müller: Das war der Rektor des Berliner Canisius-Kollegs Pater Klaus Mertes. Er hatte im Januar dieses Jahres Fälle von sexuellem Missbrauch von Lehrern an Schülern an der Schule öffentlich gemacht und damit eine Lawine losgetreten, die die katholische Kirche nachhaltig erschüttert hat. Haben Sie vielen Dank!