Wie sich die Natur das Peenetal zurückholen darf
Zu DDR-Zeiten hatten intensive Landwirtschaft und Melioration den vermoorten Flusslauf und das Peenetal in Vorpommern stark entwässert und geschädigt. Mit fast 30 Millionen Euro sollte Tal zurück zu seiner Moor-Natur finden. Ist das gelungen?
Stolpe an der Peene ist ein Minidorf. Zivilisationslärm gibt es hier nur, wenn jemand den Fernseher zu laut stellt oder flucht, weil er über das Huckelpflaster der einzigen Straße doch mit mehr als 20 Stundenkilometern gebrettert ist. Still ist es hier allerdings nicht. Ab dem Frühjahr summt, brummt, quakt und zwitschert es. Adler schreien. Fische, Kanuten und die hier ankernde Solarboot-Flotte erzeugen sanfte Plätschergeräusche auf der Peene.
Besucher dieses Dorfes in der Nähe von Anklam sind entweder "sanfte Wassertouristen" oder sie arbeiten im hier ansässigen Naturpark-Zentrum beziehungsweise beim Zweckverband "Flusslandschaft Peenetal". Die pflegen, überwachen und setzen fort, was in der sogenannten Förderphase 1992 bis 2009 begonnen wurde: Die Renaturierung des größten zusammenhängenden Niedermoor-Gebietes Mitteleuropas entlang von 85 Flusskilometern. Von Anfang an dabei Frank Hennicke:
"Ich war zuvor Jungassistent am Zoologischen Institut in Greifswald und habe mich aufgrund einer Zeitungsannonce beworben. Ja, habe ich gedacht: Naturschutzgroßprojekt - feine Sache. Peenetal kennste wenigstens punktuell. Das wollteste schon immer mal machen; bewirbste dich mal. Ohne große Hoffnung natürlich."
Als die Natur sich wieder heilen durfte
Der Biologe erhielt den Zuschlag für eine Doppelfunktion. Er wurde wissenschaftlicher Leiter des damals deutschlandweit größten Naturschutzprojektes und zugleich Geschäftsführer des Zweckverbandes. Der sollte den Renaturierung umsetzen.
"Ich nenne das rückblickend gern 'die Partisanenzeit'."
...erinnert sich Frank Hennicke an die Anfangszeit, als im Osten auch die bundesdeutsche Naturschutz-Bürokratie erst langsam Fuß fasste.
"Ich bin hier in der ehemaligen DDR aufgewachsen; ich kannte nicht mal das Wort 'Zweckverband'. Wir sind sogar vor dem Verwaltungsgericht gelandet. Von Anfang an war Bestandteil des Projektes der Rückbau der degradierten Polder. Das war 1992 in diesem Naturschutzgroßprojekt verankert worden. Wissen Sie, aus welchem Jahr die Verwaltungsvorschrift zum Rückbau von Poldern datiert? 2001! 2001 hatte man sich in Mecklenburg dazu durchgerungen zu beschreiben, wie hier korrekterweise Polderrückbau durchzuführen ist. Naja, wir waren aber spätestens seit Ende 1995 damit befasst. Hör'n Se uff - das war schon 'ne wilde Zeit."
Peter Adomeit: "Also hier haben wir es auch wieder: Zwar 'ne andere Art, aber wenn man das Hälmchen einfach zwischen die Finger nimmt und dreht, ist es dreieckig...eine Segge...."
Auf Exkursion mit Peter Adomeit. Der Naturpark-Ranger aus Stolpe weist auf eine Beobachtungsplattform. Faszinierend der weite Blick über den aufgelassenen Polder Menzlin und die mittlerweile deltaartige Peenetal-Landschaft mit ihren neuen Vogelkolonien.
"...und so kann man über all die Jahre gut beobachten, wie sich das alles weiterentwickelt. Irgendwann wird's dann auch Moorwachstum geben. Aber dann sind wir beide schon längst erledigt.
"Wie lange, glauben Sie?"
"Unsere Kinder und Kindeskinder werden das auch nicht mehr erleben. Mehrere hundert Jahre.'"
Keine zweihundert Jahre hat es gedauert, bis das Peenetal statt einem halben Meter über dem Flussspiegel einen halben Meter darunter lag. Der Grund: das tiefschürfende Entwässern der Niedermoorböden. Es begann 1815, als das Peenetal an Preußen fiel. Der Höhepunkt: die intensive DDR-Landwirtschaft. Als die Natur hier anfangen durfte, sich großflächig selbst zu heilen, war das unterirdische Niedermoorsystem schon weitgehend zusammengesackt, erzählt Frank Hennicke, heute Leiter des Naturparkes Peenetal.
"Nun vom Naturschutz zu erwarten, dass diese immensen Schäden in zehn oder zwanzig Jahren so repariert werden können, dass der ursprüngliche Zustand von vor 200 Jahren wiederhergestellt ist, das ist dann vielleicht auch ein bisschen viel verlangt."
Dass die Natur im Anklamer Stadtbruch in unmittelbarer Nähe zum Stettiner Haff schon weiter ist, zeigt mir Willfried Lebrenz, pensionierter Maschinenbauingenieur und Hobbynaturkundler. Oft fährt der Anklamer den schmalen Weg zur Alten Fähre und zum Dorf Kamp, gelegen in jenem Gebiet, das französische Kriegsgefangenen 1871 für die landwirtschaftliche Nutzung eingedeicht und entwässert hatten.
"Herr Lebrenz, was hören wir?"
"Lachmöwen. Das ist eine Lachmöwen-Kolonie."
Soll die Renaturierung alles schöner machen?
Schon ab 1935 wurde dieses Gebiet schrittweise unter Schutz gestellt. Doch die Entscheidung kam mit dem Deichbruch nach der Sturmflut 1995. Die Behörden entschieden, die überschwemmten Wald-, Wiesen- und Waldgebiete nicht wieder zu entwässern. Zum Ärger der Kamper Milchvieh-Halter, zur Freude der Peenetal-Renaturierer.
"Ich finde die Wiedervernässung interessant aus Sicht des Artenschutzes. Das können Sie ja selber sehen, was hier an Wasservögeln umherfliegt. Das sind Gebiete, die sind wirtschaftlich nicht mehr darstellbar für die Agrarbetriebe, und ich finde, wenn der Mensch das nicht mehr benötigt, kann er es der Natur zurückgeben. Das ist hier eigentlich der ursprüngliche Zustand, das Peene-Delta."
"Gehen wir ein Stück?"
"Ja, gehen wir ein Stück..."
Hier siedelt auch die größte Kormoran-Kolonie von Mecklenburg-Vorpommern. Zu ihr gelangt man nur zu Fuß auf einem ehemaligen Bahndamm, der noch aus dem Wasser ragt. An einer flacheren Stelle erinnern kahle Baumruinen daran, dass hier einst ein prächtiger Wald lebte. Tot ist diese Gegend dennoch nicht: überall Biber-Spuren und ungezählte Mücken, hier eine sich sonnende Kreuzotter, dort der riesige Horst eines Seeadlers. Vor allem aber das Geschrei von rund 3.500 Kormoranen. So viele scheinbar nimmersatte Fischfresser – ein Ärgernis für Fischer und Angler, sagt Willfried Lebrenz, der mir später im Binnenland aufgelassene Polder und Torfstiche zeigt.
"Das da drüben sind alte Torfstiche, schätzungsweise 14 Stück. Die sind jetzt abgeriegelt worden. Man will von der Naturschutzseite her diese Gebiete wieder feuchter halten, damit sich die typische Vegetation wieder ansiedeln kann. Aber ich habe bisher eigentlich nur mitbekommen, dass die Eschen und Erlen abgestorben sind."
Tatsächlich wundern sich viele Anwohner und Besucher: Sollte durch die Renaturierung nicht alles schöner, vielfältiger werden? Nun verrecken die Bäume in den Überschwemmungsgebieten! Doch viele Baum- und Straucharten gehören eigentlich gar nicht hierher. Sie siedelten sich erst im Zuge der Entwässerung an. Auch die jetzigen Flachwasserseen sind nur eine Übergangsphase. In rund 50, 60 Jahren sollen sie verlandet und mit Moorvegetation bedeckt sein. Leider ließ das jahrzehntelange Düngen extrem viele Nährstoffe in Grundwasser und Boden zurück, sagt Willfried Lebrenz. Gift für Moorvegetation, gut für Schilf, das sich bereits epidemisch im Peenetal verbreitet.
"Ehe wir diese Nährstoffe raushaben, werden wir noch Jahrzehnte diesen Röhricht-Bewuchs haben, der ja von den Nährstoffen lebt. Und gucken Sie mal: Wenn Sie da drüben die bewirtschafteten Wiesen und Ackerflächen sehen, da erfolgt immer noch ein Nährstoffeintrag über die Düngemittel durch die Vorflutsysteme und so. Das wird sich so schnell nicht ändern."
Renaturierung kostet etwa 30 Millionen Euro
Schade, meint auch Michael Sack, Bürgermeister der 4.300-Seelen-Gemeinde Loitz am anderen, dem westlichen Teil der Peene.
"Wenn ich mir meine Bilder angucke von der Stadt: Wo früher Wiesen und Weiden waren, ist jetzt ein Schilfwald ungenutzt. De facto ist das genauso eine Monokultur wie ein Weizenfeld. Das muss man ganz deutlich sagen: Es ist eine Monokultur geworden. Vom Schilf haben Tiere nicht viel. Wir haben deutlich weniger Störche hier. Natürlich, denn die finden ja keine Wiesen mehr, wo sie ihre Frösche fangen können. Früher, wenn man sich mit den Älteren unterhält, sind das Wiesen gewesen, wo Orchideen standen, weil sie gemäht und gepflegt wurden. Das ist alles aufgegeben worden dafür, und da fragt man sich schon, ob das, was man uns mit diesem Naturschutzprojekt versprochen hat ---- 'ne Artenvielfalt, 'ne Aufwertung der Flächen - die sehen wir nicht."
Loitz zählt mit vier weiteren Städten und zwei Landkreisen zu den Gesellschaftern des Zweckverbandes "Peenetal-Landschaft". Der ist zuständig für die Folgeaufgaben des knapp 30 Millionen Euro teuren Renaturierungs-Projektes, in dem unter anderem rund 5000 ha Ackerfläche für den Polderrückbau aufgekauft und die Bewirtschafter entschädigt worden waren.
Als Verbandsvorsteher kann Michael Sack das Ansinnen der Naturschützer nachvollziehen. Als Bürgermeister hört er jedoch auch Klagen, etwa über die neuerdings extreme Vermehrung von Biber und Wildschwein. Dem geschützten Biber, der andauernd das weitverzweigte Graben- und Pumpensystem des Peenetales verstopft und gern Obstbäume wegknabbert, dürfe man kein Haar krümmen. Dem schlauen Wildschwein wiederum könne man kaum noch nachstellen. Das richtet zwar erhebliche Schäden auf den Äckern an, kann sich aber in den vielen unzugänglich gewordenen Bereichen des Peenetales hervorragend verstecken und vermehren.
"Ich weiß nicht, wie wir das Problem lösen werden, aber die Bejagbarkeit der Flächen ist eine Katastrophe und die Sorgen der Jäger wachsen, denn sie sind ja für die Wildschäden ersatzpflichtig."
Städter denken, sie sind im Zoo
Und dann die Angler. Da geht der Opa mit dem Enkel an einer Stelle angeln, die zwar auch früher schon verboten war. Doch damals regte sich niemand auf; heute muss Opa Strafe zahlen. Nur: Wenn das verbotene Angeln der Natur überhaupt nicht wehtut – warum dann Traditionen radikal abschneiden und so viele Leute gegen das gesamte Projekt aufbringen?
"Man muss differenziert betrachten. Es gibt da ja Fundamentalisten, denen ist das alles egal. Das muss der Eigentümer in Kauf nehmen, das ist sozusagen eine Soziallast." Frage: "Sind das Leute, die auch hier in der Ecke wohnen?" "Nein, das sind die Leute, die aus der Großstadt kommen und dann mit ganz blanken Augen durch die Landschaft laufen und denken, sie sind im Zoo. Und das ist ein Problem. Dieser Vollschutz, dieser Wildnisgedanke, der ja hier auch irgendwo mit lebt, der funktioniert einfach nicht, weil wir in einer Kulturlandschaft leben. Das Peenetal ist 'ne Kulturlandschaft. Das ist schwierig für manchen einzusehen, denn man muss dieses Projekt ja auch verkaufen."
Zurück in Stolpe an der Peene, wo mir Naturparkleiter Frank Hennicke stolz das kleine Einsatzboot der Parkranger zeigt.
"Also da gab es eine kleine Ausschreibung, und der Gewinner war 'PeeneLope'. Seitdem heißt unser Boot so."
Er selbst sieht auch keinen grundsätzlichen Widerspruch darin, der Natur ein gesamtes Flusstal mit mehr als 20.000 ha zurückzugeben und zugleich zu bedenken, dass auch Menschen hier leben und ihr Auskommen suchen.
"Wir sind Hotspot, was die Vogelwelt angeht. 80 Prozent aller in Mecklenburg-Vorpommern brütenden Vögel brüten bei uns im Peenetal. 40 Prozent davon stehen auf der Roten Liste. Ähnliches gilt für Pflanzen und für Falter, also Schmetterlinge. Das Ganze hat natürlich auch eine enorme touristische Wirkung. Es sicher kein Zufall, dass die Besucherzahlen mit Beginn der großflächigen Renaturierung sprunghaft gestiegen sind. Es entstand ein Netzwerk, das gut funktioniert. Wirtschaftlich waren also dieses Naturschutz-Großprojekt und der nachfolgende Naturpark ein Segen für diese Region."