"Es wird einfach wegdefiniert, dieser hohe Berg von Arbeitslosen"

Gerd Bosbach im Gespräch mit Jan-Christoph Kitzler |
Bei der Erfassung der Arbeitslosenzahlen sowie bei der Interpretation der Zahlen werde regelmäßig getrickst, sagt Gerd Bosbach, Professor für Statistik an der Fachhochschule Koblenz. Heute legt die Agentur für Arbeit ihre Arbeitslosenstatistik für den vergangenen Monat vor.
Jan-Christoph Kitzler: Heute gibt es mal wieder Schlagzeilen aus Nürnberg, heute wird die monatliche Arbeitslosenstatistik veröffentlicht, und das ist fast eine Art Ritual, wenn alle Nachrichten dann darüber berichten, wenn die Politiker, die sich mit dem deutschen Arbeitsmarkt befassen, ihre Statements abgeben. Nur eines wird an so einem Tag normalerweise nicht getan: Die Zahlen selbst werden nicht grundsätzlich infrage gezogen. Zahlen suggerieren klare Verhältnisse und messbare Ergebnisse, und deshalb sind sie besonders glaubwürdig. Doch es gibt berechtigte Gründe, die Arbeitsmarktzahlen anzuzweifeln. Darüber spreche ich jetzt mit Gerd Bosbach, er ist Professor für Mathematik an der Fachhochschule Koblenz. Schönen guten Morgen!

Gerd Bosbach: Ja, guten Morgen!

Kitzler: Was ist denn eigentlich faul an den Arbeitsmarktzahlen? Vor allem die Art, wie sie zustande kommen, oder doch eher die Art, wie sie hinterher interpretiert werden?

Bosbach: Also erst mal sollte man sich die Illusion nehmen, dass Zahlen, die jemand vorstellt, halt objektive Fakten sind. Derjenige will sich damit genauso schönfärben wie ein Bewerber, der ein Passfoto vorlegt. Und entsprechend hat er halt zwei Methoden. Er kann halt an der Erfassung etwas ändern, das passiert in absoluter Regelmäßigkeit bei der Erfassung der Arbeitslosenzahlen und im Regelfall zur Untertreibung der Zahl, und er kann bei der Interpretation der Zahlen reden, auch das ist regelmäßig zu sehen. Gehen im Winter die Arbeitslosenzahlen bergauf, dann nimmt man eher den Vergleich zum Vorjahr, weil der vielleicht nicht so schlimm aussieht wie im Vergleich zum Vormonat. Gehen die Arbeitslosenzahlen aber im Frühjahr bergab, wie sie auch wohl heute wieder bergab gehen, oder im Mai bergab gegangen sind, dann nimmt man den Vergleich zum Vormonat, weil man da besser aussieht. Diese Interpretation und Darstellung, die macht jeder, der Zahlen vorstellt, weil Sie müssen sich mal in die Situation der Bundesregierung reinversetzen, und die BA arbeitet ja für sie: sollen sie denn schlechte Zahlen vorweisen, Monat für Monat schlechte Zahlen? Da versuchen sie, doch was Schönes darzustellen.

Kitzler: Sie haben angedeutet, die Zahlen werden auch schon bei der Erhebung geschönt. Können Sie das mal konkret machen, wie das passiert?

Bosbach: Ja, das mit dem Schönen sind halt Gesetzesveränderungen, oder Verordnungsänderungen, die juristisch einwandfrei sind. Also man zählt halt Kranke nicht mit, man zählt alle Leute nicht mit, die in Weiterbildungsmaßnahmen sind, man ändert dann aber auch immer wieder, früher wurden Ein-Euro-Jober als arbeitslos gezählt, dafür wurde dann gesagt, dass diese ganze große Gruppe auch aus der Statistik rausfällt, es werden über 58-Jährige – das ist den meisten bekannt -, fast über alle über 58-Jährige zählen, obwohl sie Geld bekommen von der Bundesagentur, obwohl sie arbeiten wollen, sie zählen einfach nicht mehr mit, wenn sie ein Jahr lang halt kein Angebot mehr gehabt haben, und dafür sorgen die Bundesagenturen. Und dann gab es halt vor knapp zwei Jahren die mir bekannte letzte größere Änderung, und die zeigt, wie man denkt. Da wird nämlich gesagt, alle Arbeitslosen, die privaten Vermittlern zur Vermittlung übergeben wurden, zählen nicht mehr als arbeitslos. Und das ist nach einer Verordnung so fest definiert, dass im Sinne der Verordnung die Leute wohl richtig zählen.

Kitzler: Das heißt, es ist natürlich auch schwierig, diese Zahlen zu vergleichen, wenn immer wieder die Berechnungsgrundlagen geändert werden. – Kommen wir noch mal zu dem Umgang mit den Zahlen. Es gibt ja viele Strategien, die Arbeitslosigkeit kleinzureden. Jetzt ist immer im Gespräch der sogenannte Facharbeitermangel. Das heißt, es ist ja eigentlich eine fast positive Nachricht. Ist das auch so eine Strategie?

Bosbach: Ich halte den Facharbeitermangel für eine Mär, die aus gewissen absichtlichen Gründen in die Öffentlichkeit gebracht werden. Über die Gründe kann ich nur spekulieren, deshalb erkläre ich lieber, weshalb es eine Mär ist. Wenn es Facharbeitermangel gäbe, dann müssten die Löhne für Ingenieure steigen, dann müssten die Studierenden, die ihren Abschluss in der Tasche haben, nicht nur Praktika oder Zwei-Jahres-Verträge zu niedrigen Löhnen bekommen, denn wenn es einen Mangel gäbe, würden die Firmen um sie werben, würden ihnen Dauerverträge anbieten zu einer guten Entlohnung. All das sehen wir nicht. Wir sehen stattdessen an den Hochschulen auch gerade in den naturwissenschaftlich-technischen Bereichen riesige Mengen von Studierenden, die jetzt Jahr für Jahr ihren Abschluss machen und auf den Arbeitsmarkt kommen. Wir sehen bei der Bundesagentur für Arbeit bis auf Vulkaniseure und ein paar ganz spezielle Sorten, bis auf die sehen wir überall ein großes Angebot arbeitsloser Ingenieure, 50-Jähriger. Und jetzt mal einfach für den Bürger auch nachvollziehbar: Wenn es diesen Facharbeitermangel gäbe, dann würden doch unsere Firmen heute nach Spanien, nach Italien gehen, wo Jugendarbeitslosigkeit mit fast 50 Prozent da ist, und würden von dort aus qualifizierte Facharbeiter mitnehmen.

Kitzler: Noch kurz zum Schluss. Sind Sie auch ähnlich skeptisch, was die Vollbeschäftigung angeht? Bei den guten Arbeitsmarktzahlen ist das ja schon wieder so ein bisschen am Horizont.

Bosbach: Ja. Drei Millionen offizielle Arbeitslose und mindestens eine, eher zwei Millionen verdeckte Arbeitslose. Bei vier bis fünf Millionen Arbeitslosen sehe ich keine Vollbeschäftigung. Vollbeschäftigung wäre bei mir unter 500.000. Es wird einfach wegdefiniert, dieser hohe Berg von Arbeitslosen, auch mit der Schuldzuweisung. "Da sind sie doch selber schuld, sie könnten doch arbeiten."

Kitzler: So sieht es Gerd Bosbach, Professor für Statistik an der Fachhochschule Koblenz. Wir sprachen über den Schwindel mit den Arbeitsmarktzahlen. Vielen Dank und einen schönen Tag.

Bosbach: Danke auch!
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