Revolutionsaufruf an Russlands Frauen
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Manizha, Russlands Vertreterin beim ESC, wird im eigenen Land angefeindet, weil sie die russische Gesellschaft in Frage stellt. Die Vorgänge rund um ihr Lied sind ein Spiegelbild der russischen Verhältnisse - könnten aber auch ein Zeichen für Wandel sein.
Die Sängerin Manizha vertritt Russland beim European Song Contest (ESC) mit dem Lied "Russian Woman". Die 29-Jährige, geboren in Duschanbe, der Hauptstadt von Tadschikistan, und aufgewachsen in Moskau in einer muslimisch-liberalen Familie, ist seit ihrer Nominierung vielen Anfeindungen ausgesetzt.
Todeswünsche und Fundamentalkritik
"Im Föderationsrat, dem Oberhaus des Parlaments, gab es eine Diskussion, da ist das Lied als Blödsinn eingestuft worden", berichtet Florian Kellermann, Deutschlandradio-Korrespondent für Russland. "Eine Angehörige des Rats hat erklärt, es sei ein Angriff auf die russischen Frauen insgesamt und die russische Familie und überhaupt werde die russische Seele nicht korrekt dargestellt." Manizha verarbeite offenbar ihre persönlichen, ungeklärten Probleme, hieß es.
Noch drastischer waren die Reaktionen aus der Bevölkerung, über die Manizha selbst berichtet hat. Eine Frau wünschte ihr einen Flugzeugabsturz auf dem Weg nach Rotterdam an den Hals, wo die 65. Ausgabe des Lied-Wettbewerbs stattfindet.
Die heute 29 Jahre alte Musikerin begann ihre Karriere schon als Kind, war als Sängerin bei mehreren russischen Bands dabei, und hat auch schon in London und New York gelebt und dort ihr musikalisches Repertoire erweitert.
Gesellschaftskritik in Liedform
Kellermann betont, dass ihr Lied eine gesellschaftskritische Ausrichtung hat und vermutet darin den Grund für die heftigen Reaktionen: "Sie erwähnt Stereotype, mit denen vor allem Frauen konfrontiert werden, besonders in Russland: Dass man mit 30 ein Kind haben soll, dass man sich in einem bestimmten Alter auf bestimmte Weise kleiden soll, mit langem Rock; wenn man jünger ist, dann eben mit kurzem Rock; dass man abnehmen soll und solche Dinge."
Manizha rufe deutlich dazu auf, sich gegen Zwänge der Gesellschaft aufzulehnen, erläutert Kellermann. "Wir sind keine Herde, singt sie. Man soll nicht auf den Prinzen warten als Frau, man soll nicht beten, sondern man soll kämpfen. Und im Refrain kommt dann auf Englisch, dass jede russische Frau wissen soll: Sie kann gegen Mauern angehen. Eine sehr deutliche Botschaft: Kämpfe dagegen an, lass dich nicht in eine Rolle zwingen von der Gesellschaft."
Das offizielle Familienbild ist erzkonservativ
Es geht also um das Frauenbild, das in der russischen Gesellschaft vorherrscht und von der Politik gepflegt wird. "Die russische Staatsführung propagiert seit Jahren ein erzkonservatives Familienbild. Sie sagt, dass sich Russland genau dadurch unterscheide vom westlichen Europa." Russland habe auch die Istanbul-Konvention nicht unterzeichnet, die sich gegen Gewalt gegen Frauen richte.
Neben der Rolle der Frau geht es in Manizhas Song auch um den Umgang mit Minderheiten und deren sexueller Orientierung, so Kellermann: "Es gibt ein Gesetz, das sogenannte 'homosexuelle Propaganda' verbietet." Manizha trete hier klar für die Rechte der LGBTQI-Community ein. Und auch Xenophobie spielt bei dem Shitstorm gegen die Musikerin wohl eine Rolle: "Es gibt in Russland Vorurteile gegen Menschen aus dem Kaukasus, die angeblich Arbeitsplätze wegnehmen."
Gesellschaftlicher Wandel und der ESC
Doch Kellermann hält es auch für möglich, dass sich mit der Wahl von Manizha zur Kandidatin für Russland ein gesellschaftlicher Wandel andeutet – wie es schon mehrfach beim ESC gewesen sei, angefangen bei der israelischen Trans-Sängerin Dana International bis hin zum Erfolg vom Conchita Wurst mit ihrem Bart:
"Ich denke, das ist auf jeden Fall schon mal ein Schritt in die richtige Richtung: Denn man muss ja erst einmal feststellen, dass das staatliche russische Fernsehen dieses Lied mit in die Auswahl genommen hat. Und es hat sich durchgesetzt, es ist also angekommen bei den Zuschauern, die dann letztendlich abgestimmt haben."
Die Buchmacher glaubten zwar nicht daran, dass das Lied gewinnen werde, aber sie sähen Chancen, dass es ins Finale kommt, berichtet Kellermann. Das Lied könne durchaus eine positive Wirkung auf die russische Gesellschaft haben und einige Russinnen und Russen darin bestärken, sich gegen das Unrecht aufzulehnen.
(mfu)