Die beste Stimme macht den Zirkus nicht mit
Moderatorin Barbara Schöneberger schaute etwas verkniffen und die zweitplazierte Ann Sophie stammelte: "...fahre ich jetzt nach Wien?" Mit seinem Rücktritt beim Vorentscheid zum Eurovision Song Contest hatte Andreas Kümmert die Musikshow ordentlich aufgewirbelt.
Andreas Kümmert: "Ich möchte kurz was dazu sagen: Ich bin nicht wirklich in der Verfassung, diese Wahl anzunehmen. Ich geb meinen Titel an Ann Sophie. Ich denke einfach, dass sie viel geeigneter ist und qualifizierter ist. Ich bin nur ein kleiner Sänger."
Und damit war der Eklat da.
Also ich gucke wirklich schon viele Jahre diese Veranstaltung – sowas habe ich dabei noch nie gesehen: Fast schon eine klassische Tragödie live im Ersten Deutschen Fernsehen und nicht bei 3 sat: Im Moment der Verkündung des Sieges gibt der Sieger seinen Titel ab an die Zweitplatzierte. Andreas Kümmert, die bayerische bärtige Reinkarnation von Joe Cocker, er macht Ann Sophie, die hüftenwackelnde Hamburger Neuauflage des Frolleinwunders Frau Meyer-Landrut zur Siegerin von seinen Gnaden.
Darf der das? Und darf eigentlich die Moderatorin des Abends, Barbara Schöneberger, diese verwirrte Zweite sogleich offiziell zur Ersten machen, ohne die NDR-Verantwortlichen zu konsultieren?
"Lieber Andreas, ich merke dir an, dass du da eine Entscheidung getroffen hast, die wir jetzt auch nicht unnötig abstimmen wollen. Insofern akzeptieren wir das jetzt. Deswegen ist Ann Sophie unsere Gewinnerin des deutschen Vorentscheids 2015…"
Viele in der Hannoverschen Halle waren entsetzt, frustriert, geschockt, erst recht daheim und unterwegs in den Sozialen Netzwerken. Und wie gesagt: Vor allem verwirrt war auch die arme Ann Sophie…
"Hab ich jetzt aber… fahre ich jetzt nach Wien? / Ja, Du fährst jetzt nach Wien."
Schöneberger richtet es mal wieder
Und so war der NDR wohl froh, dass Barbara Schöneberger neben der Moderation auch gleich das Justiziariat übernommen hatte. Wenn da mal nicht Klagen eingehen von frustrierten Gebührenzahlern, die beim Voting für den Wettbewerb ja auch noch mal bezahlt hatten. Bei Twitter schrieb einer:
"Hab ich gerade 5 Euro in nen Typen beim ESC investiert, weil er so herrlich normal ist und dann die Wahl nicht annimmt?"
Aber eigentlich ging’s ja um Musik – und es gab auch gute:
"Laing" – das neo-feministische, futuristische Damenquartett aus Berlin hatte zwar die besten Performances, aber keine Chance an diesem Abend. Der natürlich von Europas Diva Nummer 1, Vorjahressiegerin Conchita Wurst eröffnet wurde. In deren Kleid passe gerade mal ein Schenkel von ihr, scherzte Barbara Schöneberger selbst…
"Und ganz ehrlich: Conchita Wurst und Babsi Fleischberger in einer Show – das ist nichts für Vegetarier, kann ich Ihnen sagen... Wir sind eigentlich der neue Musikantenstadl. Herzlich willkommen!"
Wer folgt auf Conchita Wurst?
Es ging also um die Wurst, um den Conchita-Nachfolger oder wer sich dafür in Pelle schmeißen darf für das Eurovision Song Contest Finale in Wien Ende Mai. Zu Schönebergers Stadl kamen denn auch die schönsten Musikfarben und deren Maler. "Fahrenhaidt" z.B. mit ihrem Nature Pop:
"Wir versuchen mit unserer Musik, die Natur einzufangen. Wildlandschaften umzuwandeln in Klanglandschaften."
Eis-Elfen-Ballerinas hatten "Fahrenhaidt" auf die Bühne mitgebracht. Und scheiterten damit ebenso grandios wie die Mittelalter-Truppe "Faun" mit ihren Feuerschalen und dem schalen Gefühl von Geschichtsverklärung:
"Schon damals sind die Minnesänger und fahrenden Sänger von Dorf zu Dorf gezogen und haben ihre Melodien in die Welt gebracht. Und so sind wir jetzt auch stolz, dass wir unsere Lieder und Lieder, die inspiriert sind von der Heimat und von der Natur, in die Welt tragen dürfen."
Chancenlos auch die Eurovision-typischen ganz großen Musicalballaden. Und der Kirmes-Techno von "Noize Generation", einem blutjungen DJ:
"Hallo, ich bin der Jewgeni, bin 22 Jahre alt und wohne noch bei meinen Eltern…"
und erzählt, wie er…
"…nen Muttizettel von meiner Mama gebraucht hab, um überhaupt im Club auflegen zu dürfen."
Rührende Geschichten zwischen Chaos und Clash der Kulturen – die Schöneberger hatte einen verdammt großen Laden zusammenzuhalten bei diesem deutschen Vorentscheid.
"Und ich finde, wie haben bewiesen, dass wirklich für jeden was dabei ist. Ich meine, wer hier nichts findet, ist wirklich selber Schuld."
Es war aber wieder nur die C-Klasse des deutschen Pop. Zu Stefan Raabs Bundesvision Song Contest kommt ja wenigstens die B-Klasse. Die erste Reihe hatte noch nie Lust auf diesen europäischen Sänger-Wettstreit. Was solls? Italien schickt nach Wien drei Jung-Tenöre, Finnland ein paar Hardrocker mit Down-Syndrom und Slowenien Musiker, die spielen Luft-Geige. Und wir? Die beste Stimme will nicht in diesen Zirkus. Immerhin schicken wir den besten Song dieses Vorentscheids. Auch wenn dann im Mai Käseigel und Erdbeerbowle etwas schal schmecken mit unserer Zweitsiegerin Ann Sophie.