Eshkol Nevo: "Die Wahrheit ist"
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke
dtv, München 2020
429 Seiten, 22,00 Euro
Wahr ist, was gut erzählt ist
06:33 Minuten
Der israelische Autor Eshkol Nevo berichtet aus seinem Leben in Form eines Interviews. Dabei schildert er die Geschichte einer persönlichen Krise - und macht sich auf die Suche nach der Wahrheit des Erzählens.
Eshkol Nevo ist einer der erfolgreichsten und sicherlich unterhaltsamsten israelischen Gegenwartsautoren. Spielerisch leicht, in direkter, häufig dialogischer Sprache kommen seine Texte daher, mit Humor und Ironie versetzt, aber immer auch mit kleinen Widerhaken, die bloßes Konsumieren seiner Geschichten verunmöglichen und weitere Horizonte aufreißen.
Sie erzählen etwas über unser Leben, nicht nur über das der Israelis. Nevo ist ein begnadeter Erzähler, einer, der genau weiß, wie man Spannung erzeugt und Pointen setzt, eine breite Leserschicht anspricht und dabei jedem einzelnen das Gefühl gibt, nur ihn oder sie anzusprechen. Auch Schreiben unterrichtet dieser Autor - und seine ehemalige Schülerin Ayelet Gundar-Goshen ist mittlerweile selbst erfolgreich.
Fein gesponnene Antworten
Wenn dieser Autor nun seinem neuen Roman den Titel "Die Wahrheit ist" gibt, muss man sich freuen und gleichzeitig höchst skeptisch sein. Denn hier antwortet ein Schriftsteller mit Namen Eshkol Nevo auf Interviewfragen, unter anderem solche: "Haben Sie schon immer gewusst, dass Sie Schriftsteller werden wollten? Wie autobiografisch sind Ihre Bücher? Wie bringen Sie das Familienleben mit dem Schreiben in Einklang? Wann haben Sie das letzte Mal geweint?"
Nach über vierhundert Seiten hat man fein gesponnene Antworten erhalten, ein umfassendes Bild vom Leben und der Familie des Schriftstellers erhalten, viel erfahren von Nevos Liebeslust und Liebesleid, seinen Freunden und was es heißt, derzeit in Israel zu leben. Nevo, der selbst in einer Werbeagentur gearbeitet hat, berichtet auch, wie er jahrelang den Aufstieg eines machthungrigen Politikers begleitet, indem er ihm brillante Reden und Slogans schreibt. Ob das aber die Wahrheit ist, bleibt offen.
Genau dieses postmoderne Spiel macht den Reiz und den Charme dieses Buches aus – der Autor präsentiert sich scheinbar in aller Offenheit, gibt ganz persönliche Antworten, weicht ihnen bemerkbar wieder aus, kommentiert die Fragen, gibt sich selbstkritisch, zeigt sich verletzlich und traurig, als guter Freund, Vater, Ehemann.
Tochter und Frau sind gegangen
Doch irgendwann erfährt man, dass die Fragen dieses Interviews schon vor zwei Jahren gestellt wurden und er sie erst jetzt beantwortet, weil er nichts anderes mehr geschrieben hat oder schreiben kann, da seine Tochter ihn verlassen und seine Frau ihn rausgeschmissen hat. Es ist die Geschichte einer Midlifecrisis, die Nevo Seite für Seite aufdeckt. Sein bester Freund ist an Krebs gestorben, alles, was ihm Halt gab, ist ihm entglitten – außer dem Schreiben.
Das dreht sich um sich selbst. Der Autor sucht schreibend nach seiner Identität, spielt mit Motiven und Zitaten, beschwört Erinnerungen, wechselt die Perspektiven.
Viel interessanter aber als die Frage nach den Befindlichkeiten und der Geschichte des Autors ist die nach der Wahrheit des Erzählens. Eshkol Nevos Roman ist auch eine Poetik. Wahr ist, was gut erzählt ist. Wie man gut erzählt, das zeigt der Autor tatsächlich überzeugend. Dabei kann selbst, was erfunden ist, reale Konsequenzen haben. Und sei es nur die, dass man sagt: Tolles Buch!