Eskalierende Kinder und Pädagogik

"Ein Kind ist für mich niemals Systemsprenger"

75:13 Minuten
Ein kleines, blondes Mädchen in rosa Jacke hat einen heftigen Wutanfall.
Der Moment, in dem das Fass überläuft: Helena Zengel in einer Szene aus Nora Fingscheidts "Systemsprenger". © Port au Prince Pictures/Yunus Roy Imer
Menno Baumann im Gespräch mit Timo Grampes |
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Nora Fingscheidts Film "Systemsprenger" hat die Schwierigkeiten um eskalierende Kinder eindrucksvoll ins öffentliche Bewusstsein gebracht. Der Pädagogikforscher Menno Baumann erklärt die komplexe Situation dahinter.
"Systemsprenger" - so heißt das mit vielen Preisen ausgezeichnete Spielfilmdebüt der Regisseurin Nora Fingscheidt, das seit seiner Weltpremiere auf der Berlinale 2019 für Aufsehen sorgt. Allein in Deutschland haben den Film über eine halbe Million Zuschauer gesehen, der für die Kategorie "bester internationaler Film" ins Rennen um einen Oscar gehen soll.
Vor allem hat der Film eine anhaltende Debatte ausgelöst, denn im Mittelpunkt von "Systemsprenger" steht die neunjährige Benni - intensiv dargestellt von Helena Zengel - und Benni ist ein eskalierendes Kind. Ein Kind, das auf bestimmte Situationen aggresiv reagiert und dabei sich selbst, aber auch sein familiäres, soziales und pädagogisches Umfeld gefährdet und gesteigertem Stress aussetzt. Besonders heikel: Gerade solche erhöht auf Unterstützung angewiesene Kinder wie Benni drohen durch das Raster der Kinder- und Jugendhilfe zu fallen.

Herausforderung "Systemsprenger"

Woher kommt die Aggression? Welche Emotionen, welche persönlichen Schicksale und Lebensgeschichten stehen dahinter? Wie kann man im einzelnen darauf reagieren? Wie kann man Kindern wie Benni helfen? Welche Handlungsspielräume haben Pädagoginnen und Pädagogen? Welchen Belastungen sind sie ausgesetzt? Welche Grenzen müssen sie zum Selbstschutz ziehen? Wie können Erzieherinnen und Erzieher unterstützt werden?

Das vollständige Transkript unseres Gesprächs finden Sie hier.

Antworten auf solche und ähnliche Fragen versucht Menno Baumann zu finden. Er ist Professor für Intensivpädagogik an der Fliedner-Fachhochschule Düsseldorf und forscht seit vielen Jahren zu sogenannten "Systemsprengern". Den Bezug zur Praxis hält er als Leiter des Therapeutischen Fachdienstes beim Leinerstift aufrecht.

Gesprengte Systeme - komplexe Prozesse

Fingscheidts Film hält er für eine außergewöhnlich gelungene Darstellung einer pädagogischen Krisensituation. Schon der bewusst auf die weibliche Form verzichtende Titel sei mit Bedacht gewählt: Das Wort "Systemsprenger" markiere einen Plural – und verweise darauf, dass im dargestellten Fall nicht etwa Benni als Akteurin das System sprenge, sondern dass auch Bennis Umfeld zu einer Situation beiträgt, in der das System gesprengt wird. Ein "Prozessgeschehen", wie Baumann sagt.
Darin liegt eine insbesondere für die pädagogische Strategie wichtige Markierung: Denn das eskalierende Kind ist als Indivuum mit seinen Verhaltensweisen und den daraus resultierenden pädagogischen Herausforderungen nicht gleichzusetzen. "Ein Kind ist für mich niemals Systemsprenger", erklärt Baumann.
"Das Kind, in seiner Lebensgeschichte und innerhalb der pädagogischen Hilfen, eskaliert. Das hängt von vielen Faktoren ab. Von der Biografie des Kindes, aber auch von Systembedingungen. Wenn ein Klassenlehrer das Glück hat, über Jahre dieselbe Klasse zu haben, eine gute Klassengemeinschaft mit vielleicht nur 20 statt 28 Schülern, dann kann ein verhaltensschwieriges Kind in einer solchen Klasse sicher besser zurechtkommen." Stressfaktoren hingegen, etwa eine ständig wechselnde Lehrerschaft oder allgemein schlechte Stimmung im Kollegium, können für ein Kind mit ADHS-Symptomen bereits der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt.
Baumanns Befund ist deshalb eindeutig: Der pädagogische Alltag ist strukturell nicht gut darauf eingestellt, verhaltensschwierige Kinder wie Benni aufzufangen. Der häufige Wechsel von Umfeld und Bezugspersonen erschwert die pädagogische Kontinuität und Einfühlung in die besondere Lage des Kindes: "Das System dreht an diesen Schrauben genauso heftig mit wie das Kind."
Umso nötiger ist allerdings auch das Identifizieren und Setzen von Grenzen - nicht zuletzt auch, um im Falle gewalttätiger Aggressionen die anderen Kinder, aber auch das pädagogische Personal vor körperlichen und seelischen Belastungen zu schützen.

Anatomie eines Härtefalls

Aber wie prägend sind solche Kinder und Jugendliche für den Alltag in der Kinder- und Jugendhilfe? Etwa fünf bis acht Prozent des Jugendhilfeklientel habe entsprechende Phasen, erklärt Baumann. In absoluten Zahlen seien das etwa 5000 Kinder, in denen Jungen und Mädchen annähernd gleich stark verteilt sind, mit einem leichten Überhang bei den Mädchen.
Diese Zahl klinge zwar nach wenig, "aber diese Kinder sind unglaublich präsent", da sie häufig die pädagogischen Bezugspersonen wechseln. Die Folge: "Als Pädagoge bin ich mindestens alle zwei Jahre mit einem solchen Kind massiv konfrontiert. Von daher ist das Thema in der Praxis sehr, sehr drängend."
(thg)

In dieser Ausgabe von "Stunde 1 Labor" nehmen sich Moderator Timo Grampes und Menno Baumann ausführlich Zeit um anhand dreier Fallgeschichten aus der Praxis die Komplexitäten einzelner Lebengeschichten und die Schwierigkeiten im Umgang mit eskalierenden Kindern darzustellen und mögliche Lösungswege aufzuzeigen.

Weiterführende Literaturhinweise

Menno Baumann: "Kinder, die Systeme sprengen: Band 2: Impulse, Zugangswege und hilfreiche Settingbedingungen für Jugendhilfe und Schule"
Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler 2019
178 Seiten, 18 Euro

Menno Baumann: "Kinder, die Systeme sprengen: Band 1: Wenn Jugendliche und Erziehungshilfe aneinander scheitern"
Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler 2012
222 Seiten, 24 Euro

Linktipp

Auf Youtube findet sich ein halbstündiger Videovortrag von Menno Baumann.

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