Esoterik in der Coronakrise
Religionswissenschaftler: "Krankheit gilt als selbstverschuldet"
Die Deutschen halten sich für rational. Doch nirgendwo sonst in Westeuropa gibt es so viele Ungeimpfte. Hat das auch damit zu tun, dass esoterische Bewegungen hier besonders stark sind? Fragen an den Religionswissenschaftler Andreas Grünschloß.
Julia Ley: Wir Deutschen reden gerne von Deutschland als dem „Land der Dichter und Denker“. Kann es sein, dass genau das Gegenteil wahr ist und dass wir vielleicht sogar einen besonderen Hang zu Irrationalität und Wissenschaftsskepsis haben?
Immerhin sind ja große esoterische Strömungen wie die Anthroposophie oder auch die Homöopathie in Deutschland entstanden und bis heute sehr weit verbreitet.
Andreas Grünschloß: Wenn wir jetzt – und das klingt ja bei Ihnen an – aufklärungsspezifisch für Zentraleuropa denken, dann sind natürlich auch im unmittelbaren Kontext der Aufklärung diese Strömungen Spiritismus, Okkultismus, Mesmerismus entstanden – also diese, wenn Sie so wollen, modernen esoterischen Strömungen. Die sind ja nicht antimodern, sondern sie sind geradezu ein Kind der Moderne.
Es ging da im Programm eigentlich darum, übernatürliche Phänomene erklärbar zu machen. Sie sogar womöglich durch Fotografie, durch Tonbandaufnahmen beweisbar zu machen. Da ging es um die Idee einer geradezu wissenschaftlich beweisbaren Offenbarung, einer wissenschaftlich beweisbaren Form. Das Übersinnliche, das Übernatürliche irgendwie auf Zelluloid oder auf Tonband zu bannen. Deswegen würde ich da nicht so einen Gegensatz konstruieren. Das wäre so mein erster Antwortversuch in diese Richtung.
Spiritualität mit wissenschaftlichem Anstrich
Ley: Wenn ich Sie richtig verstehe, würde das bedeuten, dass sozusagen der Spiritismus oder auch bestimmte esoterische Strömungen eigentlich versucht haben, sozusagen die Welt der Religion, das Übersinnliche, mit naturwissenschaftlichen Mitteln erfahrbar und beweisbar zu machen?
Grünschloß: Ganz genau. Es ist auch programmatisch abzulesen an den Titeln, die so Standardwerke der esoterischen und theosophischen Weltanschauung sind. Die Madame Helena Petrovna Blavatsky, gewissermaßen die Stammmutter der modernen Esoterik, hat ihr zentrales Hauptwerk untertitelt mit „Wissenschaft und Religion“.
Und dieses Motiv, wissenschaftliche Perspektivität und spirituell-religiöse, oder mal anders ausgedrückt, Technik und Religion irgendwie zusammen zu denken, wieder zusammenzubringen, darin eine Einheit, eine Wirklichkeit zu sehen, das ist ein durchgängiges Motiv auch in heutigen esoterischen Bewegungen geblieben.
Da brauchen Sie nur auf eine Esoterikmesse gehen, dann sehen Sie Computerhoroskope, computergestützte Aura-Fotografie und Ähnliches mehr, wo gerade ein ganz enger Verbund zwischen Technik, Religion oder eben Spiritualität und wissenschaftlichem Weltbild hergestellt werden kann.
Und in den Predigten oder Ansprachen von solchen Leuten taucht es natürlich dann auch wieder auf. Da wird nicht einfach von Lichtfunken gesprochen, sondern von Photonen des Lichts, die den Körper durchdringen. Man versucht gerade, durch eine wissenschaftsaffine Sprache sich weltbildhaft an das wissenschaftliche Weltbild anzudocken und diese spirituelle Weltsicht damit kompatibel zu machen oder erscheinen zu lassen.
Krankheit als Folge mangelnder geistiger Hygiene
Ley: Darauf würde ich gern gleich noch mal zu sprechen kommen, ich würde aber vorher gerne noch einen Moment bei dem teilweise sehr spezifischen Krankheitsverständnis bleiben, das es in manchen esoterischen Bewegungen gibt.
Um nochmal zurückzukommen zur Waldorfschulbewegung oder der Anthroposophie: Da schilderte zum Beispiel Anfang dieser Woche ein Autor im „Spiegel“, der selbst Schüler an einer Waldorfschule war, wie er als damals Neunt- oder Zehntklässler an einer Trauerfeier für einen verstorbenen Jungen teilnahm, einen Mitschüler, der offenbar an den Folgen einer schweren Grippe gestorben war, wohl deshalb, weil die Eltern ihn nicht ausreichend medikamentös behandeln lassen wollten.
Und er erzählt dann, wie einer der Lehrer bei dieser Trauerfeier sagt: 'Na ja, der Junge hat ja auch kurz vor seinem Tod noch im Schulunterricht nachgerechnet, wie lange er eigentlich schon lebt. Also er hat sozusagen die Tage gezählt seines eigenen Lebens'. Das wurde dann im Nachhinein als eine Art Zeichen gedeutet, das Kind wusste ja schon, dass es sterben wird, das stand sozusagen irgendwie an.
Anders gesagt: Man deutet den Tod als vorherbestimmt um, sagt vielleicht sogar in manchen Ausprägungen: Wer krank wird oder stirbt, der ist eigentlich auch bereit zu gehen. Sehen wir solche Deutungsversuche von Krankheit auch in anderen esoterischen Strömungen?
Grünschloß: Ja, das findet sich sehr häufig, dadurch, dass hier häufig ein Krankheitsbild propagiert wird, das damit zusammenhängt, dass in dem Gesamtsystem von Körper und Geist, aber vor allem eben auch auf der geistigen Dimension, eine Unstimmigkeit in der Person herrscht. Dass, wenn da nicht interveniert wird, mit letztlich geistlichen, geistigen Interventionsstrategien, der Körper zu Tode kommen wird.
Betroffenen wird Schuld an Krankheit gegeben
Also, so lapidar zu sagen, er war eben auch bereit zu gehen, ist ja eine Aussage, die Sie häufig finden, gerade jetzt im Kontext auch der Corona-Pandemie. Es gibt Aussagen von Esoteriker*innen – man kann hier fast den weiblichen Plural bilden, denn es sind sehr häufig weibliche Akteure, die etwa in YouTube-Videos oder Channel-Links auftreten –, die tatsächlich so ein Krankheitsverständnis propagieren, dass Krankheit sich im Sinne der eigenen Selbstverschuldung durch mangelnde geistige Hygiene oder gar durch karmische Schuld etabliert.
Und dann kann man natürlich in dem Moment sagen: „Du wirst, was du bist, und das, was in dir angelegt ist, kommt jetzt eben zum Ausdruck.“ Und wer sozusagen todesverfallen in seiner inneren Struktur ist, der ist dann eben auch bereit zu gehen und das ist ein ganz normaler Vorgang. Das hat natürlich so eine gewisse Kaltschnäuzigkeit zur Folge, dass den betroffenen Menschen auch noch die Schuld an der eigenen Erkrankung untergeschoben wird. Das ist aus der Zuwendungsperspektive natürlich ein sehr problematischer Gestus.
„Spirituelle Arroganz“: das Gefühl, Teil einer überlegenen Gruppe zu sein
Ley: Es gibt auch Forscher, die ein Phänomen beschrieben haben, dass sie als „spirituelle Arroganz“ bezeichnen. Dazu gab es im letzten Jahr einen größeren Aufsatz. Also mal ganz grobschlächtig zusammengefasst: Dass man das Gefühl hat, ich bin Teil einer irgendwie überlegenen Gruppierung. Ich habe Zugang vielleicht auch zu einem besonderen Wissen, vielleicht sogar zu besonderen Schutzritualen, die mich wappnen in dieser Pandemie. Nur ist das ja etwas, das sich wahrscheinlich für viele religiöse Gruppierungen konstatieren lässt.
Muss man dann nicht fast sagen, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten religiösen Gruppe, Menschen vielleicht auch grundsätzlich anfälliger macht, diese Krise nicht so ernst zu nehmen?
Grünschloß: Ja und nein, es gibt beides. In einer religionsvergleichenden Perspektive haben Sie zunächst mal recht. Vertreter*innen eines religiösen oder – wenn Sie so eher frei flottieren – eines spirituellen, esoterischen Weltbilds, die sehen ja neben der vorfindlichen materiellen Welt noch tiefergehende Dimensionen in diesem Universum und sagen auch: „Das, was wir so als materielle Oberfläche wahrnehmen, ist ja nur ein Teil der Geschichte.“
Das ist natürlich eine Vorstellung, die Sie in ganz vielen religiösen Traditionen haben, dass die Welt noch mal in Gott gegründet ist. Oder monistisch in einem göttlichen Prinzip oder einem Urgrund, Dao oder was auch immer gründet und von daher die Durchlässigkeit zu dieser eigentlich wahren Ebene ein wichtiges Instrument ist.
Und das kann dann auch für die Interventionsstrategien bei Krankheitsbekämpfung eine wichtige Rolle spielen. Nämlich, dass man dann eben sagt: Ich muss mich eigentlich nur meditativ impfen oder meditativ meine Resilienz stärken, meine spirituelle, und dann kann mir so ein albernes materielles Virus gar nichts mehr anhaben.
„Glaube ist das Hauptschutzschild“
Das finden Sie in, sagen wir, strenggläubig-christlichen Traditionen genauso wie unter fanatischen Muslimen, das ist weit verbreitet. Das finden Sie auch bei Buddhistinnen und Buddhisten hier und da, obwohl im Buddhismus erstaunlicherweise ja gar keine Leugnung der Pandemie zu beobachten ist, sondern durchgängig eigentlich Schutzmaßnahmen befürwortet und durchgeführt werden. Aber auch da gibt es hier und da Vorstellungen, dass man sagt, meditative Praxis ist eigentlich das Hauptschutzschild und dann kann uns ein Virus auch nichts mehr anhaben.
Insofern, in der Tat stimme ich Ihnen zu, esoterische oder auch traditionell religiöse Perspektiven können sagen – ich sag es mal so mit der christlichen Terminologie: „Glaube ist das Hauptschutzschild.“ Und entsprechend gibt es da auch Publikationen in der Corona-Pandemie von, ich nenne es mal, evangelikalen oder fundamentalistischen Christinnen und Christen, die genau das sagen: Wir müssen die Corona-Maßnahmen ablehnen, das ist äußerliches Gedöns. Wer wirklich fest im Glauben gegründet ist, dem kann das gar nichts anhaben.
Und so haben sich auch manche Kirchengemeinden – eben nicht von den großkirchlichen, sondern solche kleinen Gemeinschaften – trotz Corona-Maßnahmen in ihrer Lokalkirche getroffen. Und diese Treffen wurden dann zu Multispreader-Events, die entsprechend dann natürlich auch zur Rechenschaft gezogen wurden.
Meditation kann Resilienz stärken
Ley: Jetzt haben wir sehr viel über problematische spirituelle oder religiöse Deutungsmuster dieser Krise gesprochen, mich würde aber auch interessieren, gibt es denn aus Ihrer Sicht auch einen konstruktiven Umgang religiöser Akteure mit dieser Krise, und kann Religion – oder können religiöse Institutionen – da auch eine Hilfestellung leisten?
Grünschloß: Natürlich. Wir können ja anfangen bei dem Thema, was ich vorher schon mal angesprochen habe und was etwa von buddhistischer Seite, auch von manchen Esoterikern propagiert wird: Meditation als resilienzstärkende Praxis. Das ist ja durchaus nicht von der Hand zu weisen. Wir haben ja sogar in therapeutischen Zusammenhängen die Rezeption von buddhistischer Achtsamkeitsmeditation zur Stressreduktion.
Das ist ja jetzt seit zwei Jahrzehnten gut etabliert, dass man sich damit beschäftigt, Elemente meditativer Praktiken zur Stressbewältigung zu integrieren in das therapeutische Programm.
Die Krise als Gelegenheit zum Innehalten
Und das war ja auch die primäre Sache, die auch hier in Deutschland von den etablierten Großkirchen angesprochen wurde: Zu sagen, nehmt diese verordnete Zwangspause auch als Gelegenheit, mal die Spucke aus der Trompete laufen zu lassen, mal innezuhalten und sich zu fragen, was trägt mich eigentlich, wohin will ich eigentlich, wie ist mein Leben eigentlich aufgestellt? Und neu vielleicht auch in Gottvertrauen sich zu gründen. Und das trägt dann natürlich auch.
Religiosität, das ist ja auch in psychologischen Untersuchungen längst nachgewiesen, kann zur Resilienzstärkung beitragen. Glaube, Gebet, Meditation sind spirituelle Techniken, die zumindest innerpsychisch auch für den Menschen eine kräftigende Funktion haben können. Das ist überhaupt nicht von der Hand zu weisen.
Ley: Also wir haben es gehört, die Religion und religiöse Institutionen, die können eine ganz unterschiedliche Rolle und Funktion einnehmen bei der Bewältigung dieser Krise – von der Beschwörung von Feindbildern bis hin zu Resilienzstärkung und Vertrauen zu vermitteln.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.