Essay "Die Illusion der Gewissheit" von Siri Hustvedt

Körper und Geist sind untrennbar verbunden

Die US-amerikanische Schrifstellerin Siri Hustvedt
Die US-amerikanische Schrifstellerin Siri Hustvedt © picture alliance / dpa / Alejandro Garcia
Von Tobias Wenzel |
Warum bin ich "Ich" und nicht "Du"? Wie verhält sich der Geist zum Körper? Schon lange reicht es der Schriftstellerin Siri Hustvedt nicht mehr, Fiktion zu schreiben. In ihrem neuen Essay "Die Illusion der Gewissheit" geht sie philosophischen Fragen nach.
In ihrem neuen Buch "Die Illusion der Gewissheit" erinnert sich Siri Husvedt daran, wie sie als kleines Mädchen im Gras lag und über sich und die Welt nachdachte:
"Ich bewegte meine Finger und schaute sie verwundert an. Sind Zungen nicht etwas sehr Seltsames? Warum bin ich 'Ich' und nicht 'Du'?", so ein Zitat aus dem Buch.
Letztlich stellte sich das Mädchen damals schon die philosophische Frage, die Siri Hustvedt noch heute beschäftigt. Seit den Neunziger Jahren denkt sie über die biologische Dimension der menschlichen Erfahrung nach.

Was macht den Menschen aus?

Mittlerweile veröffentlicht sie wissenschaftliche Artikel und unterrichtet Ärzte in "Narrativer Psychiatrie". Mit dem Hintergrund einer Erzählerin und Geisteswissenschaftlerin blickt Hustvedt auch im Buch auf Psychiatrie, Philosophie und Neurowissenschaft.
"Je mehr ich von der Neurowissenschaft verstanden habe, desto kritischer bin ich auch geworden", sagt sie. "Da ist mir aufgefallen, dass in vielen neurowissenschaftlichen Werken ein Dualismus verborgen ist, nämlich, dass der Geist und der Körper zwei unterschiedliche Dinge sind, ganz im Sinne von René Descartes."
Und das wiederum problematisiert sie in "Die Illusion der Gewissheit". Dieser philosophische und die Skepsis betonende Essay ist keine leichte Kost. Das Buch gibt Hustvedts intellektuelle Reise wieder, auf deren Weg sie sich unter anderem gefragt hat, wie man das Wesen des Menschen angemessen beschreiben kann und wie nicht und wie sich der Geist (beziehungsweise die Seele) zum Körper (beziehungsweise zum Leib) verhält.

Das Verhältnis von Geist und Körper

"Ich habe aber nicht das Leib-Seele-Problem gelöst! Falls das jemand gehofft haben sollte", sagt sie.
Siri Hustvedt sitzt auf einem Sofa eines Berliner Hotels. Kurz davor hat sie noch den Vortrag eines Professors für psychosomatische Medizin angehört. Mit ihm teilt sie die Vorstellung, dass das Bewusstsein nicht im Gehirn allein zu lokalisieren ist, sondern vielmehr aus den wechselseitigen Beziehungen zwischen Körper, Geist und Umwelt besteht, dass man also auch nicht Körper und Geist in der Vorstellung trennen darf.
Das aber tut unter anderem der Kognitions- und Sprachwissenschaftler und Bestsellerautor Steven Pinker, ein Vertreter der evolutionären Psychologie und letztlich auch des Computationalismus:
"Demzufolge ist der Körper nur eine beliebige Sache, die Hardware für die Software des Geistes. Ich glaube, Pinker irrt gewaltig", sagt die Schriftstellerin. "Besonders in den USA ist er ein sehr populärer Autor. Seine Ideen gelten in der Bevölkerung als Wahrheiten. Er verkauft Hypothesen, als wären es absolute Wahrheiten."

Kritik an Steven Pinker

Siri Hustvedt betont in ihrem Essay stattdessen die These des so genannten Embodiment. Damit ist gemeint: Bewusstsein setzt einen Körper voraus. Und ein Körper bewegt sich nun mal in der Welt und ist deshalb nicht ohne seine Umwelt zu denken.
Das erläutert Hustvedt auch am Beispiel des Placebo-Effekts. Herkömmlich erklärt: Ein Medikament ohne Wirkstoff führt dazu, dass sich ein Patient besser fühlt. Allerdings kann diese Erklärung nicht die Kluft zwischen Körper und Geist überbrücken.
"Anders jedoch, wenn man den Placebo-Effekt als Teil der Arzt-Patienten-Beziehung versteht. Der Arzt verschreibt dem Patienten eine Tablette. Und was dann im Nervensystem des Patienten passiert, ist eine körperliche Wiederherstellung oder eine unbewusste Erinnerung von beziehungsweise an Zeiten, in denen man ein glückliches Kleinkind war, das von der Mutter gut versorgt wurde. Wenn man das so versteht, hat man es mit einer wechselseitigen Beziehung von Geist, Körper und Umwelt zu tun. Dann trennt man diese drei Bereiche nicht."

Plazenta und Gehirn

Wir alle sind aus einem anderen menschlichen Körper, aus der elementarsten und überlebenswichtigsten Umwelt, nämlich der Mutter, hervorgegangen. Das klingt trivial. Aber, sagt Siri Hustvedt, in der westlichen Philosophie spiele die Geburt überhaupt keine Rolle.
Die Plazenta wiederum ist, so Hustvedt, eine "komplexe Mittlerinstanz zwischen dem mütterlichen Gehirn und dem noch nicht ausgereiften Fötus". Sowohl das Gehirn als auch die Plazenta kann man mit Blick auf ihre Funktionen mit Begriffen wie "Botschaften, Signale, Information und Kommunikation" beschreiben.
Deshalb hält Siri Hustvedt es für zulässig, wenn man auch die Plazenta als Gehirn bezeichnet. Man könnte einwenden, dass damit der Begriff des Gehirns unzulässig erweitert und dadurch unscharf wird. Aber, sagt Hustvedt, Unschärfe muss nichts Schlechtes sein in der Wissenschaft.
Siri Hustvedt lässt sich allerdings gerne eines Besseren belehren. Und so endet ihr Essay mit einem Lob des Zweifelns. Bleibt die Frage, ob sie sich mittlerweile sicher ist, dass sie Siri Hustvedt und nicht jemand anderes ist:
"Not always!"

Siri Hustvedt: "Die Illusion der Gewissheit"
Rowohlt Verlag
414 Seiten, 24 Euro

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