Jens Jessen: "Der Deutsche - Fortpflanzung, Herdenleben, Revierverhalten"
zu Klampen 2020
128 Seiten, 16 Euro
Deutsches Unbehagen
05:07 Minuten
In seinem Essay "Der Deutsche" denkt der Zeit-Redakteur und Ex-Feuilletonchef Jens Jessen über den Zustand der deutschen Gegenwart nach. Ein gedanklich unscharfer Text, der provozieren will – und sich dann doch nicht traut.
Den Willen zur Provokation bekundet das schmale Bändchen schon im Titel: "Der Deutsche. Fortpflanzung, Herdenleben, Revierverhalten." Um den ungegenderten Deutschen soll es hier gehen – hoppla, dass sich das noch einer traut! Wir Frauen sind natürlich mitgemeint, wenn auch nicht so, wie wir uns das vielleicht wünschen würden. Was die Eigenschaften des Deutschen angeht, bleibt Jens Jessen bei den üblichen Klischees: Dem Deutschen mangelt es demnach an Eleganz und Geschmeidigkeit im Umgang mit anderen, an Ironie, Sinn für Erotik und so weiter.
An der Begabung zum Schönen mangelt es auch den deutschen Frauen, selbst wenn es sich um Schönheiten handelt: "Ihr Gang ist nicht der Gang einer schönen Frau", beklagt Jessen, "sie setzen sich nicht wie eine schöne Frau, sie biegen nicht den Hals oder schlagen die Wimpern nicht nieder, wie es möglich wäre, und bewegen die Lippen im Gespräch nicht, wie es solche Lippen gebieten müssten." Später geht es um die Segnungen der Emanzipation, da ist dann von den "stumpfen Mütter" die Rede, "die zwischen Büro und Haushalt gerade noch eine Stunde finden, um ihre Kinder zum Weinen zu bringen". Ironie des alten deutschen Mannes?
Zwischen Ironie, Zeigefinger und Empörung
Vieles in diesem Büchlein wirkt seltsam gestrig, geradezu altväterisch, um nicht zu sagen: spießig. Kaum etwas ist neu: Jessens Ärger über die hässlichen Deutschen in ihren hässlichen Städten erinnert sehr an Karl Heinz Bohrers Tiraden über deutsche Fußgängerpassagen mit ihren Currywurstbuden, Trainerhosen, ausgelatschten Turnschuhen. Der Autor deutet nicht, er konstatiert nur und lässt dabei eine leere Behauptung auf die andere folgen. Bestehen die Deutschen in ihrer Mehrzahl tatsächlich darauf, "als rührend gutmütige und bedauernswerte Geschöpfe wahrgenommen zu werden"?
Dabei geht es Jens Jessen gar nicht so sehr um den titelgebenden Deutschen, dieser dient ihm letztlich nur als Vehikel für ein Unbehagen in der deutschen Gesellschaft. Mit dem Verschwinden von Anzug und Krawatte am Arbeitsplatz habe es begonnen. Das Verdikt des Elitären komme der Verstoßung gleich in einer Gesellschaft, die das "Ideal der Gleichheit" verfolgt und jede Tradition als "bürgerlich" denunziert. Die Schuld daran gibt Jessen den Linken und Intellektuellen. Sie hätten den kleinen Mann "zum Idol verkitscht" und ihm zuliebe das allgemeine Niveau in der Kultur gesenkt: "Hochkultur ist ein Schimpfwort, aber Popkultur ist gut."
Der Text schwankt so sehr zwischen Ironie und Empörung, launiger Betrachtung, Zeigefinger und Geschwurbel ("Vielleicht ist die deutsche Identität überhaupt nur das Surrogat einer Gemeinsamkeit, die untereinander und im alltäglichen Verkehr nicht erlebt werden kann"), dass man sich beim Lesen unwillkürlich fragt: Was will der Autor mit diesem Text? Vielleicht liegt der Schlüssel in einer Fußnote: "Im Übrigen ist dieser Essay nur eine Art Vorwort – zu einem Buch, das zu schreiben mir die Nervenstärke fehlt." Hier traut sich einer nicht zu sagen, was er denkt. Die Wurzel schlechter Texte jedoch, so Stephen King in seinem Schreibratgeber, ist Angst.