Stephan Wackwitz: "Die Bilder meiner Mutter"
S. Fischer, Frankfurt/Main 2015
240 Seiten, 19,99 Euro
Der stille Heroismus der Frauen
In "Die Bilder meiner Mutter" erzählt Stephan Wackwitz von einem Frauenleben zwischen den 30er-Jahren und 1990. Die Thesen seines Essays entstehen direkt aus der Anschauung, zudem ist Wackwitz ein präziser Stilist und genauer Beobachter.
Mit "Ein unsichtbares Land" hat Stephan Wackwitz vor mehr als zehn Jahren damit begonnen, der eigenen Familiengeschichte literarisch nachzuspüren – und damit der Frage, welche innerfamiliären Konflikte und historischen Bezüge ihn selbst geprägt und zu dem gemacht haben, der er heute ist. Mit "Die Bilder meiner Mutter" setzt er seine Familienrecherche fort.
War es damals der Großvater, der als Pfarrer in Auschwitz lebte, bevor Auschwitz zum Synonym des Holocaust geworden war, so geht es nun um ein typisches Frauenleben in Deutschland in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Die "Bilder" der Mutter sind dabei durchaus doppeldeutig. Während Wackwitz 25 Jahre nach ihrem Tod sein Bild der Mutter entstehen lässt, tritt sie als Zeichnerin mit eigenen Bildern hervor, die den Band illustrieren.
Ende der 30er-Jahre lernte sie an der Berliner Letteschule den Beruf der Modezeichnerin im Geist der flotten 20er. Ihre Bilder lassen eine Aura weiblicher Autonomie und Schönheit entstehen, die bei ihr wohl mehr Wunsch als Wirklichkeit gewesen ist. Immerhin gelang ihr damit, und mit dem Sprung von Esslingen am Neckar in die Großstadt, sich von ihrem Vater zu lösen – einem jähzornigen, unberechenbaren und gewalttätigen Mann, schwäbischem Tüftler und überzeugtem Nazi.
Auch nach dem Krieg und nach ihrer Heirat verdiente sie mit ihren Zeichnungen Geld – bis ihr Mann im Goethe-Institut Karriere zu machen begann und sie wie selbstverständlich zurücktrat, ihren künstlerischen Beruf aufgab und ihn unterstützte. Mit verheerenden Folgen: Aus der geliebten Mutter wurde für den achtjährigen Sohn eine Frau von monumental schlechter Laune; die Phase der frühkindlichen Mutter-Kind-Symbiose, in der er als das "Schenie" galt, war vorbei. Ab jetzt herrschte das Realitätsprinzip. Für die Mutter war dieser Bruch vielleicht noch schlimmer als die schwere Kriegsverletzung durch Tieffliegerbeschuss. Eines ihrer Bilder zeigt sie mit bandagiertem Arm im Krankenhausbett. Die Schulter war zertrümmert, der Arm kaum noch zu gebrauchen. Sie musste auf links umlernen, entsprechend zittrig ist diese schlichte, eindrucksvolle Zeichnung.
Lebensweisheit und Lebenstugend
Wackwitz – wie sein Vater im Hauptberuf Angestellter des Goethe-Instituts, derzeit leitet er die Dependance im georgischen Tiflis – ist ein präziser Stilist und genauer Beobachter. Seine Stärke ist die Verbindung von erzählerischen und reflexiven Passagen. Thesen entstehen in diesem literarischen Essay direkt aus der Anschauung und unter der Prämisse, dass der stille Heroismus des weiblichen Daseins – mit Kunst, Mode, Kindern, Spazierengehen, Psychoanalyse, Wetter, Landschaft, Lebensweisheit und Lebensfreude – heute zu einer allgemeinen, bundesrepublikanischen Tugend geworden ist: für Frauen und Männer.
Das Leben der Mutter rekonstruiert er nicht streng chronologisch, sondern in einzelnen, thematisch orientierten Bildern. Er setzt ein mit ihrem Sterben im Jahr 1990, dem eine Hinwendung zu ökologischen, grünen Themen und die Wiederannäherung zwischen Eltern und Sohn vorausging. Er selbst hatte seine linksradikale Phase im MSB-Spartakus hinter sich gelassen. In der grün-bürgerlichen Mitte versöhnten sich die Familie und die Republik mit sich selbst.
Wackwitz erzählt diese doppelte Geschichte als Erlösung: "Wir sind die Enkel, wir haben es besser ausgefochten", schreibt er. Vielleicht geht er in der Feier der Gegenwart und ihrer postideologischen Gelassenheit ein wenig zu weit, vielleicht hat er am Ende die Mutter etwas zu sehr aus den Augen verloren. Das ändert aber nichts daran, dass ihm ein äußerst lesenswertes, kluges Buch über deutsche Geschichte und familiäre Verstrickungen gelungen ist.