Daniel Tyradellis (Hrsg.): Freundschaft. Das Buch.
Matthes & Seitz, Berlin 2015
272 Seiten, 29,90 Euro
Beziehung jenseits von Sex und Geld
Das Wesen der Freundschaft: 17 Essays versuchen in dem von David Tyradellis herausgegebenen Band, das titelgebende Phänomen zu erklären. Die Autoren liefern überraschende und inspirierende Erkenntnisse - aus historischer, soziologischer und philosophischer Sicht.
Goethe und Schiller, John Lennon und Paul McCartney, Winnetou und Old Shatterhand, Ernie und Bert. Über Jahrhunderte gaben berühmte Männer-Freundschaften im abendländischen Denken den Ton an. Heute werden Freundschaften mehr und mehr zur "Frauensache": Man denke an Fernseh-Soaps wie die amerikanische Erfolgsserie "Sex and the City", bei der eine Gruppe erfolgreicher New Yorkerinnen bei ihrer nimmermüden Suche nach dem perfekten Partner gemeinsam durch Dick und Dünn gehen.
Wenn die Liebe nicht gelingt
Wenn keine Ehemänner, Kinder oder Verwandte in Sicht sind, greifen heute solidarische Netzwerke unter Freunden, so die These des Soziologen Heinz Bude in seinem Beitrag für den Sammelband: "Freundschaft ist das, was bleibt, wenn die Liebe nicht gelingt", so Bude, der die Protagonistinnen aus "Sex and the City" daher zur "Avantgarde einer sozialen Evolution der gesellschaftlichen Verhältnisse" zählt. Doch was genau ist eigentlich Freundschaft, wie definiert sie sich?
Das Buch "Freundschaft", das anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Dresdner Hygiene-Museum jetzt im Verlag Matthes & Seitz erschienen ist, schlägt einen historischen Bogen. In seiner Einleitung schreibt Herausgeber und Kurator Daniel Tyradellis, dass in der klassischen Antike Freundschaft als politisch anzustrebende Form des gesellschaftlichen Miteinanders einst mehr galt als die Liebe. Erst unter dem Einfluss des christlichen Glaubens begann eine schrittweise Verdrängung der Freundschaft, stattdessen stieg die Liebe beim preußischen Philosophen Hegel mit dem Konzept der Kernfamilie als "Nukleus des Staates" zum gesellschaftlichen Ideal auf.
Stabilität und Freiheit zugleich
Und heute? Je instabiler moderne Paar- und Familienbeziehungen werden, desto wichtiger werden Freundschaften. Entlastet vom Ausschließlichkeits- und Verschmelzungsanspruch der Liebe bieten Freunde Stabilität und Freiheit zugleich: "Freundschaft kann als das Versprechen einer Beziehung jenseits der durch Sex vermittelten Liebesbeziehung und jenseits des durch Geld vermittelten Dienstleistungsverhältnisses gelten", resümiert der Soziologe Heinz Bude.
In 17 Essays umkreisen 15 Autoren das Thema Freundschaft aus historischer, sozialwissenschaftlicher, kunstgeschichtlicher, kulturwissenschaftlicher und philosophischer Perspektive. Dabei orientieren sich die Buchkapitel an den fünf Ausstellungsräumen – von "Befreundeten Staaten" bis zu "Friendship - Do it Yourself". Die inhaltliche Spannbreite reicht von gewagten Gastgeschenken wie einer Kettensäge der Marke "Stihl", die Gerhard Schröder einst George W. Bush überreichte, bis zum "Selfie" mit der besten Freundin im Arm, das heute millionenfach als Freundschaftsbeweis in sozialen Medien geteilt wird. Die oft überraschenden, zum Nachdenken anregenden Texte machen das Buch zu weit mehr als einem Begleitkatalog der Dresdner Ausstellung.
Gegen die Logik der Gleichmacherei
Im Zeitalter der sozialen Medien werden Freundschaften heute anhand von Algorithmen berechnet, die nach Übereinstimmungen suchen. Das Buch "Freundschaft" erinnert eindrücklich daran, dass Freunde viel mehr sind als eine Filterbubble Gleichgesinnter. Es ist ein lesenswertes Plädoyer gegen die Logik der Gleichmacherei - und eine Liebeserklärung an komplexe Freundschaften, von Goethe und Schiller bis heute.