Ferdinand von Schirach: Die Würde ist antastbar, Essays
Piper, München 2014
144 Seiten, 16,99 Euro
Es geht um's Prinzip
Darf der Staat Leben gegeneinander aufwiegen? Oder zur Lebensrettung Folter androhen? Der Anwalt und Schriftsteller Ferdinand von Schirach verteidigt in seinen Schriften die juristischen Fundamentalprinzipien der Bundesrepublik. Nun ist die Sammlung seiner im "Spiegel" veröffentlichten Essays erschienen.
Einer von Ulrike Meinhofs 39 in der Zeitschrift "konkret" veröffentlichten Polemiken und Aufsätze, die zwischen 1959 und 1969 entstanden und die erst 1979 posthum gebündelt zum Buch erschienen, entstammt der dann auch Titel gebende Satz: "Die Würde des Menschen ist antastbar". Dieser bis heute lieferbare und immer wieder neu aufgelegte Titel der nachmaligen RAF-Terroristin war also vergeben. So wählte Ferdinand von Schirach für seine Sammlung von 13 zwischen 2010 und 2013 im "Spiegel" veröffentlichten Essays die etwas kürzere Variante: "Die Würde ist antastbar". Gleichwohl ist auch hier die Anspielung an den berühmten ersten Satz des Grundgesetzes – "Die Würde des Menschen ist unantastbar" – klar zu erkennen.
Es darf als feine Ironie verstanden werden, wenn sich Schirach, der renommierte Strafverteidiger und erfolgreiche Schriftsteller, gleich im Auftaktstück seines neuen Buches mit dem Terrorismus befasst. Nicht mit dem der Rote-Armee-Fraktion freilich, sondern mit dem unserer Tage. Mit der Frage etwa, ob man eine von Flugzeug-Entführern gekaperte voll besetzte Passagiermaschine durch Abfangjäger abschießen und damit den Tod Unschuldiger billigend in Kauf nehmen darf, wenn dadurch das Leben Tausender anderer gerettet werden kann. In besagtem Fallbeispiel kündigen die Terroristen an, die Maschine auf dem Potsdamer Platz in Berlin abstürzen zu lassen. Schirachs Position ist deutlich: Die Bundesregierung beginge einen Rechtsbruch, würde sie sich zum Abschuss der gekaperten Maschine entschließen: "Wir können Leben nicht gegen Leben abwägen. (...) Der Staat kann ein Leben niemals gegen ein anderes Leben aufwiegen. Keiner kann wertvoller sein als ein anderer, eben weil Menschen keine Gegenstände sind."
"Am Ende geht es um uns selbst"
Seitdem Schirach vor gerade einmal fünf Jahren sein literarisches Debüt publizierte, ist er einer der klugen und unbeirrbaren Popularisatoren juristischer Fundamentalprinzipien in dieser Republik. In diesem Zuge wurde er auch zum unregelmäßigen Kolumnisten des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel", als der er über die Unrechtmäßigkeit der Vorratsdatenspeicherung oder des US-Gefangenenlagers Guantanamo ebenso schreibt wie über die in seinen Augen zu verurteilende angedrohte Folter im Fall Magnus Gäfgen, der den Bankierssohn Jakob von Metzlar gekidnappt und ermordet hatte: "Im Grundgesetz heißt es heute: 'Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich misshandelt werden.' Es steht noch in anderen Gesetzen: Foltern ist verboten. Punkt. Ende der Diskussion. Das gilt für den Staat immer und ausnahmslos. (...) Auch der Fürchterlichste darf niemals angetastet werden."
Schirach weiß, dass Volkes Meinung häufig anders ausfällt als die seine: "Ich bin sicher, dass über 90 Prozent für die Wiedereinführung der Todesstrafe wären." Umso vehementer fällt sein Plädoyer für das Festhalten an der menschlichen Würde aus, umso heftiger argumentiert er gegen die Befürworter der "direkten Demokratie", berge sie doch die Gefahr einer fatalen "Schwarmbösartigkeit". Im Zweifel zieht der Autor "die Strenge der Strafprozessordnung" allem anderen vor. So spricht er sich auch gegen die viel diskutierte Sicherungsverwahrung von straffällig gewordenen Kinderschändern aus: "Tatsächlich geht es nicht nur um die Sicherungsverwahrten. Es geht um das Menschenbild unseres Grundgesetzes, und am Ende geht es um uns selbst. Würde ist nichts, was verliehen wird, sie kann nicht entzogen werden."
"Verteidigung ist Kampf"
Daneben finden sich in Schirachs schmalem neuen Buch persönlich gefärbte Erinnerungen an die Zeit auf dem Jesuiteninternat St. Blasien oder an den Großvater, den "Reichsjugendführer" Baldur von Schirach, den sein Enkel kaum kannte und dessen Handeln in der NS-Zeit ihm bis heute ein Rätsel ist. Dürfte er sich ein Zeitalter auswählen, in dem er leben könnte, so würde sich Ferdinand von Schirach vermutlich für die goldenen 1920er-Jahre der Weimarer Republik entscheiden: So voller Empathie schreibt er über die in dieser Zeit wirkenden Leo Rosenthal (Gerichtsfotograf), Paul Schlesinger alias Sling (Gerichtsreporter) und den legendären Anwalt Max Alsberg (Schirachs Vorbild seit jeher). "Verteidigung ist Kampf. Kampf um die Rechte des Beschuldigten im Widerstreit mit den Organen des Staates, die dem Auftrag zur Verfolgung von Straftaten zu genügen haben", zitiert Schirach aus dem "Handbuch des Strafverteidigers". Im "Kampf" mit den "Organen des Staates" befand sich auch Ulrike Meinhof – bei ihr aber führte er in die blutige, die Menschenwürde ignorierende Irre.