Essen holen in der Parallelwelt
Die Tafeln stünden für den "Weg in ein vormodernes Almosensystem" und entließen den Staat aus der Verantwortung, kritisiert Stefan Selke. Er ist Sprecher eines Aktionsbündnisses, das auf die gesellschaftlichen Probleme aufmerksam machen möchte, die mit dem "Tafel-System" verbunden sind.
Katrin Heise: Stefan Selke ist Soziologe und Professor an der Hochschule Furtwangen. Dort untersucht er den gesellschaftlichen Wandel. Und seit Jahren beschäftigt er sich professionell mit der modernen Armenspeisung. Er hat das kritische Aktionsbündnis "20 Jahre Tafel" ins Leben gerufen und beschreibt in seinem gerade erschienenen Buch "Schamland" die Gefühle der "arm gespeisten", nämlich derjenigen, die da versorgt werden von den Tafeln. Ich grüße Sie, Herr Selke, schönen guten Morgen!
Stefan Selke: Ja, schönen guten Morgen!
Heise: Sie sind drei Jahre lang durch Deutschland gereist, haben Suppenküchen, Sozialkaufhäuser und Tafelabgabestellen besucht. Soziologie im Außendienst haben Sie das mal genannt, und Sie haben vor allem mit den Betroffenen gesprochen. Aus deren Stimmen haben Sie in Ihrem Buch einen Chor geformt, den Chor der Tafelnutzer, und der äußert seine Scham, seine Verzweiflung, seine Wut angesichts dessen, was man sich von der Tafel versorgen lassen muss. Was ist das Schlimmste daran?
Selke: Also aus meiner Sicht ist das Schlimmste an dem System der Tafeln, dass es zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist. Ich treffe immer wieder auf Menschen, die auch als Reaktion auf das Buch "Schamland" sich wundern darüber, wie kann man nur Tafeln abschaffen wollen, sie sind doch notwendig, und es gibt keine Alternative. Und meine Sichtweise auf gesellschaftlichen Wandeln ist eben eine besondere, eine Sichtweise auf schleichenden Wandel, der so langsam vonstatten geht, dass wir uns daran gewöhnen, dass wir das als Selbstverständlichkeit nehmen. Und die Tafeln sind ein sehr gutes Beispiel dafür, dass sich etwas etabliert hat, einst als Nothilfe für Obdachlose, damals hießen sie nicht Tafeln, sondern Mahlzeitnothilfen, und mittlerweile ist das wirklich ein umfassendes Zweitversorgungssystem geworden, ein System im System. Und alle Akteure, die da drauf gucken, sei es die Politik oder auch die Wirtschaft, die die Tafeln unterstützt, und auch die Menschen, die zur Tafel gehen, können sich fast ein Land ohne Tafeln gar nicht mehr vorstellen.
Heise: Aber haben Sie sich mit Ihrer Kritik nicht eigentlich den falschen Gegner ausgesucht? Weil die Tafeln, die Sie abschaffen wollen, die Tafeln sind das Symbol der Misere, nicht der Auslöser.
Selke: Also zur Klarstellung: Die Tafeln möchte ich nicht abschaffen, und das Aktionsbündnis möchte auch die Tafeln nicht abschaffen. Wir möchten einfach eine politisch gewollte, eine offene, eine transparente Diskussion, eine Debatte über die Folgen der Tafeln. Diese Debatte ist in eine Sackgasse geraten, so würde ich das bezeichnen, und zwar deswegen, weil sie meist auf der Basis von Emotionen, auf beleidigten Selbstbildern geführt wird, und überhaupt nicht auf Fakten.
Wir haben also hier so ein System, ein Phänomen, ein gesellschaftliches, Tafeln in Deutschland, Lebensmittelweitergabesystem, über das wir kaum etwas wissen. Wir haben ein bisschen Forschung darüber, aber mich erschüttert eigentlich, wie wenig faktenbasiert, datenbasiert diese Diskussion ist. Die Tafeln tauchen überhaupt nicht im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung auf. Sie tauchen in wenigen Landesarmutsberichten auf. Das heißt, hier haben wir etwas, was einen signifikanten Teil der Bevölkerung betrifft, und wir wissen so gut wie nichts darüber.
Heise: Wen kann man dafür verantwortlich machen? Also dass sie nicht im Armuts- und Reichtumsbericht auftauchen, das ist ja von den Verfassern, den Regierungen da zu verantworten.
Selke: Genau, wir adressieren unsere Kritik nicht an die Tafeln allein, wir adressieren sie auch natürlich an die Wohlfahrtsverbände, die Träger sind von Tafeln. Und wir adressieren die Kritik natürlich an eine Gesellschaft, die Tafeln seit 20 Jahren möglich macht. Und die Ermöglicher dieser Tafeln sind, erstens, die Politik, die davon profitiert, weil Tafeln eine Lücke füllen und sozusagen ein Trittbrett sind in einen Minimalversorgungsstaat, und zweitens ermöglichen die Tafeln die Wirtschaftsunternehmen, die Tafeln unterstützen, das als gesellschaftliche Verantwortung ausgeben können, und gleichzeitig ihrem Kerngeschäft der Gewinnmaximierung weiter nachgehen können, ungestört.
Heise: Ich habe diesen Chor erwähnt, den Sie geformt haben aus den Stimmen, denn Sie haben auch gesagt und beklagt, also zusätzlich, dass es kaum Fakten gibt, gibt es auch kaum die Stimmen oder hört man kaum die Stimmen derjenigen, die die Tafeln nutzen. Sie haben eben diesen Chor. Sehr eindrucksvoll beschreibt der Chor, wie es ist, wenn man um eine Tafelausgabe herumschleicht, immer wieder weggeht, sich lieber noch mehr einschränkt – aber dann geht es nicht mehr, dann steht man vor dieser Ausgabestelle und die eigene Bedürftigkeit fällt einen so richtig an, fällt über einen her. Das ist sehr eindrucksvoll geschildert, aber diese Beschämung, dieses Beschämung – man hat das Gefühl, die Tafel beschämt die Leute. Aber es doch auch wiederum nicht die Tafel, es ist doch das System.
Selke: Also vielleicht noch einen Argumentationsschritt zurück. Ich habe als Anlass für die Recherchen zu dem Buch "Schamland" irgendwann festgestellt, dass die öffentliche Debatte immer sehr stark von Anbieterseite geführt wird. Das heißt, die Argumente der Ehrenamtlichen, der freiwilligen Helfer stehen im Vordergrund. Was relativ erklärbar ist, es war schon immer so: Die Armen, die stehen immer eher im Hintergrund. Und ich habe das als Auftrag empfunden – die Nationale Armutskonferenz hat einmal geschrieben, man muss den Armen eine Stimme geben. Das habe ich versucht in dem Buch.
Nun, das Problem bei den Tafeln ist nicht so sehr der lokale, konkrete Ort der Tafel. Also eine Tafel XY an einem bestimmten Ort, die zu einer bestimmten Zeit Lebensmittel ausgibt. Darüber wurde in den letzten Jahren viel diskutiert, kann man dort die Qualität verbessern und so weiter. Mir geht es eigentlich um die Tafeln als eine Metapher, als einen sozialen symbolischen Ort. Und das ist die Paradoxie der Tafelbewegung, dass sie es geschafft haben, gerade durch ihren Erfolg und ihre Sichtbarkeit, also Erfolg im Sinne von logistischem Erfolg, sie können Lebensmittel sehr gut transportieren oder retten, wie sie es sagen, - gleichzeitig eine Metapher zu werden für sozialen Abstieg in Deutschland. Das heißt, die Formel, die ich immer wieder gehört habe, war folgende: Weil ich zu einer Tafel gehen muss, habe ich versagt, bin ich an einem Ort der Gesellschaft, einem symbolischen Ort der Gesellschaft, wo ich nicht hinwollte.
Heise: Aber das haben die Leute doch früher auch schon gesagt, wenn sie zum Sozialamt gehen mussten. Da gehen die Leute ja auch nicht freiwillig hin.
Selke: Dort gehen die Leute nicht freiwillig hin, aber es gibt jetzt sozusagen noch mal ein Weiterreichen, eine Stufe weiter, tiefer noch. Das wird durchaus von den Menschen auch so empfunden. Es gibt natürlich diese Beschämungsprozesse auch auf anderen Ebenen. Arm sein an sich ist schon beschämend, zu einem Amt zu gehen, ist beschämend. Dann aber von diesem Amt noch mal weitergereicht zu werden zu einer Tafel, das ist dann noch mal eine letzte Station, und das wird auch so empfunden. Also, ein Teil der Tafelnutzer empfindet das durchaus als eine Parallelwelt, die dann wirklich endgültig ist.
Heise: Der Soziologe Stefan Selke kritisiert die Tafelbewegung und das, was dahintersteht. "Arm gespeist – 20 Jahre Tafeln sind genug!", sagt er. Herr Selke, Sie sprechen der Tafelbewegung, finde ich, in Ihrem Buch und auch sonst, was ich von Ihnen gelesen haben, eigentlich den Impetus ab, die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern zu wollen. Sondern man hat sich da eingerichtet. Woran machen Sie das fest? Wie kommen Sie darauf? Das ist ja ein Vorwurf, ein ziemlich heftiger.
Selke: Also, zunächst muss man mal sagen, warum Tafeln überhaupt so im Mittelpunkt stehen. Sie stehen deswegen im Mittelpunkt, weil sie sich selbst dorthin manövriert haben. Die Tafeln haben selbst dafür gesorgt, dass sie ein relativ unverwechselbares Image bekommen, die Tafeln haben sich selbst immer wieder als Platzhalter für eine öffentliche Debatte stilisiert. Und ich nehme die Tafeln eben jetzt in dieser prototypischen Rolle oder Stellvertreterrolle ernst und adressiere deswegen immer wieder auch stellvertretend für andere armutsökonomische Angebote – Sie haben es eingangs gesagt, Suppenküchen gibt es, Sozialkaufhäuser, Kleiderkammern –, adressiere diese Kritik, Gesellschaftskritik an die Tafeln, weil sie diese dominante Rolle haben.
Damit müssen die Tafeln umgehen, weil sie selbst dafür gesorgt haben, dass sie so prominent werden. Ich glaube, dass das gerechtfertigt ist, weil man eben an den Tafeln eben sehr klar sehen kann, was sich verändert hat in der Gesellschaft, dass hier Verantwortung verlagert wird in ein Freiwilligensystem, dass, anders als der Sozialstaat, keine Garantien leisten kann. Das ist auch aus menschenrechtlicher Sicht bedenklich. Darüber wird auch im Aktionsbündnis diskutiert. Partner von uns sind Menschenrechtsorganisationen. Wir sind sozusagen auf dem Weg in ein vormodernes Almosensystem, wo ein Abhängigkeitsverhältnis auf persönlicher Ebene besteht.
Heise: Dazu sagt die Tafel aber ganz klar, auf ihrer Webseite und auch in allen anderen Äußerungen immer: Das eine tun, nämlich anklagen, und das andere nicht lassen.
Selke: Gut. Und das ist sozusagen der Knackpunkt auch. Die Tafeln mögen sich in ihrem Selbstbild als eine soziale Bewegung verstehen, die Protest immer äußert, sozusagen politischen Protest. Ich halte das für etwas, was ich einen umarmten Protest nenne. Man könnte auch etwas lax sagen, das ist Kuschelrockprotest, weil sie den Protest adressieren an diejenigen, von denen sie längst abhängig geworden sind. Also, die Tafeln adressieren politischen Protest an das politische System, von dem sie Schirmherrschaften umgekehrt einfordern, von dem sie mittlerweile Transferleistungen bekommen, Infrastrukturen einfordern, Geld einfordern und bekommen. Das heißt, sie sind abhängig und können in diesem Abhängigkeitsverhältnis eigentlich keinen ehrlichen Protest äußern.
Heise: Sie haben eben vom armutsökonomischen System gesprochen, und auch in Ihrem Buch gehen Sie auch noch weiter. Eigentlich, habe ich den Eindruck, klagen Sie das gesamte Ehrenamt an. Sich immer wieder zum Büttel zu machen eben des eigentlich falsch laufenden Systems.
Selke: Auch das ist eine Frage jetzt der Perspektive. Ich möchte eigentlich es eher so verstanden wissen, dass ich die Ehrenamtlichen warne davor, sich nicht dauerhaft instrumentalisieren zu lassen. Ich nenne das: Wir sind auf dem Weg in eine Freiwilligengesellschaft, in der das Engagement, das da ist in der Gesellschaft und das gut ist, grundsätzlich …
Heise: Ja, denn es ist auch ein Ausdruck einer zivilen Gesellschaft einfach.
Selke: Es ist Ausdruck einer zivilen Gesellschaft. Das Problem ist einfach nur, eine Grenze, die überschritten wird. Das Engagement, am Beispiel der Tafeln, markiert eine Grenze, die überschritten wird, weil es hier um einen hoheitlich geschützten Bereich geht, um Daseinsfürsorge, soziale und kulturelle Teilhabe. Das ist was anderes als Nachhilfestunden und was anderes, als Fußballtrainer zu sein ehrenamtlich. Diesen hoheitlich geschützten Bereich zu transferieren in ein so gigantisches, monopolistisches, wachsendes Freiwilligensystem, am Beispiel der Tafeln, das ist schon eine Gratwanderung und ein – also so sehe ich das – eine ganz gehörige Portion gesellschaftlicher Wandel, der bedacht werden sollte in seinen Folgen.
Heise: Was wird geschehen an den Aktionstagen Ende des Monats?
Selke: Bei den Aktionstagen werden wir verschiedene Formate anbieten, Podiumsdiskussionen, politisches Kabarett, Lesungen aus Büchern, Kunstaktionen, eine Aktion, eine Demonstration im öffentlichen Raum. Und sicherlich viel Platz, um sich auszutauschen, um das Für und Wider der Tafeln. Leider hat der Bundesverband noch nicht mal auf unsere Einladung reagiert. Das meine ich mit Sackgasse der Debatte. Es wäre natürlich bei so einem wichtigen Thema notwendig, hier dialogfähig zu sein, zu werden und zu bleiben.
Heise: Na, da wird hiermit sozusagen die Einladung noch mal wiederholt und weitergereicht. Der Soziologe Stefan Selke. Von ihm stammt das Buch "Schamland". Herr Selke, ich danke Ihnen ganz herzlich für dieses Gespräch!
Selke: Ich danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr Infos im Netz: Aktionsbündnis "Armgespeist"
Stefan Selke: Ja, schönen guten Morgen!
Heise: Sie sind drei Jahre lang durch Deutschland gereist, haben Suppenküchen, Sozialkaufhäuser und Tafelabgabestellen besucht. Soziologie im Außendienst haben Sie das mal genannt, und Sie haben vor allem mit den Betroffenen gesprochen. Aus deren Stimmen haben Sie in Ihrem Buch einen Chor geformt, den Chor der Tafelnutzer, und der äußert seine Scham, seine Verzweiflung, seine Wut angesichts dessen, was man sich von der Tafel versorgen lassen muss. Was ist das Schlimmste daran?
Selke: Also aus meiner Sicht ist das Schlimmste an dem System der Tafeln, dass es zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist. Ich treffe immer wieder auf Menschen, die auch als Reaktion auf das Buch "Schamland" sich wundern darüber, wie kann man nur Tafeln abschaffen wollen, sie sind doch notwendig, und es gibt keine Alternative. Und meine Sichtweise auf gesellschaftlichen Wandeln ist eben eine besondere, eine Sichtweise auf schleichenden Wandel, der so langsam vonstatten geht, dass wir uns daran gewöhnen, dass wir das als Selbstverständlichkeit nehmen. Und die Tafeln sind ein sehr gutes Beispiel dafür, dass sich etwas etabliert hat, einst als Nothilfe für Obdachlose, damals hießen sie nicht Tafeln, sondern Mahlzeitnothilfen, und mittlerweile ist das wirklich ein umfassendes Zweitversorgungssystem geworden, ein System im System. Und alle Akteure, die da drauf gucken, sei es die Politik oder auch die Wirtschaft, die die Tafeln unterstützt, und auch die Menschen, die zur Tafel gehen, können sich fast ein Land ohne Tafeln gar nicht mehr vorstellen.
Heise: Aber haben Sie sich mit Ihrer Kritik nicht eigentlich den falschen Gegner ausgesucht? Weil die Tafeln, die Sie abschaffen wollen, die Tafeln sind das Symbol der Misere, nicht der Auslöser.
Selke: Also zur Klarstellung: Die Tafeln möchte ich nicht abschaffen, und das Aktionsbündnis möchte auch die Tafeln nicht abschaffen. Wir möchten einfach eine politisch gewollte, eine offene, eine transparente Diskussion, eine Debatte über die Folgen der Tafeln. Diese Debatte ist in eine Sackgasse geraten, so würde ich das bezeichnen, und zwar deswegen, weil sie meist auf der Basis von Emotionen, auf beleidigten Selbstbildern geführt wird, und überhaupt nicht auf Fakten.
Wir haben also hier so ein System, ein Phänomen, ein gesellschaftliches, Tafeln in Deutschland, Lebensmittelweitergabesystem, über das wir kaum etwas wissen. Wir haben ein bisschen Forschung darüber, aber mich erschüttert eigentlich, wie wenig faktenbasiert, datenbasiert diese Diskussion ist. Die Tafeln tauchen überhaupt nicht im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung auf. Sie tauchen in wenigen Landesarmutsberichten auf. Das heißt, hier haben wir etwas, was einen signifikanten Teil der Bevölkerung betrifft, und wir wissen so gut wie nichts darüber.
Heise: Wen kann man dafür verantwortlich machen? Also dass sie nicht im Armuts- und Reichtumsbericht auftauchen, das ist ja von den Verfassern, den Regierungen da zu verantworten.
Selke: Genau, wir adressieren unsere Kritik nicht an die Tafeln allein, wir adressieren sie auch natürlich an die Wohlfahrtsverbände, die Träger sind von Tafeln. Und wir adressieren die Kritik natürlich an eine Gesellschaft, die Tafeln seit 20 Jahren möglich macht. Und die Ermöglicher dieser Tafeln sind, erstens, die Politik, die davon profitiert, weil Tafeln eine Lücke füllen und sozusagen ein Trittbrett sind in einen Minimalversorgungsstaat, und zweitens ermöglichen die Tafeln die Wirtschaftsunternehmen, die Tafeln unterstützen, das als gesellschaftliche Verantwortung ausgeben können, und gleichzeitig ihrem Kerngeschäft der Gewinnmaximierung weiter nachgehen können, ungestört.
Heise: Ich habe diesen Chor erwähnt, den Sie geformt haben aus den Stimmen, denn Sie haben auch gesagt und beklagt, also zusätzlich, dass es kaum Fakten gibt, gibt es auch kaum die Stimmen oder hört man kaum die Stimmen derjenigen, die die Tafeln nutzen. Sie haben eben diesen Chor. Sehr eindrucksvoll beschreibt der Chor, wie es ist, wenn man um eine Tafelausgabe herumschleicht, immer wieder weggeht, sich lieber noch mehr einschränkt – aber dann geht es nicht mehr, dann steht man vor dieser Ausgabestelle und die eigene Bedürftigkeit fällt einen so richtig an, fällt über einen her. Das ist sehr eindrucksvoll geschildert, aber diese Beschämung, dieses Beschämung – man hat das Gefühl, die Tafel beschämt die Leute. Aber es doch auch wiederum nicht die Tafel, es ist doch das System.
Selke: Also vielleicht noch einen Argumentationsschritt zurück. Ich habe als Anlass für die Recherchen zu dem Buch "Schamland" irgendwann festgestellt, dass die öffentliche Debatte immer sehr stark von Anbieterseite geführt wird. Das heißt, die Argumente der Ehrenamtlichen, der freiwilligen Helfer stehen im Vordergrund. Was relativ erklärbar ist, es war schon immer so: Die Armen, die stehen immer eher im Hintergrund. Und ich habe das als Auftrag empfunden – die Nationale Armutskonferenz hat einmal geschrieben, man muss den Armen eine Stimme geben. Das habe ich versucht in dem Buch.
Nun, das Problem bei den Tafeln ist nicht so sehr der lokale, konkrete Ort der Tafel. Also eine Tafel XY an einem bestimmten Ort, die zu einer bestimmten Zeit Lebensmittel ausgibt. Darüber wurde in den letzten Jahren viel diskutiert, kann man dort die Qualität verbessern und so weiter. Mir geht es eigentlich um die Tafeln als eine Metapher, als einen sozialen symbolischen Ort. Und das ist die Paradoxie der Tafelbewegung, dass sie es geschafft haben, gerade durch ihren Erfolg und ihre Sichtbarkeit, also Erfolg im Sinne von logistischem Erfolg, sie können Lebensmittel sehr gut transportieren oder retten, wie sie es sagen, - gleichzeitig eine Metapher zu werden für sozialen Abstieg in Deutschland. Das heißt, die Formel, die ich immer wieder gehört habe, war folgende: Weil ich zu einer Tafel gehen muss, habe ich versagt, bin ich an einem Ort der Gesellschaft, einem symbolischen Ort der Gesellschaft, wo ich nicht hinwollte.
Heise: Aber das haben die Leute doch früher auch schon gesagt, wenn sie zum Sozialamt gehen mussten. Da gehen die Leute ja auch nicht freiwillig hin.
Selke: Dort gehen die Leute nicht freiwillig hin, aber es gibt jetzt sozusagen noch mal ein Weiterreichen, eine Stufe weiter, tiefer noch. Das wird durchaus von den Menschen auch so empfunden. Es gibt natürlich diese Beschämungsprozesse auch auf anderen Ebenen. Arm sein an sich ist schon beschämend, zu einem Amt zu gehen, ist beschämend. Dann aber von diesem Amt noch mal weitergereicht zu werden zu einer Tafel, das ist dann noch mal eine letzte Station, und das wird auch so empfunden. Also, ein Teil der Tafelnutzer empfindet das durchaus als eine Parallelwelt, die dann wirklich endgültig ist.
Heise: Der Soziologe Stefan Selke kritisiert die Tafelbewegung und das, was dahintersteht. "Arm gespeist – 20 Jahre Tafeln sind genug!", sagt er. Herr Selke, Sie sprechen der Tafelbewegung, finde ich, in Ihrem Buch und auch sonst, was ich von Ihnen gelesen haben, eigentlich den Impetus ab, die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern zu wollen. Sondern man hat sich da eingerichtet. Woran machen Sie das fest? Wie kommen Sie darauf? Das ist ja ein Vorwurf, ein ziemlich heftiger.
Selke: Also, zunächst muss man mal sagen, warum Tafeln überhaupt so im Mittelpunkt stehen. Sie stehen deswegen im Mittelpunkt, weil sie sich selbst dorthin manövriert haben. Die Tafeln haben selbst dafür gesorgt, dass sie ein relativ unverwechselbares Image bekommen, die Tafeln haben sich selbst immer wieder als Platzhalter für eine öffentliche Debatte stilisiert. Und ich nehme die Tafeln eben jetzt in dieser prototypischen Rolle oder Stellvertreterrolle ernst und adressiere deswegen immer wieder auch stellvertretend für andere armutsökonomische Angebote – Sie haben es eingangs gesagt, Suppenküchen gibt es, Sozialkaufhäuser, Kleiderkammern –, adressiere diese Kritik, Gesellschaftskritik an die Tafeln, weil sie diese dominante Rolle haben.
Damit müssen die Tafeln umgehen, weil sie selbst dafür gesorgt haben, dass sie so prominent werden. Ich glaube, dass das gerechtfertigt ist, weil man eben an den Tafeln eben sehr klar sehen kann, was sich verändert hat in der Gesellschaft, dass hier Verantwortung verlagert wird in ein Freiwilligensystem, dass, anders als der Sozialstaat, keine Garantien leisten kann. Das ist auch aus menschenrechtlicher Sicht bedenklich. Darüber wird auch im Aktionsbündnis diskutiert. Partner von uns sind Menschenrechtsorganisationen. Wir sind sozusagen auf dem Weg in ein vormodernes Almosensystem, wo ein Abhängigkeitsverhältnis auf persönlicher Ebene besteht.
Heise: Dazu sagt die Tafel aber ganz klar, auf ihrer Webseite und auch in allen anderen Äußerungen immer: Das eine tun, nämlich anklagen, und das andere nicht lassen.
Selke: Gut. Und das ist sozusagen der Knackpunkt auch. Die Tafeln mögen sich in ihrem Selbstbild als eine soziale Bewegung verstehen, die Protest immer äußert, sozusagen politischen Protest. Ich halte das für etwas, was ich einen umarmten Protest nenne. Man könnte auch etwas lax sagen, das ist Kuschelrockprotest, weil sie den Protest adressieren an diejenigen, von denen sie längst abhängig geworden sind. Also, die Tafeln adressieren politischen Protest an das politische System, von dem sie Schirmherrschaften umgekehrt einfordern, von dem sie mittlerweile Transferleistungen bekommen, Infrastrukturen einfordern, Geld einfordern und bekommen. Das heißt, sie sind abhängig und können in diesem Abhängigkeitsverhältnis eigentlich keinen ehrlichen Protest äußern.
Heise: Sie haben eben vom armutsökonomischen System gesprochen, und auch in Ihrem Buch gehen Sie auch noch weiter. Eigentlich, habe ich den Eindruck, klagen Sie das gesamte Ehrenamt an. Sich immer wieder zum Büttel zu machen eben des eigentlich falsch laufenden Systems.
Selke: Auch das ist eine Frage jetzt der Perspektive. Ich möchte eigentlich es eher so verstanden wissen, dass ich die Ehrenamtlichen warne davor, sich nicht dauerhaft instrumentalisieren zu lassen. Ich nenne das: Wir sind auf dem Weg in eine Freiwilligengesellschaft, in der das Engagement, das da ist in der Gesellschaft und das gut ist, grundsätzlich …
Heise: Ja, denn es ist auch ein Ausdruck einer zivilen Gesellschaft einfach.
Selke: Es ist Ausdruck einer zivilen Gesellschaft. Das Problem ist einfach nur, eine Grenze, die überschritten wird. Das Engagement, am Beispiel der Tafeln, markiert eine Grenze, die überschritten wird, weil es hier um einen hoheitlich geschützten Bereich geht, um Daseinsfürsorge, soziale und kulturelle Teilhabe. Das ist was anderes als Nachhilfestunden und was anderes, als Fußballtrainer zu sein ehrenamtlich. Diesen hoheitlich geschützten Bereich zu transferieren in ein so gigantisches, monopolistisches, wachsendes Freiwilligensystem, am Beispiel der Tafeln, das ist schon eine Gratwanderung und ein – also so sehe ich das – eine ganz gehörige Portion gesellschaftlicher Wandel, der bedacht werden sollte in seinen Folgen.
Heise: Was wird geschehen an den Aktionstagen Ende des Monats?
Selke: Bei den Aktionstagen werden wir verschiedene Formate anbieten, Podiumsdiskussionen, politisches Kabarett, Lesungen aus Büchern, Kunstaktionen, eine Aktion, eine Demonstration im öffentlichen Raum. Und sicherlich viel Platz, um sich auszutauschen, um das Für und Wider der Tafeln. Leider hat der Bundesverband noch nicht mal auf unsere Einladung reagiert. Das meine ich mit Sackgasse der Debatte. Es wäre natürlich bei so einem wichtigen Thema notwendig, hier dialogfähig zu sein, zu werden und zu bleiben.
Heise: Na, da wird hiermit sozusagen die Einladung noch mal wiederholt und weitergereicht. Der Soziologe Stefan Selke. Von ihm stammt das Buch "Schamland". Herr Selke, ich danke Ihnen ganz herzlich für dieses Gespräch!
Selke: Ich danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr Infos im Netz: Aktionsbündnis "Armgespeist"