Gunther Hirschfelder, geb. 1961, ist Kulturanthropologe und Volkskundler. Seit 2010 ist er Professor für Vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg. Er hat zahlreiche Publikationen rund ums Essen und Trinken veröffentlicht. Zuletzt erschienen: "Bier. Eine Geschichte von der Steinzeit bis heute" (zusammen mit Manuel Trummer, 2016). Zudem arbeitet er als Dozent der Deutschen Akademie für Kulinaristik und ist Vertrauensdozent der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Der Esstisch als Bühne unserer Persönlichkeit
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Gäste zum Abendessen - purer Stress für die Gastgeber. Der eine isst kein Fleisch, die andere keinen Zucker - und dann all die Allergien! Der Kulturanthropologe Gunter Hirschfelder weiß, was das alles mit dem Ende des Ost-West-Konflikts zu tun hat.
Goethe ließ sein Gedicht "Der Schatzgräber" versöhnlich ausklingen: "Tages Arbeit, abends Gäste! Saure Wochen, frohe Feste, sei dein künftig Zauberwort!" Das funktionierte vor 222 Jahren ganz gut, weil die Spielregeln klar waren: Adel und gehobenes Bürgertum luden gerne ein, aber unbedingt standesgemäß – und zwar was Gäste und Essen anbetraf. Handwerker, Bauern oder Arbeiter trafen sich im Wirtshaus, auf der Kirchweih oder auf Hochzeiten – private Einladungen gab es nicht.
Gemeinsam essen - es ist kompliziert
Heute könnte man Goethes Zauberwort gut gebrauchen. Private Einladungen sind kompliziert geworden. Sie haben nämlich nicht nur ihr Gesicht verändert, sondern auch ihre Struktur. Nicht nur Grillwurst und Roastbeef haben ihre Unschuld verloren, sondern auch Quinoa oder Avocado und sogar Baguette und Graubrot.
Fleisch gilt den einen zwar immer noch als, wie es die Werbung einst anpries, "ein Stück Lebenskraft", für die anderen aber ist es zum Symbol für Umweltzerstörung, Tierleid und Krankheit geworden. Eis zum Dessert steht je nach Lesart für süßen Genuss oder für die vermeintliche Droge Zucker. "Superfoods" wie Avocado brauchen so viel Wasser, dass Wüste zurückbleibt. Und Quinoa, als Wunderkorn der Inka gepriesen, ist in den Anden zu teuer für den täglichen Tisch geworden, weil es in der westlichen Welt so beliebt ist.
Essen - ein kultureller Akt
Wer heute Gäste einlädt, läuft also Gefahr, statt Lob Kritik zu ernten. Und dann gibt es ja auch noch Laktose-Intoleranz und Gluten-Unverträglichkeit. Was der eine Gast verträgt, verursacht beim Nachbarn Bauchschmerzen. Will ich das als Gastgeber riskieren?
Ich glaube: unbedingt, sogar mehr denn je! Einmal, weil man trotz allem irgendetwas essen muss. Dann: weil Essen nicht nur ein stofflicher Akt ist, sondern vor allem auch ein kultureller. Essen stiftet Identität und Vertrauen, die Mahlzeit ist Ort der Kommunikation, der Statusrepräsentation und der Selbstvergewisserung.
Da kann jeder mitreden – über seine Allergien, seine Körperoptimierungsstrategien oder eben über die Rettung der Welt. Die Themen liegen offenbar auf dem Teller.
Der Esstisch als Bühne für die eigene Weltsicht
Aber in Wahrheit geht es beim Sprechen über das Essen gar nicht ums Essen. Wir führen Stellvertreterdiskussionen: Ich kann über den Veganismus parlieren ohne Veganer zu sein oder über Allergien ohne welche zu haben. Jede Gesellschaft hat ein Leitthema. Lange waren das Ideologie und Systemvergleich. Diskussionen über Marktwirtschaft und Marx dominierten die Einladungen und endeten in der Kellerbar, versöhnlich oder unversöhnlich.
Das Ende des Ost-West-Konflikts hat uns diese Themen genommen. Gleichzeitig haben Digitalisierung und Globalisierung die Welt unübersichtlich gemacht. Schicht und Klasse sind uns auch noch verloren gegangen. Wer die Komplexität der Welt also diskutieren will, landet zwangsläufig beim Essen – weil der Esstisch die Bühne ist, auf der wir Weltsicht und Persönlichkeit zur Schau stellen.
Gastgeber, setzt neue Trends!
Wer jetzt Angst hat, dass Kochshows und die Social-Media-Bilderflut die Messlatte so hoch legen, dass man sich mit seiner Einladung blamiert, kann locker bleiben. Warum nicht mal Kartoffelsalat und Würstchen – echt oder auf Sojabasis? Das wäre retro und "hygge", sprich gemütlich wie man neudeutsch sagt.
Oder Sie setzen den nächsten Trend selbst, warum nicht mit einem Menü wie bei Goethe? Der Tisch ist schließlich auch die Bühne des Gastgebers – Ihre Bühne.