Magersucht und Bulimie

Wenn sportlicher Ehrgeiz zu Essstörungen führt

23:11 Minuten
Frau hinter Waage
Sportler sind häufiger von Essstörungen betroffen als Menschen in der Gesamtbevölkerung. © dpa /picture alliance / Sirijit Jongcharoenkulchai
Von Jutta Heeß |
Audio herunterladen
Magere Turnerinnen, dünne Skispringer, hagere Läuferinnen: Sportler reduzieren oft ihr Körpergewicht - für eine bessere Leistung. Wie kann das Sportsystem verhindern, dass immer wieder Athleten mit Magersucht und Bulimie zu kämpfen haben?
Europameisterschaft 2022 in München. Die deutschen Turnerinnen gewinnen die Bronzemedaille im Teamwettbewerb.
Eine von ihnen ist Kim Bui. Für die 33-Jährige ist diese Medaille ein ganz besonderer Erfolg. Sie hatte vor der EM angekündigt, mit dem Leistungssport aufhören zu wollen.

Kim Bui hatte Essstörungen im Teenager-Alter

Sportlich hat Kim Bui viel erreicht: Viermal deutsche Meisterin, 2011 EM-Bronze am Stufenbarren, dreimal startete sie bei Olympischen Spielen. Doch in ihrer Aktiven-Zeit lief längst nicht alles rund. In ihrer Biografie, die im März dieses Jahres erschienen ist, berichtet sie von Essstörungen.
Im Teenager-Alter wird sie zum ersten Mal von ihrer Trainerin auf ihr Gewicht angesprochen:
Kim Bui, ehemalige Turnerin:

Damals war es so, dass ich immer mal wieder gewogen worden bin, und irgendwann hieß es, na ja, kannst du denn nicht mal auf dein Gewicht ein bisschen achten? Es fing erst mal relativ harmlos an, und dann wurde es immer mehr. Ja, achte doch mal bitte noch drauf, und das häufte sich irgendwann, und dann war es auch dann der Fall, wenn du auf dein Gewicht achtest oder wenn du vielleicht nochmal ein Kilo abnehmen könntest, dann würde dir das eine oder andere leichter fallen.

Kim Bui, ehemalige Turnerin

Turnerin Kim Bui nach dem letzten Wettkampf ihrer Karriere bei der Europameisterschaft in München
Turnerin Kim Bui beendete 2022 ihre Karriere. Sie litt als Teenager unter Essstörungen.© Imago / Steffen Proessdorf
Die 15-Jährige versucht fortan abzunehmen – mitten in der Pubertät. Sie lässt Kohlenhydrate weg, schränkt sich generell beim Essen ein.

Wie der Teufelskreis beginnt

Doch ihr Gewicht bleibt gleich. Bis sie eines Tages eine Methode zum Abnehmen entdeckt, die ihr Leben verändern wird:
„Und dann war es eben dieser Moment an dem Tag, wo es mir wahrscheinlich auch wahnsinnig schlecht gegangen ist, auch in der Mensa, und dann habe ich das Essen irgendwie mich hineingestopft und hatte ein wahnsinnig schlechtes Gewissen gehabt. Ich bin dann damals aufs Klo gegangen und habe mich erbrochen. Weil das Gewissen einfach so schlecht war, hat es sich dann vielleicht in dem Moment erst mal vielleicht irgendwie gut angefühlt, weil ich es wieder losgeworden bin. Und es war aber auch der Beginn des Teufelskreises, und so bin ich dann eben in die Essstörung reingerutscht, in die Bulimie.“
Von diesem Zeitpunkt an leidet Kim Bui an einer Ess-Brech-Sucht, genannt Bulimie. Auf Fressattacken folgt Erbrechen. Sie verliert an Gewicht.
Essstörungen sind im Leistungssport keine Seltenheit. In ästhetischen Sportarten wie Turnen oder Eiskunstlauf verspüren vor allem Mädchen und Frauen häufig den Wunsch oder den Zwang, besonders schlank sein zu müssen und wenig zu wiegen – um bestimmte Sprünge besser bewältigen zu können oder um einer vermeintlichen Idealvorstellung vom weiblichen Körper entsprechen zu wollen.
Aber auch in Ausdauer-Sportarten, beim Skispringen oder in Sportarten mit Gewichtsklassen wie Judo oder Boxen sind Essstörungen verbreitet – egal, ob Frau oder Mann.

Sportler sind häufiger betroffen als die Allgemeinbevölkerung

Je nach Sportart ist die Häufigkeit von Essstörungen mit zehn bis 20 Prozent im Vergleich zur Häufigkeit von Essstörungen in der Allgemeinbevölkerung – zwei bis vier Prozent - deutlich erhöht.
In der sportmedizinischen Abteilung der Berliner Charité werden Leistungssportlerinnen und Leistungssportler regelmäßig durchgecheckt. Das interdisziplinäre Team aus Ärzten, Ernährungswissenschaftlern und Psychologen ist darauf sensibilisiert, Essstörungen wie Anorexie, Bulimie oder Binge-Eating bei den Athletinnen und Athleten zu erkennen.
Assistenzärztin Franziska Greiß:

Die Anorexie ist die klassische Magersucht, die mit einer Körperschemastörung verbunden ist, mit einem massiven Untergewicht. Die Bulimie ist die Ess-Brech-Sucht, hat mit der Anorexie zum Beispiel die Körperschemastörung als Überschneidungsmasse und die Binge-Eating-Störung sind Ess-Anfälle.

Assistenzärztin Franziska Greiß

Die Körperschemastörung ist ein häufiges Begleitmerkmal von Essstörungen – Betroffene empfinden sich als zu dick, obwohl sie sehr dünn oder gar mager sind.

Der Wunsch nach schlankem Körper bei Sportlern

Gerade im Sport, der von Bildern in klassischen und sozialen Medien geprägt wird, ist der Wunsch nach einem schlanken Körper enorm groß – in allen Sportarten und bei beiden Geschlechtern.
Ernährungstherapeutin Karina Marcy:
„Wir sprechen immer von Risikosportarten. Ich finde, das ist schon ein bisschen überholt. Eigentlich fast in jeder Sportart wird argumentiert, wenn du schlank bist, wenn du abnimmst, bist du leichter, dann kannst du schneller durch die Kurve oder du kannst dies oder jenes. Ja, und man guckt sich natürlich auch bestimmte Vorbilder an. Okay, die ist jetzt schlank, die ist jetzt erfolgreich, deswegen muss man so sein. Sie haben vorhin auch Instagram angesprochen. Das, das ist schon auch ein, glaube ich, ein großer Druck.“
Der Druck, Leistung zu bringen und dabei noch einem Körperbild entsprechen zu müssen – viele, vor allem junge Athletinnen und Athleten, leiden zunehmend darunter.

Der Einfluss der sozialen Medien

Die äußeren und eigenen Erwartungen, nicht zuletzt durch das verbreitete Auftreten von Sportlern in sozialen Netzwerken, sind groß. Strenge Trainer, ehrgeizige Eltern, Erfolgsdruck - die Essstörung ist somit häufig das Symptom einer belastenden Gesamtsituation. Ein Hilfeschrei. Eine schwere psychische Erkrankung.
Häufig kreisen die Gedanken der Betroffenen permanent ums Essen. Oft behalten sie ihre Probleme für sich. Umso schwieriger ist es, Essstörungen zu erkennen und zu behandeln.

Der BMI bildet nicht alle Essstörungen adäquat ab

Vor allem auch, weil es zudem Sportlerinnen und Sportler gibt, die zum Teil unbewusst in eine Essstörung geraten. Bei ihnen ist zum Beispiel der Body-Mass-Index (BMI) - also das Verhältnis von Körpergewicht zu Körpergröße – unauffällig und dennoch rutschen sie in eine Mangelsituation.
Man nennt das RED-S-Syndrom, die Abkürzung steht für relatives Energiedefizit im Sport, das aus einer niedrigen Energieverfügbarkeit als Folge von Training und einer geringen Kalorienzufuhr resultiert.
Franziska Greiß und Karina Marcy betreuen auch solche Fälle.
Franziska Greiß: „Was man auf jeden Fall bedenken muss, ist, dass der BMI nicht alle Essstörungen adäquat abbildet, also dass es auch Ess-Verhaltensstörungen gibt, in denen der BMI das gar nicht anzeigt, die wir damit nicht erfassen, und deswegen auch hier: Da muss eigentlich der Weg eher über ein sensibilisiertes Team und ein Screening gehen. Der Trugschluss ist, dass ich durch ein leichteres Gewicht eine bessere Leistungsfähigkeit erreichen kann und Athletinnen das vielleicht auch am Anfang noch so sehen oder sehen wollen, aber man ganz klar sagen muss, auf lange Sicht kann man die intensiven Leistungen, die man im Wettkampf bringen muss, eben nicht, wenn man nicht ausreichend mit Energie versorgt ist, leisten.“

Betroffene können auch in Lebensgefahr geraten

Klar ist: Mangelernährte Athletinnen und Athleten können zum Beispiel Osteoporose, Stoffwechsel- und Zyklusstörungen, Schädigung von Nieren, Leber und Gehirn erleiden. Sie sind infektions- und verletzungsanfälliger. Schlimmstenfalls geraten sie in Lebensgefahr.
Franziska Greiß: „Mir ist es ganz wichtig zu betonen, dass eine manifeste Essstörung eine komplexe und ernstzunehmende Erkrankung ist, die unbedingt auch eine fachmedizinische Behandlung braucht. Durch dieses Herunterfahren des Körpers kann es zum Beispiel zu einer verminderten Herzfrequenz kommen, also Bradykardien, es kann der Blutdruck sich absenken, die Körpertemperatur sich absenken, und insbesondere wird es dann gefährlich, wenn es zum Beispiel Elektrolyt-Störungen gibt, die dann auch mit kardialen Komplikationen einhergehen.“

Warum eine Früherkennung entscheidend ist

Genauso entscheidend wie eine medizinische Früherkennung und Versorgung ist eine psychologische Betreuung. Brit Wilsdorf ist Sportpsychologin am Olympiastützpunkt in Berlin und arbeitet mit der Sportmedizinischen Abteilung der Charité zusammen.
Brit Wilsdorf, Sportpsychologin:

Umso früher man hinguckt, umso früher man einen Fuß in der Tür hat, umso weniger chronifiziert es ist, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es irgendwie gut klappt und dass man auch mit wenig Interventionen sehr gute Verläufe hinbekommt.  Deswegen ist es strukturell einfach so wichtig, dass immer mehr Aufklärungsarbeit gemacht wird, immer mehr interdisziplinär sensibilisiert wird, auch für so Grenzbereiche und einfach niedrigschwellige Angebote da sind.

Sportpsychologin Brit Wilsdorf

Radprofi Nerz hörte wegen Magersucht auf

Seine Karriere beendet Dominik Nerz aus gesundheitlichen Gründen bereits mit 27 Jahren. Wie die Turnerin Kim Bui schreibt auch er ein Buch über sein Leben als Profisportler und thematisiert darin ausführlich seine Magersucht.
Olympische Spiele 1988. In Seoul gewinnt der Deutschland-Achter die Goldmedaille, Schlagmann ist Bahne Rabe, ein 2,03 Meter großer und 95 Kilo schwerer Top-Athlet. 2001 stirbt er im Alter von 47 Jahren an den Folgen einer Magersucht.
Seitdem hat es immer wieder bekannte Sportlerinnen und Sportler gegeben, die offen über ihre Essstörungen sprechen: Die Eiskunstläuferin Eva-Maria Fitze, die französische Tennisspielerin Caroline Garcia und die Biathletinnen Miriam Neureuther und Lena Häcki-Groß sowie der ehemalige Radprofi Dominik Nerz.
Sein damaliger Teamarzt habe angeregt, dass er für eine bessere Leistung noch etwas Gewicht verlieren könne. Der 34-Jährige schildert im Deutschlandfunk-Sportgespräch im März 2023 was dann passierte: 
„Es war so ein bisschen Step-by-Step. Ich habe das auch selber gar nicht wirklich gemerkt, ich habe nur gemerkt, dass das Thema Essen für mich auf einmal wirklich ein Thema war, worüber ich mir am Anfang nie Gedanken gemacht habe. Und auf einmal habe ich angefangen, wirklich jede Kalorie zu zählen, mir ganz genau zu überlegen, was ich wann wie zu mir nehme, bis zu dem Punkt, dass ich dann komplett aufgehört habe zu essen.“
Radprofi Dominik Nerz
Radprofi Dominik Nerz beendete wegen Magersucht seine Karriere.© dpa / picture alliance / Anton Geisser

Essstörungen als Tabuthema

Das Thema Essstörungen aus der Tabuzone rausholen - das möchte auch Ramona Richter. Die 30-Jährige litt zwölf Jahre unter einer massiven Anorexie. Bei einem Treffen in einem Berliner Park erzählt sie, wie alles angefangen hat: mit einer Diät im Alter von 16 Jahren – exzessives Sporttreiben kommt hinzu.
Ramona Richter, Triathletin:
„Man hat auf sein Essen geachtet, auf die Kalorienzufuhr, und bei mir kam noch dann immer verstärkter hinzu irgendwann der Sport, zu der Zeit vor allem der Sport als Mittel zum Zweck. Ja, und dann ging es halt immer runter, immer mehr Sport, immer weniger essen, und so hat man sich richtig ins Loch manövriert und runtergewirtschaftet.“

Sport als Sucht

Ramona Richter ist keine Leistungssportlerin, sie trainiert aber ähnlich hart: Sie läuft zwei Mal am Tag längere Strecken, schraubt ihre Nahrungszufuhr immer weiter runter. Für die Hamburgerin wird nicht nur das Hungern, sondern auch der Sport zur Sucht.
Restriktives Essen, Nährstoffmangel, Untergewicht und zudem hohe körperliche Aktivität – Ramona Richters Zustand ist zunehmend lebensbedrohlich. Sie geht schließlich freiwillig in eine Klinik – buchstäblich im letzten Moment.
Ramona Richter:
„Die ganzen Organe haben nach und nach schon nachgelassen. Das heißt, mein Herz hat auch schon vom EKG her die Zeichen gesetzt, dass jeder Tag zu Ende sein könnte. Das war auch vor allem so ein Zeitpunkt für mich, wo ich erst mal Angst und mein Körper hatte, und das war auch so mit ein Beweggrund, dass ich gesagt habe, okay, das kann jederzeit zu Ende sein.“
Ramona Richter bleibt einen Monat in der Klinik. Danach zieht sie zurück zu ihren Eltern und beginnt langsam an Gewicht zuzunehmen. Sport treibt sie in dieser Zeit nicht.
Ramona Richter:

Es ist schwerwiegender, was im Kopf passiert als auf der Waage. Der Rest passiert früher oder später auch auf der Waage. Aber entscheidender ist, was im Kopf passiert, und ich habe gespürt, da passiert was im positiven Sinne, auch wenn es noch nicht sichtbar war.

Triathletin Ramona Richter

Ein gutes Jahr dauert ihre Aufbauphase, 18 Kilo nimmt Ramona Richter zu. Seit anderthalb Jahren ist sie wieder sportlich aktiv. Und das sehr erfolgreich als Triathletin: Über die Sprint-Distanz wurde sie gerade Zweite beim St. Pauli Triathlon. Genauso wichtig wie sportliche Erfolge ist es für sie, über ihre Erfahrungen zu sprechen.
In einem Podcast und in den sozialen Medien klärt sie über die Gefahren der Essstörung auf. Zudem schreibt auch sie ein Buch über ihre dunkle Zeit. 
Ramona Richter: „Weil die Krankheit so schwer ist und so teuflisch und so tiefgreifend - jede Seele, der ich helfe, oder jedes Herz, was ich erreiche, das ist so viel wert, wenn man sich vorstellt, dass zehn Prozent an der Krankheit sterben, und wenn meine Ärztin sagt, sie kann die Menschen an der Hand abzählen, die es wirklich geschafft haben.“

Fernsehdokumentation "Hungern für Gold"

Auch die Turnerin Kim Bui möchte ihre Geschichte teilen, um mehr Aufmerksamkeit für das Thema Essstörungen im Sport zu erlangen. Gemeinsam mit der Biathletin Miriam Neureuther hat sie an einer Fernsehdokumentation mitgewirkt. „Hungern für Gold“ heißt sie treffend.
Kim Bui erzählt, dass ihr zu Beginn ihrer Bulimie tatsächlich einige Turnübungen leichter gefallen seien. Doch nach einer Weile wird sie schwächer, erleidet einen Kreuzbandriss. Erst nach knapp zwei Jahren findet sie einen Ausweg aus ihrer Essstörung. Obwohl sie versucht, ihre Probleme geheim zu halten, fliegt sie auf:
„Dann kam damals eine andere Trainerin aus meiner Trainingshalle zu mir und sagt, wir müssen mal ein Gespräch führen. Dann kam sie und hat gemeint, ich weiß, dass du dein Essen systematisch erbrichst. Ich möchte, dass du dir professionelle Hilfe holst. Dann  bin ich tatsächlich damals als Minderjährige noch selber losgegangen und habe mir eine Psychotherapeutin gesucht.“
Vier Jahre begleitet die Therapeutin die essgestörte Athletin, bis sie ihre Bulimie überwunden hat. Heute, nach ihrer aktiven Karriere, engagiert sich Kim Bui weiterhin für Aufklärung und arbeitet als Coach und Trainerin.
Gerade wurde sie vom Deutschen Olympischen Sportbund für die Wahl zur Athletenkommission des Internationalen Olympischen Komitees im kommenden Jahr nominiert. Ein wichtiger Aspekt ist für Kim Bui die Sensibilisierung von Trainerinnen und Trainern für das Thema Essstörungen.
„Man verbringt mit seinen Trainern mehr Zeit als mit der eigenen Familie zu Hause oder mit den eigenen Eltern, und ich finde, dass die Trainer da schon eine riesige Verantwortung tragen und dahingehend auch ja sensibilisiert werden sollten.“

Outings zeigen Wirkung

Athletinnen wie Kim Bui und Ramona Richter holen mit ihren mutigen Bekenntnissen das Thema Essstörungen im Sport aus dem Tabubereich heraus. Ihre Outings und die damit verbundene Offenheit zeigen Wirkung.
Psychologin Brit Wilsdorf:

Ich bekomme das bei ganz vielen Athleten mit, die ich in Betreuung habe, dass es  unglaublich hilfreich ist, zu sehen, ich bin damit nicht alleine, sondern anderen geht es auch so, und ich bin nicht irgendwie verrückt. Es ist keine Schande, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Vor allem auch die Message, es muss nicht das Ende deiner Karriere sein.

Psychologin Brit Wilsdorf

Persönliche Schicksale, offen erzählt, schön und gut! Es stellt sich jedoch die Frage: Was kann und muss geschehen, damit Leistungssportler gar nicht erst in eine Essstörung geraten?

Klettern als Risikosportart

Sportverbände tun sich mit dem Thema schwer wie zum Beispiel die jüngsten Ereignisse im Kletterweltverband beweisen. Klettern ist auch eine Risikosportart für Essstörungen - mit weniger Kilos am Körper muss man auch weniger Gewicht die Wand hochziehen.
Bei einer Befragung im vergangenen Jahr kam heraus, dass etwa 16 Prozent der internationalen Spitzenkletterinnen unter Amenorrhö leiden, dem Ausbleiben ihrer Regelblutung. Das ist eine Folge eines dauerhaften Mangelzustands des Körpers.
Der deutsche Sportarzt Volker Schöffl gab nun seinen Rücktritt aus der medizinischen Kommission auf seinem Instagram-Account bekannt, illustriert mit einem Skelett in Kletterposition. „Climbing has a problem“, „Klettern hat ein Problem“ – so die Überschrift.
Er könne nicht länger verantworten, dass immer mehr Klettersportlerinnen und Klettersportler mit Essstörungen oder dem RED-S-Syndrom an den Start von Wettkämpfen gehen. Der Weltverband gehe nicht aktiv dagegen vor, obwohl die medizinische Kommission Konzepte erarbeitet habe.

Ski-Weltverband führt Regel ein

Die Forderungen darin: intensive medizinische Untersuchungen, psychologische Gutachten sowie Fragebögen, um beurteilen zu können, ob ein Sportler gesund ist und an Wettkämpfen teilnehmen kann. In nationalen Verbänden werden diese Untersuchungen bereits teilweise durchgeführt.
Auch der Ski-Weltverband hat eine Regel eingeführt, die verhindern soll, dass Skispringer für Weite hungern, damit sie als Leichtgewichte weiterfliegen: Seit 2004 wird bei einem zu niedrigen BMI die Länge der Skier verkürzt, was einen Wettbewerbsnachteil für zu leichte Skispringer bedeutet.
Birte Steven-Vitense ist Leiterin im Bereich Gesundheitsmanagement beim Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB).
„Über grundsätzliche Regularien, glaube ich, kann man sehr lange diskutieren, weil jeder einzelne Faktor an sich komplex ist, vielleicht auch umstritten ist, wie ich ihn einsetzen kann. Von daher finde ich, dass Regeln, Regularien immer nur ein Teil der Lösung sein können. Sie können hilfreich sein, um auch gewisse Grenzen einzuziehen, sie auch wirklich formal einzuziehen. Grundsätzlich muss aber in diesen Fällen ja immer der Einzelfall auch interdisziplinär betrachtet werden.“

DOSB will für Thema sensibilisieren

Der DOSB als Dachorganisation des deutschen Sports sehe sich aber natürlich in der Verantwortung, tätig zu werden.  Auf Tagungen und Fortbildungen sollen Sportverantwortliche für das Thema sensibilisiert werden.
Birte Steven-Vitense:
„Wir haben ja nicht unmittelbar mit den Athleten zu tun, also können wir immer nur in einer sehr übergeordneten Funktion wirksam werden. Das bedeutet also, dass die Flughöhe für uns sehr, sehr hoch ist. Wir aber sagen, wir müssen dieses Thema  setzen. Das heißt, dass wir, wenn wir DOSB-Veranstaltungen haben, wenn wir Tagungen organisieren mit dem Funktionspersonal, zum Beispiel mit den Ernährungsberatern, mit den Psychologen etc., dann können wir diese Themen natürlich auf die Tagesordnung setzen, damit sie diskutiert werden.“

DOSB will verpflichtende Gesundheitschecks

„Wissen und Aufmerksamkeit“ - das seien die entscheidenden Schlagworte, sagt Birte Steven-Vitense. Aber auch eine bessere Früherkennung und verpflichtende Gesundheitschecks für Kaderathleten seien dringend notwendig, damit Sportlerinnen und Sportler gar nicht erst tief in die Essstörung rutschen.
Am sportmedizinischen Institut der Charité haben Athletinnen und Athleten, die hier betreut werden, gute Chancen, dass eine mögliche Essstörung frühzeitig erkannt und erfolgreich behandelt wird. Doch nicht alle Leistungssportlerinnen oder ambitionierten Hobbysportler können auf eine solch exzellente Versorgung zugreifen.
Zum Teil sind selbst die Olympiastützpunkte in medizinischen und psychologischen Bereichen unterbesetzt. Von kleinen Vereinen, in denen auch Athleten für Wettkämpfe trainieren und unter Leistungsdruck stehen, ganz zu schweigen.

Forderung nach mehr Aufklärungsarbeit

Karina Marcy und Franziska Greiß fordern gerade mit Blick auf junge Sportlerinnen und Sportler deutlich mehr Aufklärungsarbeit. 
Karina Marcy, Ernährungswissenschaftlerin:

„Und ich finde auch tatsächlich, dass mehr auch im Bereich Nachwuchs gemacht werden muss, weil das sind Kinder, Jugendliche, die doch eine andere Jugend durchleben und auch noch die Pubertät, und da ist es umso wichtiger anzusetzen, dass da mehr so ein Fokus auf mentale Gesundheit, wo Ernährung ja auch sicherlich mit eine große Rolle spielt.“
Franziska Greiß, Assistenzärztin:
„Gerade auch, weil Essstörungen Häufigkeitsgipfel in der Pubertät und Adoleszenz auch haben, denke ich auch, dass gerade im Kinder und Jugendbereich viel gemacht werden muss.“
Assistenzärztin Franziska Greiß (links) und Ernährungstherapeutin Karina Marcy
Assistenzärztin Franziska Greiß (links) und Ernährungstherapeutin Karina Marcy plädieren für mehr Aufklärungsarbeit bei jungen Sportlern.© Jutta Heeß
Die Fallzahlen verringern – das muss das Ziel des Sports sein. Aufklärung für alle im Sport tätigen Personen, verpflichtende Gesundheitschecks für Kaderathletinnen und -athleten, aber auch niedrigschwellige Angebote zur Prävention für kleine Verbände und Vereine.
Am Ende ist auch immer das persönliche Umfeld von Betroffenen gefragt, genau hinzusehen und darauf zu achten, dass das Esssverhalten sowie die körperliche und seelische Konstitution gesund sind. Nicht zuletzt hat der Spitzensport auch hier eine Vorbildfunktion. Hungern für Gold darf nicht der Weg zum Erfolg sein.

Abonnieren Sie unseren Weekender-Newsletter!

Die wichtigsten Kulturdebatten und Empfehlungen der Woche, jeden Freitag direkt in Ihr E-Mail-Postfach.

Vielen Dank für Ihre Anmeldung!

Wir haben Ihnen eine E-Mail mit einem Bestätigungslink zugeschickt.

Falls Sie keine Bestätigungs-Mail für Ihre Registrierung in Ihrem Posteingang sehen, prüfen Sie bitte Ihren Spam-Ordner.

Willkommen zurück!

Sie sind bereits zu diesem Newsletter angemeldet.

Bitte überprüfen Sie Ihre E-Mail Adresse.
Bitte akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung.
Mehr zum Thema