Esterházy: Ottlik zeigte uns, wie man die Diktatur mit Würde aushalten kann
Der 1912 geborene ungarische Schriftsteller Geza Ottlik war für viele heute bekannte ungarische Autoren ein Vorbild. Unter ihnen ist auch der bekannte Schriftsteller Peter Esterházy. Für ihn zeigt Ottliks Buch "Die Schule an der Grenze", wie man überhaupt erzählen kann und wie man mit der eigenen Sprachskepsis umgeht. "Das ist ein sehr radikales, aber lesbares Buch", sagte Esterházy.
Joachim Scholl: Géza Ottlik ist 1912 geboren, er starb 1990 in Budapest und gilt als einer der bedeutendsten Autoren Ungarns. 1959 erschien sein Roman "Die Schule an der Grenze", die Geschichte mehrerer Zöglinge einer k.u.k. Kadettenanstalt in den 20er Jahren. Im sozialistischen Ungarn wurde das Buch auch als Parabel auf die politische Diktatur der Zeit gelesen. Seine Karriere als Schriftsteller musste unter diesen Umständen eher scheitern. Géza Ottlik wich aus und übersetzte englische Autoren wie George Bernard Shaw oder Evelyn Waugh, Thomas Mann und Stefan Zweig auch. Jetzt kann man Géza Ottlik auch in Deutschland entdecken. Gerade ist eine Übersetzung von der "Schule an der Grenze" erschienen mit einem Nachwort von keinem Geringerem als Péter Esterházy. Der Romancier zählt bei uns zu den bekanntesten und beliebtesten ungarischen Gegenwartsautoren, vielfach preisgekrönt, und wir freuen uns, dass er bei uns zu Gast ist. Willkommen im Deutschlandradio Kultur, Péter Esterházy!
Péter Esterházy: Guten Tag!
Scholl: In Ihrem Nachwort zu Gésa Ottliks Roman schreiben Sie: Ohne ihn hätte es uns alle in dieser Form nicht gegeben. Und damit meinen Sie Ihre Schriftstellergeneration. Was hat dieser Autor und seine "Schule an der Grenze" so bedeutsam für Sie gemacht?
Esterházy: Gerade wegen dieser Neuerscheinung habe ich so nachgedacht, dass nicht nur das Buch, sondern auch seine Person, oder weniger seine Person, sondern sein damaliges Verhalten sehr wichtig war. In einer Diktatur gibt es nur Schleichwege. Und er hat uns etwas gezeigt, wie man mit Würde das aushalten kann. Und dieses Wort Würde war sehr wichtig, weil wir haben gesehen alle diese Kompromisswege, was die ganze Gesellschaft mit uns zusammen geschlagen hat. Und wir hatten genug von den Kompromissen. Aber in einer Diktatur kann man nur mit Kompromissen leben. Wenn man keine Kompromisse macht, stirbt man. Und er, dieser Mann mit seinen englischen Sakkos ...
Scholl: Er trug immer Tweedjacketts.
Esterházy: Ja, ich habe auch immer darüber geschrieben, also es wurde schon wie eine Metaphore, dieser Tweedsakko. Wie trägt man einen Tweedsakko? Es ist nicht genug, einen Tweedsakko zu kaufen, muss man auch tragen. Also das Buch ist 59 erschienen. Damals in den 70ern war sozusagen sein Schweigen sehr wichtig. Alles, was er nicht geschrieben hat, war auf einmal beinahe wichtiger als alle anderen Bucherscheinungen.
Scholl: Sie bezeichnen diesen Roman als Intensivkurs für Ihr eigenes Leben, Péter Esterházy. Welche Art von Schule war diese Schule?
Esterházy: Ich habe das mehrmals gelesen, und das ist auch keine Aufgabe eines Buches, so direkt quasi Lebensanweisungen zu geben. Aber es tat das Buch. Zuerst las ich, als ich gerade bei dem Militär war. Und doch diese einfache Figuren, also wie Schulze, der gefährliche ...
Scholl: Das ist einer der Offiziere in der Schule.
Esterházy: ... oder Unteroffiziere, oder der andere, also wie bei Hunden sozusagen - der bellt, der ist nicht so gefährlich. Also man konnte das Buch wirklich … , wie halte ich das aus? Und dann wieder weiter war auch damals für uns diese Poetik auch sehr wichtig, was das erste Kapitel betrifft, also die Schwierigkeiten des Erzählens. Das passte zu unserer oder zu meiner Sprachskepsis, was ich gar nicht theoretisch bedenkt habe, einfach war eine Praxis. Sein Verhalten war dann doch konservativer. Und das war nicht eine grundlegende Sprachskepsis, sondern eher betraf das Erzählen selbst. Wie erzählen wir eine Geschichte? Und das war wiederum ein - jetzt später wurde das auch sehr wichtig, weil hat mit der Lesbarkeit des Buches zu tun -, das ist ein sehr radikales Buch, aber lesbares Buch. Das ist nicht immer der Fall.
Scholl: Péter Esterházy, der ungarische Romancier hier im Deutschlandradio Kultur, und er erweist einem großen Vorbild seine Referenz: Géza Ottlik, dessen Roman "Die Schule an der Grenze" jetzt erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt. Sie schreiben in Ihrem Nachwort, Herr Esterházy: "Ottliks Roman trägt mehrfach das Gewicht der osteuropäischen Geschichte." Wie leistet er das, was wäre dieses Gewicht?
Esterházy: Dass die Geschichte ist immer da, die Geschichte, diese große Geschichte beeinflusst unser Leben, also dass die osteuropäische Entscheidung, das ist immer mit einem großen Risiko zusammen, dass man leichter Fehler machen kann. Das kennt man. Jemand, der beim Militär war, der weiß, ein ganz kleiner Fehler, was sonst nichts bedeuten würde, hat wahnsinnige Folgen. Und das wissen wir, die wir nicht in einer Zögerei, nur in einer Diktatur gelebt haben. Dass wenn du etwas falsch machst, etwas schlecht einkalkulierst, auch was die Kompromisse betrifft, dann hat das schwerwiegende Folgen. Und das kann man nicht wie in einem freien Land leicht reparieren. Und wenn etwas schlimm ist, dann ist es schlimm. Und das ist dieses Gewicht des Lebens. Und immer wieder ist ein Trotzdem da. Es ist ein Gewicht, schwarz, schwer. Aber unten ist ein Lachen. Oder doch nicht? Und unter dem "doch nicht" dann wieder ein Lachen und dann wieder ernst. Also immer diese Vielschichtigkeit. Das ist ein sehr komplexes und ein sehr einfaches Buch.
Scholl: Sie haben Géza Ottlik noch selbst kennengelernt und haben ihm ein ganz besonderes Geschenk gemacht, und zwar haben Sie den Roman "Die Schule an der Grenze" komplett mit der Hand abgeschrieben, und zwar mit Filzstift auf ein einziges großformatiges Zeichenblatt. Seite über Seite, Zeile über Zeile, Tausende übereinander. Was für eine Absicht hatten Sie mit diesem Kunstwerk?
Esterházy: Ach, ganz einfach, es ist tatsächlich ein Kunstwerk. Ich wusste nicht, dass es ein Kunstwerk wird. Es wurde als Geschenk, als Geburtstagsgeschenk, als er 70 war, also 82, weil ich wusste, dass diese Schrift aufeinander schön ist. Weil ich einmal einer Frau ihren Namen tausend Mal abgeschrieben habe, die dann später meine Frau wurde und ist sogar noch.
Scholl: Das ist auch ein schöner Effekt.
Esterházy: Das ist schön, also diese Schrift aufeinander, weil es wird immer schwärzer, schwarzer und schwärzer. Wie sagt man, schwärzer?
Scholl: Schwärzer und schwärzer.
Esterházy: Schwärzer und schwärzer, aber hat so eine pulsierende, so diese Fragilitätstextur, also wusste, dass es schön ist. Und dann entstand dieses schwarze Bild, was ich dann ihm gegeben habe, und ich war nicht genug intelligent zu sehen, also gleich zu sehen, das ist dann ein sehr komplexes sozusagen Geschenk, weil es ist nicht nur ein Geschenk, sondern ist auch ein Vatermord sozusagen, weil ich habe seinen Roman unverständlich in schwarz gedruckt. Er hat das bemerkt, also diese Szene war nicht ohne Spannung.
Scholl: Ungarische Autoren erfreuen sich in Deutschland ja schon eine ganze Weile großer Beliebtheit. Péter Nádas, Sie, Péter Esterházy, sind sehr bekannte Namen. Dazu treten die Klassiker der Moderne wie Sándor Márai, Dezsö Kosztolanyi. In welche Tradition würden Sie Géza Ottlik einordnen?
Esterházy: Eindeutig Kosztolanyi. Also das ist eine Reihe. Kosztolanyi, Márai, er, würde ich auch dann später mich dazuzählen. Also das ist auch eine, wie man die Autoren sieht. Also auch wir zum Beispiel sehen Márai auch über die Schulter von Kosztolanyi. Und das ist auch nicht vorteilhaft manchmal für Márai. Und Ottliks Sprache ist diese von Kosztolanyi erneuerte, schöne, reine, feine Sprache. Er ist auch nicht sozusagen weitergegangen. Er hat das benützt, hat aber daran keine große Änderung gemacht. Wiederum später - ich will jetzt keine Literaturgeschichte machen -, aber Miklos (???) hat dann daran ein Stück wieder geändert. Und ich glaube, ich habe dann auch daran herumgewichtigtuert.
Scholl: Herumgedoktert ein wenig? Nein. Nun haben Sie vorhin schon erwähnt, wie Ottlik gewirkt hat, indem er schwieg in der Diktatur. 1990 ist er gestorben, ein Jahr auch nach dem Epochenumbruch in Ungarn. Also die immense Wirkung und Strahlkraft von Literatur in der Diktatur, die haben wir jetzt also auch von Ihnen schon vermittelt bekommen. Wie ist das eigentlich heute? Fallen Schriftsteller im modernen demokratischen Ungarn ins Gewicht?
Esterházy: Ja, natürlich ist dieser Stellenwert ein anderer geworden oder der Status der Literatur ein anderer geworden. In einer Diktatur ist Literatur immer wichtig, weil ist sozusagen der einzige Ort, wo man zwar nicht sprechen von der verlorenen Freiheit kann, aber sie andeuten. Wenn es keine Diktatur gibt, dann darüber schreibt man in Zeitungen oder im Parlament und so. Und diejenigen, die die Literatur nur deswegen aus diesem politischen Grund gelesen haben, die sind jetzt weg, die sind jetzt Zeitungsleser und so weiter. Ottliks Buch ist deswegen ein großes Buch, weil nicht nur oder an erster Stelle gar nicht aus diesem politischen Widerstand entstanden, sondern er wollte über das Dasein etwas sagen. Also mit den ganz großen Fragen beschäftigt er sich, wenn er beschreibt, wie sein Radiergummi gestohlen wird. Das hat mit der Schöpfung, mit Gott, mit dem Sinn des Lebens zu tun.
Scholl: Péter Esterházy, herzlichen Dank für Ihren Besuch. Géza Ottliks Roman "Die Schule an der Grenze", diesen ungarischen, literarischen Klassiker gilt es, jetzt zu entdecken. Das Buch ist in der Anderen Bibliothek im Eichborn-Verlag erschienen, übersetzt von Charlotte Ujlaky, 528 Seiten zum Preis von 32 Euro und mit einem Nachwort von Péter Esterházy. Ihnen alles Gute!
Esterházy: Danke schön!
Péter Esterházy: Guten Tag!
Scholl: In Ihrem Nachwort zu Gésa Ottliks Roman schreiben Sie: Ohne ihn hätte es uns alle in dieser Form nicht gegeben. Und damit meinen Sie Ihre Schriftstellergeneration. Was hat dieser Autor und seine "Schule an der Grenze" so bedeutsam für Sie gemacht?
Esterházy: Gerade wegen dieser Neuerscheinung habe ich so nachgedacht, dass nicht nur das Buch, sondern auch seine Person, oder weniger seine Person, sondern sein damaliges Verhalten sehr wichtig war. In einer Diktatur gibt es nur Schleichwege. Und er hat uns etwas gezeigt, wie man mit Würde das aushalten kann. Und dieses Wort Würde war sehr wichtig, weil wir haben gesehen alle diese Kompromisswege, was die ganze Gesellschaft mit uns zusammen geschlagen hat. Und wir hatten genug von den Kompromissen. Aber in einer Diktatur kann man nur mit Kompromissen leben. Wenn man keine Kompromisse macht, stirbt man. Und er, dieser Mann mit seinen englischen Sakkos ...
Scholl: Er trug immer Tweedjacketts.
Esterházy: Ja, ich habe auch immer darüber geschrieben, also es wurde schon wie eine Metaphore, dieser Tweedsakko. Wie trägt man einen Tweedsakko? Es ist nicht genug, einen Tweedsakko zu kaufen, muss man auch tragen. Also das Buch ist 59 erschienen. Damals in den 70ern war sozusagen sein Schweigen sehr wichtig. Alles, was er nicht geschrieben hat, war auf einmal beinahe wichtiger als alle anderen Bucherscheinungen.
Scholl: Sie bezeichnen diesen Roman als Intensivkurs für Ihr eigenes Leben, Péter Esterházy. Welche Art von Schule war diese Schule?
Esterházy: Ich habe das mehrmals gelesen, und das ist auch keine Aufgabe eines Buches, so direkt quasi Lebensanweisungen zu geben. Aber es tat das Buch. Zuerst las ich, als ich gerade bei dem Militär war. Und doch diese einfache Figuren, also wie Schulze, der gefährliche ...
Scholl: Das ist einer der Offiziere in der Schule.
Esterházy: ... oder Unteroffiziere, oder der andere, also wie bei Hunden sozusagen - der bellt, der ist nicht so gefährlich. Also man konnte das Buch wirklich … , wie halte ich das aus? Und dann wieder weiter war auch damals für uns diese Poetik auch sehr wichtig, was das erste Kapitel betrifft, also die Schwierigkeiten des Erzählens. Das passte zu unserer oder zu meiner Sprachskepsis, was ich gar nicht theoretisch bedenkt habe, einfach war eine Praxis. Sein Verhalten war dann doch konservativer. Und das war nicht eine grundlegende Sprachskepsis, sondern eher betraf das Erzählen selbst. Wie erzählen wir eine Geschichte? Und das war wiederum ein - jetzt später wurde das auch sehr wichtig, weil hat mit der Lesbarkeit des Buches zu tun -, das ist ein sehr radikales Buch, aber lesbares Buch. Das ist nicht immer der Fall.
Scholl: Péter Esterházy, der ungarische Romancier hier im Deutschlandradio Kultur, und er erweist einem großen Vorbild seine Referenz: Géza Ottlik, dessen Roman "Die Schule an der Grenze" jetzt erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt. Sie schreiben in Ihrem Nachwort, Herr Esterházy: "Ottliks Roman trägt mehrfach das Gewicht der osteuropäischen Geschichte." Wie leistet er das, was wäre dieses Gewicht?
Esterházy: Dass die Geschichte ist immer da, die Geschichte, diese große Geschichte beeinflusst unser Leben, also dass die osteuropäische Entscheidung, das ist immer mit einem großen Risiko zusammen, dass man leichter Fehler machen kann. Das kennt man. Jemand, der beim Militär war, der weiß, ein ganz kleiner Fehler, was sonst nichts bedeuten würde, hat wahnsinnige Folgen. Und das wissen wir, die wir nicht in einer Zögerei, nur in einer Diktatur gelebt haben. Dass wenn du etwas falsch machst, etwas schlecht einkalkulierst, auch was die Kompromisse betrifft, dann hat das schwerwiegende Folgen. Und das kann man nicht wie in einem freien Land leicht reparieren. Und wenn etwas schlimm ist, dann ist es schlimm. Und das ist dieses Gewicht des Lebens. Und immer wieder ist ein Trotzdem da. Es ist ein Gewicht, schwarz, schwer. Aber unten ist ein Lachen. Oder doch nicht? Und unter dem "doch nicht" dann wieder ein Lachen und dann wieder ernst. Also immer diese Vielschichtigkeit. Das ist ein sehr komplexes und ein sehr einfaches Buch.
Scholl: Sie haben Géza Ottlik noch selbst kennengelernt und haben ihm ein ganz besonderes Geschenk gemacht, und zwar haben Sie den Roman "Die Schule an der Grenze" komplett mit der Hand abgeschrieben, und zwar mit Filzstift auf ein einziges großformatiges Zeichenblatt. Seite über Seite, Zeile über Zeile, Tausende übereinander. Was für eine Absicht hatten Sie mit diesem Kunstwerk?
Esterházy: Ach, ganz einfach, es ist tatsächlich ein Kunstwerk. Ich wusste nicht, dass es ein Kunstwerk wird. Es wurde als Geschenk, als Geburtstagsgeschenk, als er 70 war, also 82, weil ich wusste, dass diese Schrift aufeinander schön ist. Weil ich einmal einer Frau ihren Namen tausend Mal abgeschrieben habe, die dann später meine Frau wurde und ist sogar noch.
Scholl: Das ist auch ein schöner Effekt.
Esterházy: Das ist schön, also diese Schrift aufeinander, weil es wird immer schwärzer, schwarzer und schwärzer. Wie sagt man, schwärzer?
Scholl: Schwärzer und schwärzer.
Esterházy: Schwärzer und schwärzer, aber hat so eine pulsierende, so diese Fragilitätstextur, also wusste, dass es schön ist. Und dann entstand dieses schwarze Bild, was ich dann ihm gegeben habe, und ich war nicht genug intelligent zu sehen, also gleich zu sehen, das ist dann ein sehr komplexes sozusagen Geschenk, weil es ist nicht nur ein Geschenk, sondern ist auch ein Vatermord sozusagen, weil ich habe seinen Roman unverständlich in schwarz gedruckt. Er hat das bemerkt, also diese Szene war nicht ohne Spannung.
Scholl: Ungarische Autoren erfreuen sich in Deutschland ja schon eine ganze Weile großer Beliebtheit. Péter Nádas, Sie, Péter Esterházy, sind sehr bekannte Namen. Dazu treten die Klassiker der Moderne wie Sándor Márai, Dezsö Kosztolanyi. In welche Tradition würden Sie Géza Ottlik einordnen?
Esterházy: Eindeutig Kosztolanyi. Also das ist eine Reihe. Kosztolanyi, Márai, er, würde ich auch dann später mich dazuzählen. Also das ist auch eine, wie man die Autoren sieht. Also auch wir zum Beispiel sehen Márai auch über die Schulter von Kosztolanyi. Und das ist auch nicht vorteilhaft manchmal für Márai. Und Ottliks Sprache ist diese von Kosztolanyi erneuerte, schöne, reine, feine Sprache. Er ist auch nicht sozusagen weitergegangen. Er hat das benützt, hat aber daran keine große Änderung gemacht. Wiederum später - ich will jetzt keine Literaturgeschichte machen -, aber Miklos (???) hat dann daran ein Stück wieder geändert. Und ich glaube, ich habe dann auch daran herumgewichtigtuert.
Scholl: Herumgedoktert ein wenig? Nein. Nun haben Sie vorhin schon erwähnt, wie Ottlik gewirkt hat, indem er schwieg in der Diktatur. 1990 ist er gestorben, ein Jahr auch nach dem Epochenumbruch in Ungarn. Also die immense Wirkung und Strahlkraft von Literatur in der Diktatur, die haben wir jetzt also auch von Ihnen schon vermittelt bekommen. Wie ist das eigentlich heute? Fallen Schriftsteller im modernen demokratischen Ungarn ins Gewicht?
Esterházy: Ja, natürlich ist dieser Stellenwert ein anderer geworden oder der Status der Literatur ein anderer geworden. In einer Diktatur ist Literatur immer wichtig, weil ist sozusagen der einzige Ort, wo man zwar nicht sprechen von der verlorenen Freiheit kann, aber sie andeuten. Wenn es keine Diktatur gibt, dann darüber schreibt man in Zeitungen oder im Parlament und so. Und diejenigen, die die Literatur nur deswegen aus diesem politischen Grund gelesen haben, die sind jetzt weg, die sind jetzt Zeitungsleser und so weiter. Ottliks Buch ist deswegen ein großes Buch, weil nicht nur oder an erster Stelle gar nicht aus diesem politischen Widerstand entstanden, sondern er wollte über das Dasein etwas sagen. Also mit den ganz großen Fragen beschäftigt er sich, wenn er beschreibt, wie sein Radiergummi gestohlen wird. Das hat mit der Schöpfung, mit Gott, mit dem Sinn des Lebens zu tun.
Scholl: Péter Esterházy, herzlichen Dank für Ihren Besuch. Géza Ottliks Roman "Die Schule an der Grenze", diesen ungarischen, literarischen Klassiker gilt es, jetzt zu entdecken. Das Buch ist in der Anderen Bibliothek im Eichborn-Verlag erschienen, übersetzt von Charlotte Ujlaky, 528 Seiten zum Preis von 32 Euro und mit einem Nachwort von Péter Esterházy. Ihnen alles Gute!
Esterházy: Danke schön!