Esther Kinsky: Am kalten Hang. viagg' invernal
Matthes & Seitz, Berlin 2016
64 Seiten, 18,00 Euro
Ein hymnisches Landschaftsgedicht
Die Natur und ihre Jahreszeiten beschwört Esther Kinsky in ihrem Gedichtzyklus "Am kalten Hang". Mit feiner Sprache entwirft die Lyrikerin darin eine Reise durch die Landschaft - vom Elbufer über die Alpen bis nach Venedig.
Man kann gute von schlechten Gedichten sehr leicht unterscheiden: In den guten kommen Vögel vor. Esther Kinskys zweiteiliger Gedichtzyklus "Am kalten Hang" versammelt unter anderem Trauerschnäpper, Goldammer, Stieglitz, Bluthänfling, Zeisig, Kraniche und nicht näher bestimmte Vögel im Flug, deren weiße Bäuche im Licht glänzen. Das sind sehr viele Vögel, wenn auch oft nur als "Irrgäste", als die Schrift der Spuren im Schnee oder als erfrorene Körper im winterlichen Wald, die von Kindern mit Stöcken heruntergeschlagen werden und auf vereistem Boden zerschellen.
Esther Kinsky ist als Übersetzerin bekannt geworden, ehe sie seit etwa zehn Jahren auch als Romanautorin und Lyrikerin mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. Ihr feines sprachliches Gehör hat sich unter anderem an den Büchern von Olga Tokarczuk bewährt. Zuletzt hat sie Thoreaus nachgelassenes "Lob der Wildnis" ins Deutsche gebracht und die Naturfaszination des amerikanischen Philosophen als Gang durch die Jahreszeiten inszeniert.
Daran knüpft sie jetzt an. Vom Sommerende bis in den Winter reicht der jahreszeitliche Bogen ihrer neuen Gedichte, die immer wieder Wilhelm Müllers (von Schubert vertonte) "Winterreise" anklingen lassen. Da bellen die Hunde, da tanzt ein Irrlicht, auch die drei Sonnen aus dem rätselhaftesten Müller-Gedicht kehren bei Kinsky wieder, und wo das Wort nicht mehr hinreicht, weil es nach Ewigkeit sucht, verweist die Dichterin auf das zu singende Lied. Auch Hölderlin klingt an: Nicht nur das Wort "Heimkunft" ist von ihm entlehnt, sondern auch die "verworfene lieblichkeit von flußundgebirg", von der es heißt: "wer achtet ihrer". Man kann gute von schlechten Gedichten auch dadurch unterscheiden, dass in den guten die Sprache aus sich heraus zu tönen beginnt.
Kinsky zieht eine zweite sprachliche Ebene ein
Als zweites Text-Element unterlegt Kinsky ihren Naturbilder beschwörenden Zyklus mit einem einzigen, fortlaufenden Boden-Satz am unteren Rand der Seiten, so wie eine lange Fußnote, gewissermaßen als Kontrapunkt zu den Gedichttönen. Die einzelnen Segmente dieser lyrischen Prosa sind durch Doppelpunkte verknüpft oder getrennt und ergeben ein hymnisches Landschaftsgedicht, eine italienische Reise, die vom Elbufer und vom bayerischen Inn über die Alpen bis ins Friaul und nach Venedig führt.
Dabei entstehen reizvolle Querbezüge zwischen dem Untergrund und den darüber gestellten Gedichten. So taucht das Ufer der Elbe unten auf, um oben verwandelt wiederzukehren als Ufer mit gelben Blüten. Wenn oben noch September ist, hat sich der Sommer unten schon verabschiedet. Zum Winter gehört jedoch auch die Flucht in den Süden. Ein drittes Element neben den beiden Textebenen sind die den Band illustrierenden schwarz-weißen Vignetten von Christian Thanhäuser, die vexierbildhaft Gezweig, Figürchen oder auch bloß abstrakte Muster zeigen.
Mit dem Winter wächst die Stille. Ist die Sprache anfangs noch auf der Suche danach, "welches wort sich wohl fand für die / abwesenheit jeglichen lauts / auf unwirtbarem weg", kündigt sich mit dem Zufrieren der Gebirgsbäche auch das Verstummen an: "so geh mein wort zur ruh". Und mit dem Raureif auf den Olivenbäumen verstummen zum Schluss auch die Vögel. Die Spuren in der Landschaft, auf den Wegen und im Schnee sind flüchtig. Doch wer zu lesen versteht, kann sie in diesen Gedichten entdecken.